Geschichte der deutschen Literatur. Band 3. Gottfried Willems
unterliegt im allgemeinen keiner Kontrolle, etwa einer Kontrolle durch Parlamente, allenfalls der durch eine Ständeversammlung, die „Landstände“. Denn es gibt noch keine allgemeinen, freien und gleichen Wahlen wie heute; die Monarchen herrschen weithin uneingeschränkt, „absolut“. Deshalb spricht man hier auch von „Absolutismus“.
Die Literatur zwischen Fürstenhof und Buchmarkt
Die Fürstenhöfe sind nach wie vor die wichtigsten Förderer von Kunst und Literatur, wenn sich inzwischen auch ein Kunst-, Buch- und Zeitschriftenmarkt herangebildet hat, der den Künstlern und Literaten eine Alternative zum Leben bei Hofe oder in einer anderen Institution der Ständegesellschaft eröffnet.18 Aber von diesem Markt können die meisten von ihnen noch nicht leben. Selbst Goethe, der im Lauf seines Lebens mit seinen Büchern schon viel Geld verdient hat, geht deshalb 1775 an den Weimarer Hof und bleibt ihm sein Leben lang als fürstlicher Rat und Minister verbunden. Das Amt bei Hofe sichert ihm die Existenz, und außerdem kann er von ihm aus manches für „Kunst und Wissenschaft“ tun, nicht nur für die eigene, auch für die anderer Autoren. Kunst und Literatur sind hier also noch nicht autark; sie sind noch von Institutionen wie den Fürstenhöfen abhängig.
Doch diese Verhältnisse beginnen sich gerade in der Zeit um 1800 zu ändern. Wenn sich Goethe und Schiller noch immer einem Fürstenhof wie dem Weimarer „Musenhof“ zuordnen lassen, so kann man sich Autoren wie Jean Paul und Kleist hier kaum mehr vorstellen. Wohl hat auch ein Romantiker wie Friedrich Schlegel zunächst noch eine derartige Anbindung gesucht und sich bald in Weimar, bald bei Napoleon und bald bei dessen wichtigstem Gegner, dem Wiener Hof, um eine Anstellung bemüht – ein Zeichen der vielberufenen
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ideologischen Flexibilität des modernen Intellektuellen. Und selbst einen Hölderlin hat man eine zeitlang noch als Bibliothekar an dem kleinen Fürstenhof zu Homburg untergebracht.
Doch schon eine Generation später beherrschen Männer wie Heine die Szene, Autoren, die man sich eben durchaus nicht mehr an einem Hof vorstellen kann. Freilich, selbst Heine hat sich zeitweilig mit dem Gedanken getragen, bei Hofe zu reüssieren, und sich in München bei dem bayrischen König Ludwig I. um ein Amt beworben. Sein Versuch blieb aber ohne Erfolg, und man darf wohl davon ausgehen, daß er selbst dann zu einem Fehlschlag geworden wäre, wenn er gelungen wäre. Die Generation Heines, die Generation der „Jungdeutschen“ ist die erste Generation von Autoren, die sich bewußt und konsequent von den Fürstenhöfen löst. Sie braucht die Distanz zum Hof für ihre Arbeit und sucht ihr Auskommen eher im Journalismus, bei einer mehr oder weniger kritischen Presse; sie setzt mithin statt auf den Fürstenhof auf den Buch- und Zeitschriftenmarkt. Freilich finden sich selbst in dieser Generation noch Gegenbeispiele, doch wird deren Weg zum Hof nun zum öffentlichen Ärgernis und von den anderen Literaten als Verrat angeprangert. Die entscheidenden Schritte hin zur institutionellen Autonomie der Kunst sind getan.
Das „Heilige Römische Reich deutscher Nation“
Das politische Leben bewegt sich in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts noch immer in den Bahnen, die ihm durch die Verfassung des „Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation“ vorgezeichnet sind. An der Spitze des Reichs steht der Kaiser in Wien, ein Österreicher aus der Dynastie der Habsburger. Er ist das Oberhaupt eines komplexen Gebildes, das sich aus zahllosen größeren und kleineren Fürstenstaaten wie dem Staat des Herzogs von Sachsen-Weimar-Eisenach zusammensetzt. Insgesamt umfaßt das Reich an die 300 Fürstentümer und souveräne Herrschaften; diese suchen sich politisch in einem Spannungsfeld zu verorten, das durch den Kaiser zu Wien, den König von Preußen, den einflußreichsten deutschen Fürsten neben dem Kaiser, und den König von Frankreich bezeichnet wird, dem mächtigsten Nachbarn des Deutschen Reichs, einem aufdringlich interessierten Nachbarn.
