Medienwandel. Joseph Garncarz

Medienwandel - Joseph Garncarz


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nur eine neue Folge einer Serie sehen zu können, ermöglichen VoD bzw. DVD/Blu-Ray neue Sehgewohnheiten, wobei die ganze Staffel einer Serie in einer kurzen Zeitspanne konsumiert werden kann.

      Neben dem Begriff Programmmedien ist der Begriff Leitmedien sinnvoll, da er darauf abzielt, die Dynamik mehrerer Medien in ihrer Interaktion zu beschreiben. [31]Als Leitmedien gelten Medien, die Standards setzen, sodass sich andere Medien an ihnen orientieren. Das Deutsche Fernsehen der 1950er-Jahre orientierte sein Programm an dem des Kinos: Das Fernsehprogramm wurde mit der TAGESSCHAU um 20 Uhr eröffnet. Es schloss sich etwa eine Dokumentation wie EIN PLATZ FÜR TIERE an, beendet wurde der Abend mit einer Hauptattraktion wie einer Spielshow. Wenn eine der heutigen führenden Tages- oder Wochenzeitungen wie die Süddeutsche Zeitung oder Die Zeit – um ein weiteres Beispiel zu nennen – ein literarisches Werk rezensieren, ziehen häufig andere Zeitungen nach, die damit diesen Zeitungen eine Meinungsführerschaft und damit eine Funktion als Leitmedium zuerkennen. Mit dem Begriff Leitmedien wird nicht nur derart die Dynamik von Medienfigurationen beschrieben, sondern darüber hinaus auch die Wirkungsmacht von Medien auf die Gesellschaft. Ein Leitmedium ist in dieser Hinsicht etwa eine bestimmte Wochenzeitschrift wie Der Spiegel, weil sie meinungsbildend ist.16

      Kapitel 15 gibt ein anschauliches Beispiel dafür, wie sich die Mediennutzungsform einer neuen Medieninstitution an der erfolgreichen Mediennutzungsform einer bereits etablierten Medieninstitution orientiert. Die TAGESSCHAU des Deutschen Fernsehens fand ihr Vorbild in den 1950er-Jahren zunächst in der Wochenschau der Kinos. Wie diese bot sie eine unterhaltende Bilderschau ohne den Anspruch, Nachrichten zu vermitteln. Als in den 1960er-Jahren der Anspruch erhoben wurde, die TAGESSCHAU solle Nachrichten vermitteln, wurden die Hörfunknachrichten zu einem neuen Modell für diese Sendung.

      Welche Rolle spielen die Grundfunktionen der Medien heute? Kommunikation und Orientierung via Wissenserwerb sind überlebenswichtige Funktionen von Gesellschaften, Unterhaltung ist dagegen eher ein Luxus. Stellen Sie sich vor, dass in unserer Gesellschaft von einem auf den anderen Tag die mediale Kommunikation jedweder Art unmöglich wird. Handwerk, Einzelhandel, Warenproduktion und -distribution – alles käme zum Erliegen. Und stellen Sie sich vor, dass es keine mediale Wissensaneignung mehr gäbe. Auch hier käme die Gesellschaft zum Erliegen – nicht so schnell wie bei der Unterbindung jedweder Kommunikation, aber doch zumindest in der folgenden Generation, da Wissen immer wieder neu erlernt werden muss. Bei Unterhaltung verhält es sich anders: Die Gesellschaft würde ärmer; Menschen langweilten sich, hätten weniger Freude am Leben, das Klima zwischen ihnen würde vielleicht schroffer und sicherlich bräche die Unterhaltungsindustrie ein und es käme damit zu einer wirtschaftlichen Krise. Die Gesellschaft selbst wäre aber kaum in ihrem Überleben gefährdet. Auch wenn mediale Unterhaltung also ohne Zweifel wichtige Funktionen für eine Gesellschaft erfüllt, so ist sie doch im Unterschied zu medialer Kommunikation und[32] zum medialen Wissenserwerb nicht in vergleichbarem Maß überlebenswichtig. Da sie eher ein Luxus ist, wächst die Unterhaltungsbranche in Gesellschaften umso stärker, je größer ihr Wohlstand ist – je reicher die Bevölkerung ist und je mehr Freizeit sie hat.

      [33]2. Was bedeutet Wandel?

      Grundsätzlich lässt sich eine Geschichte der Medien oder eine Geschichte der Diskurse über die Medien schreiben. Eine Geschichte der Medien handelt von der Erfindung, Etablierung, Verbreitung und Differenzierung neuer Medien. Sie stellt die Etablierung von Medieninstitutionen und neuen Nutzungsformen dar, sie analysiert die Rolle von Marketingmaßnahmen bei der Verwertung und erörtert die Rolle des Publikums bei der Durchsetzung des jeweils neuen Mediums.

      Technische Verbreitungsmittel von Informationen zwischen Menschen wandeln sich ebenso wie ihre Nutzungsformen sowie die Institutionen, die sie verwenden bzw. hervorbringen. So hat sich mit der Verbreitung des Mobiltelefons die Kommunikationstechnologie grundlegend verändert, die Etablierung der Nachrichtensendung im Fernsehen hat zu einer grundlegenden Neuerung der Fernsehformate geführt, und die Etablierung der privaten Fernsehsender hat die Medienlandschaft aufgemischt.

