Geschichte der deutschen Literatur. Band 3. Gottfried Willems
Mühen, um dem allem einen tiefen weltgeschichtlichen Sinn zu unterlegen. Zugleich widmete man sich der Besinnung auf die wahre „Deutschheit“, auf die deutsche Eigenart und die große deutsche Vergangenheit. Ein nationales Wir-Gefühl machte sich breit, wie man es bis dahin in Deutschland noch nicht gekannt hatte. Die Zerschlagung des deutschen Reichs führte dazu, daß man sich auf des alten Reiches Herrlichkeit besann, auf das Mittelalter mit seinen römisch-deutschen Kaisern und seiner Ritterherrlichkeit, seiner tiefen Frömmigkeit, seinen Kreuzzügen und
[<< 41]
vielem anderem mehr, in dem man die reine „Deutschheit“ am Werk sehen wollte. Die romantische Bewegung richtete ihren Blick nun immer fester auf die Vergangenheit, wurde immer nationaler, frömmer und konservativer.
„Befreiungskriege“ und Restauration
Dieser Geist der Nationalromantik entlud sich dann in den sogenannten „Befreiungskriegen“ von 1813/15. Napoleon wurde nach dem gescheiterten Versuch zur Eroberung Rußlands und dem Verlust der „Völkerschlacht“ bei Leipzig aus Deutschland herausgeworfen, bis nach Paris verfolgt und abgesetzt. Auf dem Wiener Kongreß (1814/15) wurde dann die europäische Staatenwelt neu geordnet. In Deutschland machte sich das „System Metternich“ breit, benannt nach dem leitenden Minister Österreichs Clemens von Metternich (1773–1858) und basierend auf der „Restauration von Thron und Altar“, der Erneuerung der alten Monarchien und Kirchen.25
Aber diese gegen die Revolution gerichtete Restauration der alten Mächte hatte denn doch einige Schönheitsfehler. Das Deutsche Reich wurde nicht wirklich wiederhergestellt, es gab keinen deutschen Kaiser mehr, nur noch einen Bund deutscher Fürsten, den „Deutschen Bund“. Die Herren der größeren deutschen Fürstenstaaten wie Bayern und Württemberg rückten die kleineren Fürstentümer und das Kirchengut nicht wieder heraus, die sie ihren Ländereien als Satrapen Napoleons hatten einverleiben können. Und die Ideen der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Volkssouveränität, Verfassungsstaat mit gewähltem Parlament, Gleichheit vor dem Gesetz – ließen sich in den Köpfen der Menschen nicht einfach wieder ausknipsen; es blieb eine Grundunruhe in der Gesellschaft, ganz besonders aber unter den Intellektuellen und Literaten.
Viele Fürstenstaaten gaben sich nun immerhin eine Verfassung und wurden zu konstitutionellen Monarchien, als erster in Deutschland das Herzogtum Sachsen-Weimar, übrigens auf Betreiben des Herzogs Carl August selbst und gegen den Willen seines Rats Goethe. Erst später
[<< 42]
hat Goethe dafür ein Verständnis entwickelt und die Entscheidung gut geheißen, nachzulesen etwa in den „Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan“ (1819). Und das „System Metternich“ überdauerte am Ende weniger durch die heilige Allianz von „Thron und Altar“ als vielmehr durch die Zensur und das Spitzelwesen, mit dem es die aufmüpfigen Intellektuellen in Schach hielt, durch die sogenannte „Demagogenverfolgung“.
Restauration und Romantik
Die Romantik hat spätestens 1815 eben jene Unschuld verloren, an deren Wiederherstellung ihr so viel gelegen war. Denn ihre Begeisterung für die Ritterwelt und die schlichte Frömmigkeit des Mittelalters konnte nun kaum mehr anders verstanden werden denn als das schöngeistige Unterfutter der „Restauration von Thron und Altar“, als ideologische Stütze des „Systems Metternich“; in den Jahren vor 1815 hatte sie immerhin noch als Protest, als Widerstand gegen das Regime Napoleons durchgehen können. In einem Punkt allerdings blieb die Romantik auch weiterhin auf Konfrontationskurs mit den Machthabern. Als „Nationalromantik“ stand sie für die Idee der deutschen Einheit ein, kämpfte sie für einen deutschen Nationalstaat, und das konnte weder Metternich angenehm sein, der in Wien dem Vielvölkerstaat Österreich mit allerlei Territorien in Tschechien, Ungarn, Oberitalien und auf dem Balkan vorstand, noch den deutschen Fürsten, denn es stellte ihre Souveränität in Frage.
