Medienwandel. Joseph Garncarz

Medienwandel - Joseph Garncarz


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      Über Jahrzehnte schien das eigene Land als ein selbstverständlicher Bezugspunkt der Medienforschung; Forscher blickten kaum über die jeweiligen nationalen Grenzen hinaus. Heute ist das Pendel beinahe ins andere Extrem ausgeschlagen. Mediengeschichte wird heute oft geschrieben, ohne sie zu lokalisieren; es wird quasi von vornherein unterstellt, dass Medien globale Phänomene seien (was die Fallstudien im zweiten Teil dieses Buchs widerlegen). Man kann diese Fallstricke vermeiden, indem man sich auf ein Land konzentriert (eine Beschränkung des Quellenkontingents ist ein Gebot der Machbarkeit) und dabei die Ergebnisse der Forschung mit der Situation anderer Länder vergleicht (auf der Basis der Forschungsliteratur bzw. einer selektiven Nutzung von Quellen). Auf diese komparatistische Weise lässt sich beurteilen, ob die Medienentwicklung für das eigene Land spezifisch bzw. ob sie in mehreren Ländern ähnlich verlaufen ist. Stellt man kulturelle Varianzen zwischen verschiedenen Ländern fest, so sind diese erklärungsbedürftig.

      In jüngster Zeit haben sich Medienhistoriker verstärkt mit der Frage des Kulturtransfers beschäftigt. Die Medienlandschaften zweier Länder – ob es sich dabei um Nachbarländer oder um Länder auf verschiedenen Kontinenten handelt – müssen sich nicht unabhängig voneinander entwickelt haben. In Europa etwa war im 20. Jahrhundert ein intensiver Austausch von Medienprodukten üblich. Sicherlich wurden viele Filme nur für die einheimischen Märkte produziert. Andererseits gab es eine gezielte Produktion für den europäischen Markt (siehe Kapitel 11), also einen Austausch von Filmen über Ländergrenzen hinweg. Deutsche Filme wurden in französischen Kinos gezeigt und französische Filme in deutschen Kinos. Historiker fragen oft danach, wie sich das jeweilige Zielland durch den Kulturaustausch verändert hat. Bei Unterhaltungsprodukten kann man jedoch auch fragen, welchen Unterhaltungswert die Filme eines Landes für das Publikum eines anderen Landes hatten. Sind die ausländischen Filme kulturell zu fremd, sind sie beim Publikum oft chancenlos, da ihnen der bewährte Unterhaltungswert fehlt. Das Publikum wirkt in diesem Fall wie ein Filter, der verhindert, dass der Kulturtransfer die Kultur des Ziellandes nachhaltig verändert.

      [48]Kapitel 10, das sich mit unterschiedlichen Übersetzungsverfahren fremdsprachiger Filme beschäftigt, ist ein Beispiel für ein komparatistisches Vorgehen. Erst im Ländervergleich wird deutlich, dass sich in unterschiedlichen Ländern spezifische Übersetzungsverfahren etabliert haben. So lässt sich zeigen, dass die Synchronisation eines fremdsprachigen Films in der eigenen Sprache nur in Deutschland, Italien und Spanien zur dominanten Übersetzungspraxis wurde.

      Kapitel 9, 12 und 14 sind Beispiele für Kulturtransfer. In Kapitel 9 wird untersucht, wie erfolgreich Charles Chaplins Filme beim deutschen Publikum der 1920er- und 1930er-Jahre waren. Kapitel 12 analysiert, wie Leni Riefenstahl ihren Film OLYMPIA in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre so gestaltet hat, dass er eine Chance hatte, international erfolgreich zu werden. Kapitel 14 untersucht, warum für das deutsche Publikum der 1950er-Jahre die Nazis aus dem Film CASABLANCA herausgeschnitten wurden.

      Da das Angebot an Medientechnologien und -nutzungsformen in aller Regel sehr vielfältig ist und die privaten Mediennutzer daraus eine Auswahl treffen, ist es sinnvoll, die Dynamik von Angebot und Nachfrage zu analysieren. Eine Vielzahl angebotener Filme bilden Angebotsmuster, etwa hinsichtlich ihrer nationalen Herkunft oder ihrer Genres. Filme, die vom Publikum favorisiert werden, bilden miteinander Erfolgsmuster in dem Sinn, dass bestimmte Filmtypen stärker als andere vertreten sind. Um die Filmvorlieben diverser Kinopublika historisch zu untersuchen, gibt es eine Fülle von bisher nicht ausgeschöpften Möglichkeiten. Das wichtigste – aber nicht das einzige – Forschungsinstrument, um Aussagen über die Präferenzen bestimmter Kinopublika machen zu können, ist die Filmerfolgsrangliste – also eine Liste, die die Filme nach ihrem Erfolg bei einem bestimmten Publikum in einem bestimmten Zeitraum (also etwa einer Spielzeit oder einem Kalenderjahr in einem bestimmten Land oder einer Region) hierarchisiert. Die auf dieser Basis beruhenden Erfolgsranglisten zeigen, wie das Publikum die große Zahl der angebotenen Filme tatsächlich genutzt hat. Da Anbieter keineswegs nur das anbieten, was das Publikum favorisiert, unterscheiden sich die Erfolgs- von den Angebotsmustern mitunter erheblich. Die Differenz zwischen beiden Mustern kann für ein Verständnis der Medienkultur sehr aufschlussreich sein.