      Die Geschichte der Medientechnologien, -nutzungsformen und -institutionen ist vielfach miteinander verknüpft. Die Medienhistoriografie interessiert sich jedoch nicht für Medientechnologien an sich, sondern nur, soweit sie für kommunikative, bildende oder unterhaltende Zwecke genutzt werden. Eine Medientechnologie wird also erst dann für die Medienhistoriografie interessant, wenn sie von Institutionen für die Informationsübermittlung genutzt wird und diese zu diesem Zweck bestimmte Nutzungsformen ausbilden. Geht man von den drei genannten Grundfunktionen der Medien aus, dann ist Mediengeschichte Bestandteil einer Kommunikations-, Wissens- und Unterhaltungsgeschichte.

      Eine Geschichte der Mediendiskurse zeigt dagegen, wie über die neuen Medien gesprochen bzw. geschrieben wurde. Wie werden neue Medien wie der Film in älteren wie der Presse repräsentiert? Und welche Rolle spielten Diskurse für die Etablierung neuer Medien? Welche Rolle spielte etwa der Diskurs der Kinoreformer im deutschsprachigen Bereich, der das Kino um 1910 äußerst kritisch begleitet hat, für die Etablierung des Films als Kino? In der Regel wird die Etablierung neuer Medien von einem kulturkritischen Diskurs begleitet – so war es bei der Durchsetzung des Films in den 1910er-Jahren, der Etablierung des Fernsehens in den 1950er-Jahren oder der Durchsetzung des Internets in den 1990er-Jahren.

      Alle Fallstudien im zweiten Teil dieses Buchs beziehen sich auf die Medien selbst und beziehen den Diskurs über die Medien, wenn überhaupt, nur mittelbar ein (wie zum Beispiel Kapitel 9 und 14).

      [34]Der Begriff des Wandels

      Als Geschichte wird oft bezeichnet, was endgültig vorbei ist (»Der analoge Fernsehempfang wird bald Geschichte sein.«) oder was als bedeutend gilt (»Barack Obama hat als erster schwarzer Präsident der USA Geschichte geschrieben.«). In diesem Buch werden vergangene Zeitverläufe, mit denen wir uns beschäftigen, um uns heute besser orientieren zu können, mit dem Begriff Geschichte bzw. dem des Wandels bezeichnet.

      Während Historiker den Begriff der Geschichte verwenden, bevorzugen Sozialwissenschaftler den Begriff des Wandels. Mit dem Begriff Geschichte wird stärker die Beschreibung einer Veränderung erfasst, während mit dem Begriff des Wandels in einem größeren Maß die Erklärung in den Blick gerät. Wenn ich den Begriff des Wandels bevorzuge, so gerade deshalb, weil es mir darum geht, eine Veränderung nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu erklären.

      Die Beschäftigung mit historischen Prozessen findet immer von heute aus statt, auch wenn man einen Zeitverlauf in chronologischer Reihenfolge nachvollzieht. Die Historiografie artikuliert dabei ein bestimmtes Interesse an der Vergangenheit und öffnet damit den Blick zurück in einer stark gerichteten Form. Nicht alles, was war, gerät in das Blickfeld, sondern nur das, was heute interessiert. Dies bedeutet nicht, dass Geschichtsschreibung nur Ausdruck unterschiedlicher Interessen ist. Es bedeutet nur, dass die Auswahl des Untersuchungsgegenstands interessengeleitet ist. Die Ergebnisse der Forschung können und sollten frei von Bewertungen der Forscher sein.

      Historische Veränderungen können sich über ganz unterschiedliche Zeiträume erstrecken. Die Etablierung der Institution Kino hat sich zum Beispiel innerhalb von weniger als 20 Jahren vollzogen, während der Prozess der kulturellen Differenzierung des Mediums Film seit Ende des 19. Jahrhunderts bis heute nicht abgeschlossen ist.

      Zeitabläufe haben weder einen Anfang noch ein Ende. Für die Erforschung des Wandels ist es allerdings grundsätzlich sinnvoll, Eckdaten zu setzen. Wird die Erfindung des Films auf das Jahr 1895 datiert, so gibt es bisher [2015] kein Enddatum, da es immer noch Filme gibt. Die Festsetzung des Jahres 1895 als »Geburtsjahr« des Films ist jedoch – wie ich in Kapitel 5 zeigen werde – durchaus problematisch und kann mit guten Gründen bezweifelt werden. Auch wenn Ereignisse wie die Erfindung des Films datiert werden können, so sind sie nie voraussetzungslos. Bereits vor 1895 gab es eine Tradition des Bewegtbildes, von utopischen bzw. dystopischen Visionen, die textlich und bildlich fixiert wurden, über mit der Laterna Magica projizierte Bilder bis hin zu den von Thomas Alva Edison Anfang der 1890er-Jahre aufgenommenen Filmen, die in Guckkästen, den Kinetoscopen, vorgeführt wurden.

      [35]Strukturen und Richtung des Wandels

      Es ist eine zentrale Aufgabe jeder historisch orientierten Wissenschaft, die Strukturen eines Wandlungsprozesses ebenso zu analysieren wie


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