Geschichte der deutschen Literatur. Band 3. Gottfried Willems
In der Hochromantik entsteht die Vorstellung, daß Goethe ein Werk wie den „Faust“ nur geschrieben habe und nur habe schreiben können, weil er Deutscher war und weil der deutsche Mensch nun einmal von „faustischer“ Natur sei, irgendwie immer schon ein „faustisches“ Streben im Leib habe, so daß sich dieses „Faustische“ wie von selbst in seinem Werk habe manifestieren und wiederfinden müssen.
Weltliteratur vs. Nationalliteratur
Goethe selbst war keineswegs davon angetan, auf solche Weise für den neuen deutschen Nationalismus in Anspruch genommen zu werden. Er war und blieb ein Aufklärer, und das heißt, daß er sich zunächst und vor allem als Kosmopolit, als literarischer Weltbürger verstand.10 Erst einige Autoren der nächsten Generation, erst Männer wie Novalis, Hölderlin und Kleist waren für den neuen Nationalismus anfällig; Goethe war und blieb gegen ihn immun. Als man um 1795 herum anfing, den berühmten Goethe als die zentrale Figur der deutschen Literatur seiner Zeit einen „klassischen deutschen Nationalautor“ zu nennen, hat er dies umgehend zurückgewiesen, und je mehr sich der Geist des Nationalismus in Gesellschaft und Literatur
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breit machte, desto entschiedener hat er sich gegen jede Vereinnahmung verwahrt.11
So begann Goethe gerade damals, den Begriff der „Weltliteratur“, das Konzept eines literarischen Kosmopolitismus zu propagieren (HA 12, 361–364). Ohnehin hat er sich nie nur mit der deutschen Literatur allein, sondern immer auch mit der des Auslands beschäftigt. Unausgesetzt hat er sich darum bemüht, den Deutschen französische, englische, italienische, ja sogar persisch-arabische, indische und chinesische Literatur nahezubringen, und in seinen eigenen Werken hat er immer wieder den produktiven Dialog mit diesen fremden Literaturen gesucht. „National-Literatur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit“,12 so Goethe selbst – für den neuen Nationalismus eine unerträgliche Provokation. Für Goethe war die Literatur nicht so sehr der Ort, an dem ein nationales Selbstbewußtsein entsteht, an dem ein deutscher „Volksgeist“, eine deutsche „Volksseele“, ein deutsches Wesen ausdruckshaft zum Vorschein kommen, um in ihren Produktionen ihrer selbst innezuwerden und ein klares Bewußtsein von sich selbst zu gewinnen, als vielmehr ein Ort, an dem Menschen der unterschiedlichsten Herkunft und Lebensweise einander auf der Basis der „allgemeinen Menschennatur“ begegnen können.13
Nationalismus und Germanistik
Aber was Goethe auch immer in diesem Sinne unternahm – der Gedanke der Nationalliteratur war nicht mehr aufzuhalten, er setzte sich durch, und Goethe wurde als Zentralfigur der deutschen Literatur für ihn vereinnahmt, wurde zum „klassischen deutschen Nationalautor“ ausgerufen, und sein Werk zum Höhepunkt und Inbegriff einer deutschen Nationalliteratur. Man kann diese Vereinnahmung auch eine Fälschung nennen. Zur wichtigsten Werkstatt solcher Falschmünzerei wurde aber bald schon die neue Wissenschaft der Germanistik. Mit
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einer Lüge hat sie das Licht der Welt erblickt, der schiefe Blick war ihr Geburtsfehler, und manchmal möchte man meinen, daß er bis heute ihr Markenzeichen geblieben sei, wenn sie sich seither natürlich auch in manch anderen Formen des Schielens geübt hat.
Schon jetzt dürfte deutlich sein, wie wichtig es ist, sich bereits bei der ersten Annäherung an die Literatur der Goethezeit Rechenschaft vom Klassik-Mythos zu geben. Solche Rechenschaft ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, etwas von dem in den Blick zu bekommen, was diese Literatur ursprünglich war und sein wollte. Dabei handelt es sich offensichtlich nicht nur um das Abtragen eines historischen Firnis, sondern um sehr viel mehr, nämlich um die Neutralisierung dessen, was die Fälscherwerkstatt des Nationalismus aus dieser Literatur gemacht hat. Die eifrigsten Arbeiter in dieser Fälscherwerkstatt waren aber nun einmal die Germanisten; sie mußten es sein, denn die raison d’être ihrer Disziplin war zunächst eben nichts anderes, als die Literatur der Goethezeit als Blütezeit der deutschen Nationalliteratur zu erweisen, sie als Raum der Epiphanie des deutschen Wesens darzustellen und in Erinnerung zu halten.
