Geschichte der deutschen Literatur. Band 3. Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur. Band 3 - Gottfried Willems


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und Romantik nicht mehr fraglos als klassisches Vorbild begriff, die alle epigonale Orientierung an der Vergangenheit hinter sich lassen und etwas ganz anderes, etwas durchaus Neues versuchen wollte; die sich vielfach auch weniger als Teil einer Nationalkultur verstand denn vielmehr als Teil einer internationalen Moderne. Für die Germanistik wurde der Siegeszug der literarischen Moderne zunächst vor allem zu einem Anlaß, auf die bleibende Bedeutung des klassisch-roman­tischen Erbes hinzuweisen und es als einen unverlierbaren Schatz, als einen ewigen Hort des Wahren-Guten-Schönen der fortschreitenden Modernisierung entgegenzuhalten, als unverlierbaren Halt im Wirbel der „totalen Mobilmachung“ der Moderne.

      Solange die Germanistik ihre Aufgabe so sah, hatte sie natürlich keinen Grund, mit dem Begriff der „­Goethezeit“, den Epochengrenzen 1770 und 1830 und dem Bild vom Entwicklungsgang der deutschen Literatur unzufrieden zu sein, das die nationale Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts gezeichnet hatte. Daß daran manches zu kritisieren sein könnte, ging ihr erst auf, als sie die Literatur des 20. Jahrhunderts, die moderne Literatur im engeren Sinne, ernst zu nehmen begann, und das heißt: als sie damit begann, diese als eine Literatur zu nehmen, die eigenen Gesetzen gehorchte und sich nicht mehr am Maß der Klassik messen ließ. Was sie seither an kritischen Überlegungen angestellt hat, kam freilich nicht nur dem Verständnis der Moderne des 20. Jahrhunderts zugute, sondern auch dem von Klassik und Romantik, ja dem aller Epochen, der

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      älteren nicht weniger als der jüngeren. In eben dem Maße, in dem man sich von den Insinuationen der nationalen Literaturgeschichtsschreibung löste, wurde ein freierer Blick auf die gesamte deutsche Literatur möglich.

      Wie sieht nun das überkommene Epochenschema im einzelnen aus, und was ist an ihm aus heutiger Sicht zu kritisieren?

      Von der Aufklärung zum Sturm und Drang

      In seinen Grundzügen ist das Epochenschema, das die nationali­sti­sche Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhundert entwickelt hat, wohl auch heute noch jedem geläufig, der sich für die deutsche Literatur und ihre Geschichte interessiert. Die Jahre um 1770 werden da als eine Zeit der Rebellion, des kulturrevolutionären Aufstands gegen die Aufklärung und den französischen Geschmack gehandelt, als Phase des Übergangs von der Aufklärung zum Sturm und Drang, vom französischen Geschmack der Aufklärer zu dem von Johann Gottfried Herder propagierten Konzept einer spezifisch „deutschen Art und Kunst“. Als Vorläufer und Wegbereiter dieses Übergangs gilt der Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing mit seiner angeblichen Kritik am französischen Theater und seiner Umorientierung des deutschen Theaters auf das Vorbild William Shakespeares, der hier als ein Autor nordisch-germanischer Abkunft kurzerhand der „deutschen Art und Kunst“ zugeschlagen wird. In Lessing will man den großen Propheten, den Moses einer deutschen Nationalliteratur aus der Zeit vor dem Sturm und Drang erblicken.

      Vom Sturm und Drang zur Klassik

      Der Sturm und Drang soll 1775 mit ­Goethes Schritt von Frankfurt nach Weimar, mit seiner Entscheidung für den Weimarer Hof, in die Weimarer Frühklassik übergegangen sein. Der erste rebellische Impuls ist vorüber, die Ansätze zu „deutscher Art und Kunst“ werden nun dadurch weiterentwickelt, daß sich die neue deutsche Literatur erneut an der Formkultur der Antike schult. ­Goethes italienische Reise von 1786/88 und der Ausbruch der Französischen Revolution 1788/89 sollen dann zur Weimarer Hochklassik übergeleitet haben, mit dem Höhepunkt des „klassischen Jahrzehnts“ der Jahre 1794 bis 1805, der Zeit der Zusammenarbeit ­Goethes mit Friedrich Schiller.