      Die Fallstudien dieses Buchs, die mit einem empirisch-vergleichenden Begriff von Popularität arbeiten, nutzen Daten über den Erfolg von Filmen beim Publikum ebenso wie Daten über das Angebot, auf deren Basis sich der Erfolg erst interpretieren lässt. Kapitel 11 zeigt an einem Beispiel aus den 1920er- und 1930-Jahren, wie Filmproduzenten sich auf die Produktion eines bestimmten Filmtyps spezialisiert haben. Kapitel 8 macht deutlich, wie die europäischen[49] Kinopublika in den 1930er-Jahren die Fülle der angebotenen Filme hoch selektiv genutzt haben.

      Die medialen Produkte, die der Mediennutzer selektiert, können sich in unterschiedlicher Art und Weise aufeinander beziehen. Als intermedial bezeichnet man die ästhetische Beziehung zwischen zwei Produkten unterschiedlicher Medien, als intertextuell die Beziehung zwischen zwei Produkten des gleichen Mediums. Fälle von Intermedialität liegen etwa vor, wenn sich frühe Filme der Ästhetik des magischen Illusionstheaters bedienen oder wenn sich die TAGESSCHAU des Deutschen Fernsehens in den 1950er-Jahren am Modell der Kino-Wochenschau orientiert. Wenn sich dagegen z. B. die frühen Filme von Roland Emmerich am US-amerikanischen Science-Fiction-Film orientieren oder wenn mit CASINO ROYALE (GB/USA 1967) eine filmische Parodie auf die James-Bond-Filme realisiert wird, dann sind dies Beispiele für Intertextualität.

      Beide begrifflichen Konzepte stehen in der Tradition der Literaturwissenschaft, die sich im Wesentlichen für Texte und ihre Beziehung zueinander interessiert. Der Autor dieses Buchs hat für ein erweitertes Konzept der Intermedialität plädiert, das über die Texte hinaus auch die Kontexte einbezieht (wie Aufführungs- und Programmformen, Produktions- und Vertriebsformen).20

      Kapitel 6 und 15 geben Beispiele für eine intermediale Analyse im hier definierten Sinn. Kapitel 6 zeigt u. a., dass sich das Kino der Jahrmärkte sowohl hinsichtlich der Filminhalte als auch hinsichtlich der Programmform an der erfolgreichen Unterhaltungsinstitution des Varietés orientierte. Kapitel 15 macht anschaulich, dass die TAGESSSCHAU des Deutschen Fernsehens ihr Modell in den 1950er-Jahren an der Kino-Wochenschau fand, während sich das Gesamtprogramm des Fernsehens an dem des Kinos orientierte.

      Sinngemäß lässt sich das Konzept der Intertextualität auch auf Kontexte erweitern – man müsste dann sinnvollerweise einen anderen Begriff prägen, wie zum Beispiel den der Intramedialität (der teilweise auch synonym mit Intertextualität verwendet wird), der nicht nur die Beziehungen auf Text-, sondern auch auf Kontextebene erfasst. Ein Beispiel dafür ist etwa, dass sich die ersten ortsfesten Kinos hinsichtlich ihrer gezeigten Filme an den Programmangeboten der Jahrmarktkinos orientiert haben, worauf Kapitel 7 eingeht.

      Zur Wahrnehmung des Medienwandels

      Die Analyse des Medienwandels wird nur dann gelingen, wenn wir in die Analyse nicht nur eine Vielzahl von Fakten einbeziehen, sondern darüber hinaus auch bedenken,[50] dass unsere Wahrnehmung der Fakten die Art und Weise mitbestimmt, wie wir den Medienwandel beschreiben. Dies lässt sich klar daran zeigen, ob wir Mediengeschichte als evolutionären Prozess der kleinen Schritte oder als revolutionären Prozess in der Form von Umbrüchen begreifen. Mit dem Wort Umbruch wird allgemein eine plötzliche, radikale Veränderung eines bis dahin kontinuierlich verlaufenden Prozesses bezeichnet. Als Medienumbruch kann somit eine besondere Form des Medienwandels gelten, nämlich ein Wandel, der sich nicht evolutionär, sondern revolutionär vollzieht. Man kann den Begriff sowohl für die Struktur des Medienwandels als auch für seine Auswirkungen verwenden. Im ersten Fall geht man davon aus, dass sich die Etablierung neuer Medien als radikale Abkehr des Tradierten vollzieht. Verwendet man den Begriff zur Bezeichnung der Folgen des Medienwandels, dann behauptet man, seine kulturellen Auswirkungen seien so tief greifend, dass sich in der Folge der Etablierung neuer Medien die Kultur und die Gesellschaft radikal gewandelt haben.

      Vier Faktoren spielen dabei eine Rolle, wie Forscher einen Medienwandel wahrnehmen:

      Ob ein Medienwandel als Medienumbruch wahrgenommen wird, hängt erstens vom kulturgeografischen Bezugsrahmen ab, von dem aus der Medienwandel beurteilt wird. Die Wahrnehmung ändert sich je nachdem, ob die Weltkultur, die Kultur eines Landes oder die einer sozialen Schicht als Bezugsrahmen


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