Die Ausarbeitung des Klassik-Mythos zur Klassik-Doktrin
Wie bereits angedeutet, entstand die Neugermanistik in zwei Schritten. Der erste Schritt war das Konzipieren von Geschichten der deutschen Nationalliteratur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Schaffung einer Geschichtsschreibung, die die Geschichte der deutschen Literatur als Geschichte einer Nationalliteratur zur Darstellung brachte.14 Bei Gervinus ist gut zu sehen, wie dieses neue Konzept umgesetzt wurde. Die ganze deutsche Literatur soll auf die Weimarer Klassik, auf das Werk Goethes und Schillers hinauslaufen. Die Literatur des Mittelalters, Luther, Opitz, Lessing – das alles sollen nur Stufen auf dem Weg hinauf zum Gipfel der Klassik gewesen sein, und seit dem Tod Goethes, ja schon mit dem altersbedingten Erlahmen seiner schöpferischen Kraft soll es mit der deutschen Literatur wieder bergab gegangen sein.15
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Lessing, der Sturm und Drang, die Klassik und die Romantik werden dabei als Stationen eines Prozesses verstanden, in dem der Einfluß des Auslands, insbesondere der der französischen Kultur, nach und nach immer weiter zurückgedrängt worden wäre, so daß der deutsche „Volksgeist“ immer entschiedener und bewußter zu sich selbst hätte finden können – bis dahin, daß er in Goethe und seinen Mitstreitern schließlich ganz bei sich selbst angekommen wäre und Werke hätte entstehen lassen, die als sein vollkommener Ausdruck gelten könnten. Dementsprechend erscheinen diese Werke hier als ideale Medien einer Kultur der deutschen Identität, als Werke, deren Lektüre die Deutschen ihrer nationalen Identität innewerden ließe und aus ihnen eine selbstbewußte, ihrer selbst gewisse, in sich gefestigte Nation machen würde.
Goethe selbst hat sich, wie angedeutet, in diesem Modell nicht wiedererkennen mögen und statt dessen eine Weltliteratur propagiert. Damit zog er in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts trotz seiner Verklärung zum Klassiker immer wieder Kritik auf sich, bei Romantikern wie den Brüdern Schlegel und Ludwig Tieck oder dann auch bei einigen Jungdeutschen der Vormärz-Zeit wie Wolfgang Menzel. Goethe war insofern in der ersten Hälfte des Jahrhunderts ein durchaus umstrittener Autor. Aber in der zweiten Jahrhunderthälfte hat sich diese Kritik dank der Arbeit der Neugermanisten dann wieder gelegt; die Vereinnahmung Goethes für das Konzept einer deutschen Nationalliteratur war abgeschlossen.16
Die Neugermanistik an Universität und Schule
Eine Voraussetzung für diese durchschlagende Wirkung war, daß sich die Neugermanistik damals an den Universitäten als ein eigenes Fach, als besondere akademische Disziplin hatte etablieren können, daß nun überall Lehrstühle für neuere deutsche Literatur eingerichtet worden waren – der zweite große Schritt in der Entwicklung der Neugermanistik. Zugleich wurde die neuere deutsche Literatur zu einem Gegenstand des Schulunterrichts; denn das war sie zuvor nur in engen
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Grenzen gewesen. Damals entstand z. B. Reclams Universalbibliothek, entstand das Institut des Reclamhefts, wie es die wachsende Nachfrage nach wohlfeilen Ausgaben literarischer Texte in Universität und Schule erkennen läßt; das Reclamheft Nr. 1 brachte 1867 bezeichnenderweise eine Ausgabe von Goethes „Faust“, der „Bibel der Deutschen“.
Die Neugermanistik zwischen klassischem Erbe und Moderne
Die Neugermanistik blieb dem Konzept der Nationalliteratur und der Ausrichtung auf die Blütezeit von Klassik und Romantik bis weit ins 20. Jahrhundert hinein treu, bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, im Osten Deutschlands nicht weniger als im Westen. Und dies, obwohl seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, seit dem Naturalismus von