Medienwandel. Joseph Garncarz

Medienwandel - Joseph Garncarz


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des Kinodramas als Umbruch deuten. Zum einen kann man argumentieren, die Einführung langer Dramen sei ein intramedialer Umbruch gewesen, da es zuvor im Kino keine vergleichbaren Dramen gegeben hat. Zum anderen lässt sich argumentieren, dass die Etablierung des Kinodramas deshalb ein Medienumbruch war, weil der größte Teil der Zuschauer, die ins Kino gingen, keine Dramen auf dem Theater gesehen hatte, weil das Theater in Deutschland um 1900 im Unterschied zum Kino im Wesentlichen eine Angelegenheit der oberen sozialen Schichten war.

      Ob ein Medienwandel als Medienumbruch wahrgenommen wird, hängt zweitens von der zeitlichen Perspektive ab, die der Forscher wählt: Je näher er am Objekt ist, desto wahrscheinlicher erscheint ein Medienwandel als »evolutionär«; je größer die zeitliche Distanz jedoch ist, desto grundlegender oder »revolutionärer« wird ein Medienwandel erscheinen. Verfolgt man in chronologischer Reihenfolge die Etablierung eines neuen Mediums, so erscheint dieser Prozess mit großer Wahrscheinlichkeit als ein Prozess der kleinen Schritte. Macht man jedoch zwei Zeitschnitte – den ersten in dem Moment, in dem ein neues Medium in den Markt[51] eingeführt wird, und den zweiten dann, wenn es sich etabliert hat, wird man den Wandel eher als Umbruch wahrnehmen.

      Vergleicht man zum Beispiel die Zeit um 1895 zur Einführung des Films in den Markt mit dem Jahr 1914, dann erscheint dieser Medienwandel als plötzlicher Bruch einer kontinuierlichen Entwicklung. 1896 war die Reichweite des neuen Mediums Film noch relativ gering: Artisten und Schausteller präsentierten Programme »bewegter Bilder«, die kaum länger als 15 Minuten dauerten, überwiegend in Großstädten. 1914, also weniger als zwei Jahrzehnte später, gab es knapp 2.500 ortsfeste Kinos in deutschen Groß-, Mittel- und Kleinstädten, die abendfüllende Filmprogramme boten und bis zu 250 Millionen Eintrittskarten pro Jahr verkauften. Betrachtet man diesen Medienwandel jedoch, indem man der Chronologie der Ereignisse von 1895 bis 1914 sukzessive folgt, dann zeigt sich die Etablierung des Films als ein komplexer Prozess mit vielen Zwischenstufen. Der Prozess scheint aus dieser Binnenperspektive betrachtet als evolutionär, aus der Außenperspektive dagegen als revolutionär.

      Ob ein Medienwandel als Medienumbruch wahrgenommen wird, hängt drittens von der Persönlichkeit des Forschers ab: Je aufgeschlossener für Neuerungen jemand ist, desto weniger radikal wird ihm eine Veränderung erscheinen. Je konservativer jemand ist, desto stärker wird er eine Veränderung als Umbruch wahrnehmen. Man kann auch sagen: Je stärker jemand für Veränderungen aufgeschlossen ist, desto weniger abrupt erscheint ihm ein Medienwandel, weil er mehr erwartet hat. Je stärker jemand an der Tradition festhält, desto mehr wird er einen Medienwandel als Medienumbruch wahrnehmen, da er jeglichem Wandel gegenüber skeptisch ist.

      Viertens hängt die Art, wie ein Medienwandel wahrgenommen wird, von dem Forschungskontext ab, in dem der jeweilige Medienhistoriker steht. An einem Institut, an dem ein chronologisches Vorgehen in kleinen Schritten für verbindlich gehalten wird, werden Mitarbeiter einen Medienwandel kaum als Umbruch wahrnehmen. In einem Sonderforschungsbereich zum Thema Medienumbrüche ist es dagegen außerordentlich schwierig, den Medienwandel nicht als revolutionären Prozess zu interpretieren.

      Unabhängig von der Art des Wandels selbst hängt die Frage, ob ein Medienwandel als Evolution oder als Revolution wahrgenommen wird, also auch von Faktoren ab, die mit dem Wandel selbst nichts zu tun haben, sondern »im Auge des Betrachters« liegen. Die Analyse des Medienwandels ist also ein relativ komplexer Prozess, da es notwendig ist, eine Fülle von Fakten unter Benutzung klarer begrifflicher Konzepte zur Kenntnis zu nehmen und zugleich das Referenzsystem der eigenen Wahrnehmung zu reflektieren.

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