Biedermeier und Vormärz
In dieser Situation wurden die Autoren des „Vormärz“,26 die „Jungdeutschen“ 27 groß, die sich einerseits der Welt der romantischen Poesie verbunden fühlten und andererseits durch die Ideen der Französischen Revolution und die antifranzösische Agitation der „Befreiungskriege“ politisiert waren. Heinrich Heine (1797–1856) hat seit 1822 Gedichte veröffentlicht, mit großem Erfolg; seine Anfänge als Autor fallen wie die der meisten Jungdeutschen also noch in die Goethezeit. Neben den Jungdeutschen machte sich in der Literatur dann auch das sogenannte Biedermeier breit, halb der Klassik und halb der Romantik
[<< 43]
verbunden, dabei aber mehr oder weniger unpolitisch, jedenfalls auf den ersten Blick.28
Die erste große Erschütterung des „Systems Metternich“ ging wiederum von Frankreich aus, mit der Juli-Revolution von 1830, die hier die „Restauration von Thron und Altar“ beendete. Der „Bürgerkönig“ Louis Philippe kam an die Macht, Frankreich wurde zum Paradies einer Bourgeoisie, die sich ganz dem wissenschaftlichen Fortschritt und dem Kapitalismus verschrieben hatte, und zugleich zu einem relativ liberalen Land mit einer lebhaften Presse. Als solches wurde es zum Exil vieler politischer Emigranten, die vor dem „System Metternich“ aus Deutschland flohen. So wich etwa Heine 1831 nach Paris aus, um dort bis zum Ende seines Lebens zu bleiben. Der deutsche Vormärz blickte nach Paris, das nun erneut zu einer Brutstätte moderner Ideen wurde.
Und damit zurück zu dem Schema literarischer Epochen, wie es von der nationalen Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts ausgearbeitet worden ist, zu der Vorstellung vom Stufengang der deutschen Literatur von der Aufklärung über den Sturm und Drang und die Weimarer Frühklassik hin zum Gipfelpunkt des „klassischen Jahrzehnts“, und von da über Hoch- und Spätromantik wieder hinab zu den Epigonen von Klassik und Romantik, zu den „Biedermeiern“ und „Tendenzdichtern“ des Vormärz, und zurück zu der Frage, wo die Probleme dieses Epochenschemas liegen.
2.4 Revision des Epochenschemas
Lessing der Vorkämpfer einer „deutschen Nationalliteratur“?
Ein erstes problematisches Moment im überkommenen Bild der Epochenfolge, das hier nur gestreift werden kann, ist die Vorstellung von Lessing als dem großen Propheten und Vorkämpfer einer deutschen Nationalliteratur in Zeiten der Aufklärung. Wohl hat sich Lessing in seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ (1767–1769) und einigen anderen
[<< 44]
Schriften gegen das „französische Theater“ ausgesprochen und ihm das Theater Shakespeares als Gegenmodell entgegengehalten, aber was meinte er konkret mit diesem zu überwindenden französischen Theater? Es war das Theater von Corneille, Racine und ihren Nachfolgern, das Theater des Klassizismus aus den Zeiten Ludwigs XIV. (1638–1715), also aus jener Epoche, die man im Blick auf die deutsche Literatur als Barock bezeichnet. Was Lessing dagegen vorzubringen hat, ist im Kern die Kritik eines Aufklärers an der Literatur des Barock. Und bei solcher Kritik stützt er sich ausdrücklich auf gleichgerichtete Bestrebungen französischer Zeitgenossen, insbesondere auf die Theaterschriften von Denis Diderot (1713–1784), dem er in Sachen Poetik ausdrücklich einen ähnlichen Rang zuerkennt wie Aristoteles.29 Im übrigen kann das Eintreten für den englischen Autor Shakespeare wohl kaum als Plädoyer für eine spezifisch deutsche „Art und Kunst“ gewertet werden. Lessing – das ist Aufklärung gegen Barock und nicht so sehr deutsche gegen französische „Art und Kunst“.
2.4.1 Sturm und Drang und Aufklärung
Spätaufklärung
Ein zweiter Kritikpunkt betrifft die Vorstellung vom Sturm und Drang