Geschichte der deutschen Literatur. Band 3. Gottfried Willems
sei. Als die große Zeit des Sturm und Drang werden vor allem die Jahre 1770 bis 1775 genannt. Nun sind aber viele Hauptwerke der Aufklärung erst später entstanden, Lessings berühmtestes Schauspiel „Nathan der Weise“ zum Beispiel erst 1781. Auch die meisten Arbeiten des Aufklärers Wieland, der zu seiner Zeit einer der meistgelesenen zeitgenössischen Autoren in Deutschland war, sind erst nach 1770 geschrieben worden. Die siebziger, achtziger Jahre sind eigentlich die Jahre der großen Wirkung von Wieland und Lessing, und mit dieser verglichen war und blieb die Resonanz
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dessen, was die Stürmer und Dränger – der Straßburger Kreis um Herder, der „Göttinger Hain“ – schufen, deutlich begrenzt, mit den beiden Ausnahmen von Goethes „Götz“ und „Werther“. Um dem Rechnung zu tragen, ist inzwischen für die siebziger und achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts der Begriff der Spätaufklärung 31 eingeführt worden. Von ihm aus erscheint der Sturm und Drang als eine literarische Bewegung, der es keineswegs gelungen ist, einer ganzen Epoche ihren Stempel aufzudrücken; den Grundcharakter der Epoche hat weiterhin die Aufklärung bestimmt.
Empfindsamkeit
Im übrigen ist zu fragen, inwieweit der Sturm und Drang überhaupt im Gegensatz zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts steht, ob in ihm nicht bloß eine Sonderentwicklung, eine Unterströmung der Aufklärung zu sehen ist. Der Schlachtruf des Sturm und Drang, wie er etwa in der Rede Goethes zum Shakespeare-Tag niedergelegt ist, der Ruf nach Natur (HA 12, 226), war ja die Losung der gesamten Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Aufgeklärt zu sein, hieß hier vor allem, „vivere secundum naturam“, hieß „take Nature’s path, and mad Opinion’s leave“ (Alexander Pope);32 es hieß, auf die Natur zu setzen, insbesondere auf das, was am Menschen Natur ist und wodurch er Teil der Natur ist, auf seine Triebnatur, seine Instinkte, seine Sinne, sein Herz und seine Einbildungskraft. Der Mensch sollte nicht mehr in einen vernünftigen und einen triebhaften, einen rationalen und einen sinnlich-emotionalen Teil aufgeteilt werden, wie das der frühmoderne Humanismus im Zeichen des christlichen Menschenbilds und des Neustoizismus getan hatte, sondern es sollte deren ständigem Ineinandergreifen nachgegangen, sollte auf das Vernünftige an Sinnlichkeit und Gefühl und auf die Offenheit der Vernunft für das Natürliche gesetzt werden. Man nennt diese grundlegenden Tendenzen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts auch Sensualismus und Sentimentalismus.
Als der Literaturgeschichtsschreibung die Bedeutung von Sensualismus und Sentimentalismus für die Literatur der Aufklärung endlich
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aufgegangen war, hat sie dem zunächst dadurch Rechnung zu tragen versucht, daß sie diese in eine rationalistische und eine sensualistisch-sentimentalistische Richtung aufteilte und für letztere den Begriff der Empfindsamkeit einführte.33 Aber auch das war noch immer schief, denn die gesamte Literatur der Aufklärung ist durch sensualistische und sentimentalistische Impulse geprägt, ja gewinnt allein von ihnen her ihre epochale Eigenart. Immerhin konnte der Sturm und Drang so der Aufklärung zugeordnet werden, ließ er sich nun doch als eine Bewegung begreifen, die aus der Empfindsamkeit, aus dem aufklärerischen Sensualismus und Sentimentalismus hervorgegangen war. Es zeigte sich, daß er sein spezifisches Profil eben dadurch gewann, daß er diesen Sensualismus und Sentimentalismus auf die Spitze trieb, daß er ihnen durch die bevorzugte Darstellung großer Gefühle, großer Leidenschaften, durch die Formulierung eines Absolutheitsanspruchs des Gefühls und besonders enthusiastische Formen des Redens eine radikale Wendung gab. Damit wurde der Weg von den früheren Formen der Aufklärung zum Sturm und Drang aber aus einem quasi revolutionären Umsturz zu einem fließenden Übergang.
Irrationalismus vs. Rationalismus?
