Grundlagen der Visuellen Kommunikation. Stephanie Geise
durch die Statue Homers, des ersten überlieferten griechischen Dichters, am linken Bildrand. Homer blickt zu Boden, auf die Instrumente zu seinen Füßen. Der Heroldsstab steht symbolisch für die Zivilisierung des Krieges durch dessen Ankündigung und Beendigung per Friedensschluss, die Waage verkörpert politische Gleichheit in demokratischen Republiken, der Beutel stellt den Handel dar, der mit Geld geführt wird, das Schwert verkörpert ein Recht der Gewalt, das durch die Religion gebändigt wird und das römische Rutenbündel symbolisiert politische Herrschaft.
Die dahinterliegenden Symbole stehen für die menschlichen Kulturleistungen – das Alphabet als Ursprung von Sprache, den Ackerbau und die Bestattungsriten. Das Steuerruder links des Altars erinnert an die Völkerwanderung, die mit der Schifffahrt begann. Der Altar in der Mitte des Bildes trennt den dunklen Hintergrund sowohl zeitlich als auch räumlich von dem aufgeklärt-zivilisierten Vordergrund. Die dunklen Wolken werden vom Autor als dunkle Urzeit gesehen und der Wald rechts verkörpert die mythologische Wildnis, den Nemeischen Wald, in welchem Herkules, der als Sternbild auf der Weltkugel dargestellt ist, den Löwen besiegte. Nicht ohne Grund ist der Altar mit den Opferinsignien Fackel, Feuer, Wasser im Zentrum des Blattes angeordnet. Denn für den Autor nahm die politische Welt ihren Anfang mit der Religion. Mit seiner »Scienza Nuova« wollte Vico das Dunkel der Urzeit durchdringen und den Menschen vor allem als soziales Wesen begreifen. In seinen eigenen Worten bestand das Neuartige seiner Wissenschaft darin, dass die Metaphysik nicht nur auf die Natur, sondern auf die politisch-soziale Welt angewandt würde. Die Weltkugel im Bild steht nur auf einer Ecke des Altars: »da die Philosophen die göttliche Vorsehung bisher nur unter dem Gesichtspunkt der natürlichen Ordnung betrachtet haben, haben sie von ihr nur einen Teil erwiesen […]; aber sie haben ihn (den Geist, A.d.V.) noch nicht von jener Seite betrachtet, die den Menschen eigentümlicher ist, zu deren Natur als Haupteigenschaft gehört, gesellig zu sein« (Vico 1744/1990, I: 3). Weiter unten fährt Vico in seiner Bilderläuterung fort: »Überdies deutet (der Lichtstrahl, A.d.V.) an, daß die Erkenntnis Gottes nicht in der Metaphysik enden soll, damit diese sich auf private Weise mit den geistigen Dingen erleuchte und somit nur ihre eigene moralische Haltung regle, wie es bisher die Philosophen getan haben; das hätte man nämlich mit einem flachen Edelstein angezeigt. Aber er ist konvex, so daß der Lichtstrahl sich bricht und nach außen ausstrahlt, damit die Metaphysik Gott erkenne, wie seine Vorsehung die öffentlichen moralischen Verhältnisse oder die politischen Sitten bestimmt« (Vico 1744/1990, I: 6/7).
Soll das Bild jedoch nicht nur vom Motiv her entschlüsselt, sondern auch hinsichtlich seiner weitergehenden Bedeutungspotenziale und Funktionen analysiert werden, reichen Bild und Primärquellentext nicht aus. Hier muss Sekundärliteratur sowie die Motivgeschichte zu Rate gezogen und in die Interpretation miteinbezogen werden.
Beispiel für eine Interpretation von Abb. 15 (Frontispiz Giambattista Vico)
Das allegorische Titelbild wurde ursprünglich von Vico bestellt und von dem Rokoko-Künstler Domenico Antonio Vaccaro entworfen (Wessely 1989: 7). Das in Abb. 15 abgebildete Frontispiz ist die erste von mehreren Versionen des Titelbildes, das nicht erst 1744, sondern bereits der zweiten Auflage des Werkes 1730 vorangestellt wurde (Wessely 1989: 7, darin Groblewski (1987) kritisierend). Während dieser ersten, mit dem Titelbild versehenen Ausgabe ein Stich von Antonio Baldi vorangestellt wurde, zeigten die meisten der späteren Nachdrucke eher unbeholfene Kopien der Baldi-Grafik (Wessely 1989: 7).
Der Produktionsprozess des Frontispizes zeigt, wie arbeitsteilig bereits im 18. Jahrhundert die Bildproduktion verlief. Die Bildidee wurde vom Autor in Auftrag gegeben an einen Künstler, der einen Entwurf ablieferte und diesen wiederum an einen Stecher weitergab. Das gestochene Bild wurde von anderen Grafikern kopiert und dabei häufig verfremdet, so dass zwar bestimmte kompositorische Grundelemente erhalten blieben, jedoch die ursprüngliche Bildaussage davon nicht unberührt blieb und an entscheidenden Stellen Veränderungen erfuhr.