Aufgeklärter Absolutismus
Viele dieser deutschen Fürsten verfolgen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine aufgeklärte Reformpolitik, suchen sich mit mancherlei Reformen zu Herren jener Modernisierungsdynamik zu
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machen, die von der Aufklärung ausgeht. Das gilt wie für die Höfe Friedrichs II. (1712–1786) in Berlin und Josephs II. (1741–1790) in Wien, so auch für den „Musenhof“ zu Weimar, und es gilt für ihn in besonderem Maße. Der junge Herzog Carl August (1757–1828) war von einem führenden Kopf der deutschen Aufklärung, von Christoph Martin Wieland (1733–1813), erzogen und mit aufklärerischen Ideen vollgestopft worden, so daß er bei Antritt seiner Regierung 1775 nichts Eiligeres zu tun hatte, als Goethe und Herder, die Exponenten der allerneuesten Entwicklungen im Reich der „Kunst und Wissenschaft“, nach Weimar zu ziehen, um mit ihrer Hilfe eine moderne Politik zu gestalten. Das hatte übrigens zur Folge, daß der alte Adel in gewissem Maße durch Leute bürgerlicher Abkunft wie Goethe aus dem Zentrum der Macht verdrängt wurde, was in Weimar wie anderswo immer wieder böses Blut gab – der im 18. Jahrhundert allgegenwärtige Konflikt zwischen „noblesse d’épée“ und „noblesse de robe“, zwischen erblichem Blut- oder Schwertadel und neuem Amtsadel. Aber die Fäden laufen letztlich auch hier in der Hand des Fürsten, des „Souveräns“ zusammen; auch ein aufgeklärter Absolutismus ist noch immer ein Absolutismus.19
Französische Revolution
Eben gegen solche Verhältnisse sind die Männer der Französischen Revolution 20 seit 1788/89 angetreten, um dem Prinzip der „Volkssouveränität“ Geltung zu verschaffen. Nicht der Fürst, sondern das Volk sollte nun als Souverän fungieren; alle Macht sollte vom Volke ausgehen. Dieser Grundsatz sollte mit Hilfe von Verfassungen durchgesetzt werden, die die Macht an Wahlämter knüpften; sie sollte sich in Volkswahlen legitimieren müssen. Damit zog die Französische Revolution auf ihre Weise die Konsequenzen aus dem Denken der Aufklärung und den Erfordernissen der Modernisierung, aus dem aufklärerischen Prinzip der Emanzipation von der Autorität der Tradition, wie er aller Modernisierung zugrunde liegt, und dem aufklärerischen
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Gedanken der allgemeinen Menschennatur, der natürlichen Gleichheit aller Menschen.
„Terreur“ und Revolutionskriege
Mit solchen Neuerungen verwickelte sich der Französische Staat – vor allem nachdem er sich 1792/93 seines Königs Ludwigs XVI. entledigt und in eine Republik verwandelt hatte – in Konflikte mit den alten Monarchien um Frankreich herum. Hinzu kam, daß die revolutionären Kräfte mehr und mehr aus dem Ruder liefen und bürgerkriegsähnliche Zustände heraufführten, die schließlich in die „Terreur“, das Schreckensregime der Jakobiner einmündeten, mit Massenhinrichtungen in Paris und in der französischen Provinz. Die alten Mächte schlossen sich in Koalitionen gegen Frankreich zusammen, um die Revolution einzudämmen, wo nicht vollends aus der Welt zu schaffen. So wurden die Jahre von 1792 bis 1815 zu einer Zeit immer wieder neu aufflammender Kriege, mit einer Militärmaschinerie, wie sie die Menschheit bis dahin noch nicht gesehen hatte. Denn auch das Militär hat sich damals modernisiert. So wurde nun durch einen Revolutionär namens Barras in Frankreich die allgemeine Wehrpflicht eingeführt; deshalb geht man noch heute „zum Barras“, wenn man Soldat wird. Riesige Heere zogen kreuz und quer durch Europa, von Holland bis Italien und von Spanien bis Rußland, und das hieß naturgemäß zunächst einmal: sie zogen kreuz und quer durch Deutschland.
Das erste große Treffen in diesen Kriegen war die Schlacht bei Valmy (1792), in der sich das revolutionäre Frankreich ein erstes Mal gegen die Koalition der alten Mächte behaupten konnte. Goethe hat diese Schlacht aus nächster Nähe miterlebt; sein Herzog Carl August, der im Nebenamt auch ein preußischer General war, hatte ihn auf den Feldzug mitgeschleppt. Goethe will dabei den Anbruch eines neuen Zeitalters gespürt haben, wie wir aus einer seiner autobiographischen Schriften, der „Campagne in Frankreich“ (1822) wissen, einer ausführlichen Schilderung jener ersten kriegerischen Verwicklung der Revolutionszeit.
Deutsche Jakobiner
Nichts