Die alte Vorstellung von der „Überwindung“ der Aufklärung durch den Sturm und Drang beruhte ja auf der Opposition Rationalismus – Irrationalismus. Der Sturm und Drang sollte eine erste Stufe auf dem Weg zur Epiphanie des deutschen Wesens darstellen, insofern er den angeblichen Rationalismus der Aufklärung als etwas Undeutsches überwunden und mit der Exponierung großer, leidenschaftlicher Gefühle den deutschen Sinn für das Irrationale, für die Tiefe, den Tiefsinn freigesetzt hätte. Aber die gesamte Aufklärung des 18. Jahrhunderts lebte von der Kritik des Rationalismus, wie er ihr durch die christliche Theologie scholastischer Prägung und den frühneuzeitlichen Humanismus, insbesondere durch dessen Neustoizismus, überliefert war; sie hat sich unausgesetzt an einer „Kritik der Vernunft“ (Kant) abgearbeitet und um die Darstellung des Menschen als empfindsames
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Individuum bemüht. Hat man sich dies erst einmal klargemacht – die Aufklärung des 18. Jahrhunderts hat keineswegs einem wie auch immer zu definierenden Rationalismus gehuldigt, ihr Schlachtruf war „Natur!“, ihr ging es um den Menschen als ganzen, insbesondere um seine sinnlich-empfindsame Seite – dann wird es vollends unmöglich, den Sturm und Drang als eine Gegenbewegung zur Aufklärung zu begreifen.
Präromantik
Ein weiteres Moment kommt hinzu. Die ältere Literaturgeschichtsschreibung wollte eine besonders gewichtige Neuerung des Sturm und Drangs darin erblicken, daß die Literatur von der neuen Begeisterung für die Natur her erstmals ein Interesse an ursprünglich-natürlichen Formen von Kultur entwickelt habe, insbesondere am Altertum der nordeuropäischen Völker, ein Interesse, das hier nun an die Stelle der humanistischen Orientierung am Altertum des Südens, an der griechisch-römischen Antike getreten sei. Überhaupt sei der Literatur hier in der Gestalt Herders erstmals der Sinn für Geschichte, für das Volksleben der nordischen Nationen und für ihre besonderen Überlieferungen aufgegangen, habe sie hier erstmals die poetischen Qualitäten des Volkslieds, der Volksballade und der Volkssage für sich entdeckt.
Aber das Interesse am Altertum des Nordens ist älter als der deutsche Sturm und Drang; es hat die Aufklärung im Grunde durch ihre gesamte Geschichte begleitet. Markante Beispiele dafür finden sich vor allem in England, sehr früh schon bei den englischen Aufklärern John Dryden (1631–1700) und Alexander Pope (1688–1744), und dann vor allem in den sechziger Jahren bei Männern wie Thomas Percy (1729–1811), der „Reliques of Ancient English Poetry“ (1765) sammelte, und James Macpherson (1736–1796), der in „The Works of Ossian“ (1765) altschottische Sagen bearbeitete. Man spricht in diesem Zusammenhang von „Präromantik“,34 weil sich hier schon die Interessen bemerklich machen, die später vor allem von der Romantik gepflegt worden sind. Wer über den Tellerrand der deutschen Literaturgeschichte hinausblickt, der weiß, daß sich das präromantische Interesse an Geschichte, nordischem Altertum und
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nordischem Volksleben nicht im deutschen Sturm und Drang, sondern in der englisch-schottischen Aufklärung Bahn gebrochen hat.
Montesquieu und Rousseau
Und nicht nur in der englischen Aufklärung, auch in der französischen fand der deutsche Sturm und Drang entscheidende Anknüpfungspunkte. So hat Herder das Programm, mit dem er zu einem der großen Mentoren des Sturm und Drang werden sollte, zu einem frühen Zeitpunkt, im „Journal meiner Reise im Jahr 1769“, einmal in die Formel gefaßt: „mit dem Geist eines Montesquieu sehen, mit der feurigen Feder Rousseaus schreiben“.35 Er wußte noch sehr genau, daß er mit seinem neuen Sinn für die Geschichte, die Vielfalt der Kulturen und der Formen des Volkslebens einen Weg beschritt, der von Montesquieu gebahnt worden war, und daß entscheidende Impulse für die „neue Beredsamkeit der Leidenschaften“ (Goethe) von Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) ausgegangen waren, daß der Sturm und Drang hierin also den neuesten Entwicklungen der französischen Literatur verpflichtet war. Übrigens wurde auch Diderot, der schon für Lessing so große Bedeutung hatte, nach Goethes Zeugnis im Straßburger Kreis um Herder eifrig studiert (HA 9, 487).
Goethes „Werther“ ein Roman der Empfindsamkeit