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      Dieses „klassische Jahrzehnt“ soll vor allem durch zwei Momente gekennzeichnet sein: durch ein vertieftes Verständnis der Kunst der Antike, wie es ­Goethe aus Italien mitgebracht habe, und durch die Kritik an der Französischen Revolution. Den chaotischen Formen der Modernisierung im revolutionären Frankreich sollen ­Goethe und Schiller das Programm einer ästhetischen Erziehung entgegengestellt haben, das statt auf Revolution auf Reform, auf eine „organische Entwicklung“ der Gesellschaft gesetzt und sich seine Ordnungsvorstellungen und seine Formbegriffe bei der Kunst der Antike besorgt habe.

      Romantik und Klassik

      In diesem „klassischen Jahrzehnt“ sieht man freilich zugleich auch die Romantik entstehen, mit der Jenaer Frühromantik, mit den Brüdern August Wilhelm und Friedrich Schlegel, mit Novalis und Ludwig Tieck. Nach der Verpflanzung der Romantik von Jena nach Heidelberg und Berlin soll sie um 1805 in die Hochromantik übergegangen sein, wo Autoren wie Achim von Arnim und Clemens von Brentano, Joseph von Eichendorff und E. T. A. Hoffmann den Ton angaben und nun auch einige große politische Publizisten wie Joseph Görres und Ernst Moritz Arndt als Vorkämpfer des neuen deutschen Nationalismus das Gesicht der romantischen Bewegung mit prägten. Um 1815, als sich die Romantik dank des Wirkens von Autoren wie Ludwig Uhland schließlich auch nach Süddeutschland und immer weiter durch Deutschland auszubreiten begann, soll die Hochromantik schließlich von der Spätromantik abgelöst worden sein.

      Als wichtigstes Movens der literarischen Entwicklung seit 1805 gilt der Gegensatz zwischen dem klassischen Kunstprogramm ­Goethes und den Bestrebungen der Romantiker. ­Goethe und sein Anhang, so wird hier ausgeführt, orientieren sich an der heidnisch-sinnenfrohen Antike, die Romantiker hingegen an dem christlich-frommen, vergeistigten Mittelalter. ­Goethe kultiviert von seinem Glauben an die Natur aus eine Kunst der „Begrenzung“ und der festen Formen, die Romantiker betreiben im Namen der künstlerischen Freiheit eine Kunst der „Entgrenzung“ ins Phantastisch-Übernatürliche, Übersinnlich-Wunderbare.

      Übergang zu Vormärz und Realismus

      Bei ­Goethes Tod 1832 soll sich allerdings auch dieser Konflikt schon überlebt haben; nun soll die Generation Heinrich Heines, sollen die „Jungdeutschen“ die Szene beherrschen, wie sie eine von heftigen politischen Impulsen und konkreten politischen Anliegen geprägte Literatur gepflegt hätten – die Epoche des „Vormärz“, die nach der

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      enttäuschenden Revolution von 1848 schließlich der literarischen Bewegung des „bürgerlichen“ oder „poetischen Realismus“ hätte weichen müssen.

      Wirkung

      So etwa sieht das Bild, das die Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts im Namen des nationalen Gedankens vom Entwicklungsgang der deutschen Literatur gezeichnet hat, in seinen Grundzügen aus. Trotz aller Kritik, die seither an ihm geübt worden ist, und obwohl inzwischen mehr als deutlich geworden ist, was alles schief und problematisch an ihm ist, wirkt es bis heute. Seine Spuren lassen sich bis in die Germanistik der letzten Jahrzehnte hinein verfolgen. Wo liegen nun die Schwächen und Schiefheiten dieses Epochenschemas? Was ist an ihm problematisch, und was insbesondere an seinem Kernstück, der Klassik-Doktrin? Um dem im einzelnen nachgehen zu können, sei zunächst ein Versuch unternommen, das Epochenschema vor den Hintergrund der allgemeinen geschichtlich-gesellschaftlichen Entwicklungen zu projizieren.

      bedingungen der literarischen Entwicklung

      Das „Ancien régime“

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      Leben zukommt. Die führende Rolle hat nach wie vor der Adel


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