Über die intendierten Symbolbedeutungen in seiner Zeit zeigt die wechselseitige Analyse von Vicos Frontispiz und seiner Texterläuterung, dass im 18. Jahrhundert noch eine sehr viel stärkere Verschmelzung von Gedanke, Begriff und Bild vorhanden war, als dies heute der Fall ist. Wenn der Autor beispielsweise den Ursprung des Begriffes »ius«, das Recht, etymologisch bei »Ious«, dem lateinischen Namen für den Gott Jupiter sieht (Vico 1744/1990, I: 14) oder den Ursprung des lateinischen Begriffs für Stadt – »urbs« – aus dem Krummholz des Ackerpfluges – »urbum« – ableitet (Vico 1744/1990, I: 15), wird deutlich, dass der Autor den Einsatz assoziativer Logik bewusst intendierte. Das Interessante an dieser Form der Argumentation ist weniger die historische Korrektheit dieser Ableitungen als vielmehr der Ableitungsprozess an sich.
Gleich drei Probleme werden bei der Bildinterpretation offensichtlich: Zum einen geht mit der historischen Rückbetrachtung eines Bildes der Verlust des historischen Originalkontextes einher, in welchem das Bild entstanden ist. Zwar funktioniert die multimediale und multimodale Realität des 21. Jahrhunderts aufgrund einer ähnlich assoziativen Logik, die ebenso wie im 18. Jahrhundert nicht rational und manchmal nicht einmal richtig sein muss. Im besten Fall können assoziativ erzeugte Informationen und Behauptungen einen Argumentationsstrang untermauern. Im schlimmsten Fall zerstören assoziativ generierte Bedeutungen die argumentative Logik, indem sie sie mit emotionalen Werten überlagern und die rationale Diskussion unmöglich machen. Visuelle Assoziation an und für sich ist ein wertfreies Ergebnis eines Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozesses, kann jedoch instrumentalisiert werden – im guten wie im schlechten Sinn. Dabei wirken bestimmte Motivtraditionen auch in der Gegenwart fort und dies sowohl bewusst als auch unbewusst. Nichtsdestotrotz muss der jeweilige historische Kontext vom Forscher rekonstruiert werden, um das Bild und seine Bedeutungen zeitgeschichtlich einordnen zu können. Und dies trifft sowohl auf die Rekonstruktion des 18. Jahrhunderts als auch auf die Vergegenwärtigung weniger weit zurückliegender Ereignisse zu.
Zum anderen muss für eine adäquate Interpretation die Motivgeschichte des Bildes – dessen Ikonografie (vgl. Kapitel 8) – hinzugezogen werden. Ist das Motiv originär? Auf welche Vorbilder und Darstellungstypen bezogen sich Vaccaro und Baldi? Wo haben sie ihre künstlerische Ausbildung erfahren? Welche Stilelemente des Bildes lassen sich auf diese künstlerischen Traditionen beziehen? An was für einen Adresssatenkreis richtete sich Vicos Werk? Wie wandelte sich das Frontispiz und welche Bedeutungsänderungen sind mit der gestalterischen Veränderung des Frontispizes verbunden?
Zudem stellt sich nach Lektüre der Sekundärliteratur (z. B. Groblewski 1987; Wessely 1989) heraus, dass der abgebildete Stich (vgl. Abb. 15, S. 56) nur einen Ausschnitt darstellt und die Bildränder in der Abbildung beschnitten sind. Auf dem Originalstich, wie in der Abbildung bei Wessely (1989: 7) zumindest andeutungsweise erkennbar, sind Vaccaros und Baldis Namen am unteren Blattrand aufgedruckt. Auch die Größe des Originalblattes wäre für eine akkurate Interpretation wichtig. Diese Fragen können jedoch nur am Original geklärt werden, wozu zunächst zu recherchieren wäre, in welchen Bibliotheken Kopien der Stiche vorhanden sind. Unter Umständen ist also für eine kunsthistorische Bearbeitung auch die Reise in das entsprechende Archiv oder Museum erforderlich, um die Bildanalyse am Original sowie den Vergleich mit anderen Originalfrontispizen zu ermöglichen.
Das Problemfeld »Kopie – Original« ist in der Visuellen Kommunikationsforschung besonders akut und sollte bei jeglicher Bildanalyse und -interpretation bedacht werden. Handelt es sich bei dem vorliegenden Bildmaterial um ein Original oder um eine, möglicherweise modifizierte, Reproduktion? Im Forschungsprozess sollte diese Frage immer gleich zu Anfang gestellt und beantwortet werden. Die Frage nach dem Original ist eng verknüpft mit der Quellenkritik, die in Kapitel 6 ausführlich behandelt wird.
Übung 3
Beschreiben und analysieren Sie die Abb. 19–24 auf S. 66–67. Interpretieren Sie im Anschluss das bereits beschriebene Porträt