Geschichte der deutschen Literatur. Band 3. Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur. Band 3 - Gottfried Willems


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den Kreisen der Gebildeten kultiviert, von den Intellektuellen, denen nun plötzlich etwas Tiefsinniges zum Begriff der „Deutschheit“ einfiel. Erst in den sogenannten Befreiungskriegen von 1813 bis 1815 konnte er schließlich auch von der in kriegerische Aktion versetzten breiten Masse der Bevölkerung Besitz ergreifen.

      Die Zentren dieses neuen Denkens waren in erster Linie Universitätsstädte, Städte wie Heidelberg, wo Joseph Görres in nationalromantischem Sinne auf die junge Generation einwirkte und 1808 die „deutschen Volksbücher“ herausgab, und Berlin, wo Johann Gottlieb Fichte – ebenfalls 1808 – „Reden an die deutsche Nation“ hielt und wo eine „christlich-deutsche Tischgesellschaft“ den nationalen Gedanken pflegte. Hinzu kamen Epizentren wie Dresden, wo der Kleist-Freund Adam Müller im Winter 1806/07 „Vorlesungen über deutsche Wissenschaft und Literatur“ hielt; übrigens hat sich auch Kleist selbst zeitweise von der nationalistischen Propaganda in die Pflicht nehmen lassen. Aber das alles geschah eben erst nach 1806. Der Revolutionsdiskurs wird also gerade nicht im „klassischen Jahrzehnt“, sondern erst danach, in der Zeit der Heidelberger und Berliner Romantik, zu einer Plattform für Spekulationen über das französische und deutsche Wesen und für die Verpflichtung der deutschen Literatur auf dieses deutsche Wesen.

      Aufbrechen des Gegensatzes von Klassik und Romantik

      Vollends schwierig wird es mit der Vorstellung von einer Epoche namens „Hochklassik“, wenn man sich klarmacht, daß sich die deutsche Kultur, Kunst und Literatur im „klassischen Jahrzehnt“ gerade

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      nicht auf jenes Ziel zu bewegt, in jene Verfassung hinein entwickelt haben, die sie laut Klassik-Doktrin eben hier erreicht haben sollen: daß nämlich alle, die an dieser Kultur produktiv teilhaben, nun endlich von ein und demselben Geist ergriffen, durchdrungen und zusammengebracht worden wären; daß die Vielfalt und Gegenwendigkeit der Bestrebungen, die „Zersplitterung des geistigen Deutschland“ im kollektiven Innewerden nationaler Eigenart an ihr Ende gekommen wäre. Daß die Deutschen nun zum vollen Bewußtsein ihrer selbst als Deutsche gelangt sein sollen, müßte doch eigentlich heißen: alle Unsicherheit in Identitätsfragen hört auf, überall kann sich ein ähnlich gerichtetes Denken, Fühlen, Wollen und Handeln breitmachen. Aber das Gegenteil ist richtig; die „Zersplitterung des geistigen Deutschland“ geht in eine neue Runde. Denn gerade damals tut sich in der deutschen Kultur, Kunst und Literatur ein neuer Gegensatz auf, eine ganze neue Welt von Widerspruch und Streit, nämlich der Gegensatz von Aufklärern und Gegenaufklärern, zugespitzt im Gegensatz von Klassik und Romantik.

      Die Frühromantiker

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      das Grüppchen dann schon wieder auseinander, aber bis dahin ist viel geschehen. Die Bewegung ist konsolidiert und kann sich kreuz und quer durch Deutschland ausbreiten.

      Klassik und Romantik

      In dem Jenaer Kreis ist nun etwas entstanden, das durchaus in eine andere Richtung zielte als das, was ­Goethe, Schiller und ihre Mitstreiter wollten und unternahmen, etwas, das sich mit deren Bestrebungen kaum vereinbaren ließ, und doch sollen beide Gruppen gemeinsam für die Blütezeit der deutschen Nationalliteratur einstehen. Was ihr Verhältnis so kompliziert macht, ist, daß die Ideen, von denen aus ­Goethe und Schiller zu klassischen Nationalautoren der Deutschen stilisiert wurden, im Rahmen der literarisch-ästhetischen Programmatik der Frühromantik entwickelt worden sind, daß dies allerdings Ideen sind, die von ­Goethe und Schiller nicht geteilt wurden. Das Konzept einer deutschen Klassik ist im Grunde das Resultat eines großen Mißverständnisses.

      Das Programm der Frühromantik

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      freilich entdecken, daß in Schlegels Aphorismus schon der Bruch mit ­Goethe lauert.

      Zunächst macht er allerdings deutlich, daß die Frühromantiker wie ­Goethe, Schiller und all die anderen zeitgenössischen Autoren auf die Französische Revolution starren, daß sie das, was sie als Literaten treiben, im Blick auf die Revolution definieren. Auch sie wollen eine Revolution ins Werk setzen, als Gegenentwurf zu dem, was in Frankreich geschieht, eine durchaus anders geartete, nämlich eine geistige Revolution, eine Kulturrevolution. Als deren Leitsterne erwählen sie sich eben ­Goethe und Fichte.

      Freiheit tiefer denken

      Die Maxime der Französischen Revolution lautet bekanntlich: „Liberté, Egalité, Fraternité“, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. An der ersten Stelle steht die Forderung nach Freiheit, und das heißt hier: nach der Freiheit des Individuums. Diese Freiheit soll nun durch das Rechtssystem eines Rechtsstaats garantiert und bis hin zu verfassungsmäßigen Rechten der Mitwirkung am politischen Geschehen weiterentwickelt werden. Freiheit bedeutet hier mithin zunächst und vor allem die rechtliche Absicherung und Förderung der Individualisierung, wie sie sich im Zuge der Modernisierung eingestellt hat und ohne solche Modernisierung nicht zu denken ist.

      Die Frühromantiker greifen nun den von der Revolution herausgestellten Begriff der Freiheit des Individuums auf, um ihn noch einmal neu und „tiefer“ zu denken als die zeitgenössische französische Politik. „Tiefer“ zu denken heißt für sie aber vor allem, den Begriff der Freiheit mit dem der Phantasie zu verknüpfen. Die Romantiker ziehen den Freiheitsbegriff aus dem Bereich der Politik und des Rechts in den der Kunst, der Ästhetik, wo die Phantasie zu Hause ist. Ich will frei sein, um mir selbst leben und ganz ich sein zu können, und ganz ich zu sein heißt hier zunächst und vor allem, seiner Phantasie leben zu können, in seinem ureigensten Phantasieleben ganz bei sich selbst anzukommen, den innersten Quellen der „Ichheit“, der Subjektität nahekommen und sie ausleben zu können.

      Dieser Ansatz führt die Romantiker zu Fichte und zu ­Goethe. Fichte ist der Philosoph des Ichs, der die Welt in der Nachfolge Kants vom Ich her denkt, von einer Subjektivität her, die der materiellen Welt, der Natur, der Gesellschaft, dem Erfahrbaren überhaupt immer schon vorausliegen soll; so haben ihn jedenfalls die Romantiker gelesen. Und

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      was die Phantasie ist und kann, also wie man ich und frei sein kann, zeigen ihnen ­Goethe und sein Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. In ihm erblicken sie die bedeutendste Manifestation des phantasierenden Individuums in der modernen Kunst, jedenfalls zu Anfang, bei seinem Erscheinen; später werden sie das anders sehen. Da wird es dann


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