Medienwandel. Joseph Garncarz
vielmehr die Mediennutzungsformen bzw. -institutionen assoziiert werden. Ist vom Film die Rede, denken wir heute in erster Linie an den abendfüllenden Spielfilm, dessen Entstehung und Etablierung in Kapitel 8 behandelt wird, und kaum mehr an die Medientechnologie, ohne die diese Nutzungsform nicht hätte entstehen können.
Harry Pross differenziert Medien danach, ob sich nur der Sender oder auch der Empfänger einer Technologie bedient:
»Wir nennen Sekundärmedien solche Kommunikationsmittel, die eine Botschaft zum Empfänger transportieren, ohne dass der ein Gerät benötigt, um die Bedeutung aufnehmen zu können, also Bild, Schrift, Druck, Graphik, Fotographie, auch in ihren Erscheinungen als Brief, Flugschrift, Buch, Zeitschrift, Zeitung – alle jene Medien also, die nach einem Gerät, der Druckerpresse, als Presse im weitesten Sinn bezeichnet werden.«8
Als tertiäre Medien fasst Pross Telegrafie, Film, Radio und Fernsehen zusammen:
»Eine dritte Gruppe, bei deren Gebrauch sowohl Sender wie Empfänger Geräte benötigen, beginnt mit der elektrischen Telegraphie und umfasst die elektronischen Kommunikationsmittel. Sie heißen tertiäre Medien.«9
Als primäre Medien, bei denen keiner der Kommunikationspartner technische Hilfsmittel benutzt (z. B. ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht), bezeichnet Pross alle »Mittel des menschlichen Elementarkontaktes« wie Sprache, Weinen und Lachen. Primäre Medien sind im oben definierten Sinn jedoch keine Medien, da sie keiner Technologie bedürfen.
Der Begriff der Medientechnologie kann auch in anderer Hinsicht weiter ausdifferenziert werden: Alle Medientechnologien verbreiten Informationen, nur einige können sie jedoch auch speichern oder verarbeiten. Technische Verbreitungsmittel von Informationen lassen sich hinsichtlich der Frage differenzieren, ob sie nicht nur der Verbreitung von Informationen dienen, sondern darüber hinaus auch ihrer Speicherung bzw. Verarbeitung. Mit dem Computer lassen sich Informationen, die über das Internet übermittelt werden, auch verarbeiten, indem man mit den übermittelten Daten etwa eine Tabellenkalkulation durchführt. Mit Film kann man Bilder speichern, die Übertragungstechnik Fernsehen speichert dagegen keine Bilder – hier sind zusätzliche Technologien zur Aufzeichnung erforderlich wie der Film bzw. der Videorekorder, der erst nach der Etablierung des Fernsehens als Institution entwickelt wurde. Speicherung und Verarbeitung sind[19] also keine notwendigen Bedingungen, um eine Technologie als Medium zu bezeichnen.
Folgt man der oben gegebenen Definition des Begriffs Medien, sind nicht alle Technologien auch Medientechnologien. Die Brille, das Fernglas, das Nachtsichtoder Hörgerät zum Beispiel, die in Teilen der Medienwissenschaften als Medien verstanden werden, sind keine Medientechnologien, da mit ihnen keine Informationen zwischen Menschen vermittelt werden. Sie lassen sich besser als technische Hilfsmittel der Wahrnehmung begreifen, die die eigene Sinneswahrnehmung optimieren. Wer kurzsichtig ist, braucht eine Brille, um Dinge, die nicht im unmittelbaren Nahbereich liegen, klar sehen zu können. Wer gut sieht, aber auch nachts im Dunkeln den Überblick bewahren muss (wie zum Beispiel die Polizei oder Naturforscher), bedient sich eines Nachtsichtgeräts, um die visuelle Wahrnehmung zu verbessern.
Auch Sprache und Schrift dienen dazu, Informationen zwischen Menschen zu vermitteln. Sie sind jedoch im definierten Sinn deshalb keine Medien, weil sie für die Übermittlung von Informationen nicht auf eine Technologie angewiesen sind. Sprache und Schrift sind symbolische Repräsentationssysteme;10 Sprache arbeitet mit lautlichen Symbolen, Schrift mit visuellen. Wie Medien sind Sprache und Schrift menschengemacht und zudem gesellschaftlich-kulturell differenziert. Es gibt eine große Sprachenvielfalt und eine deutlich geringere Vielfalt bei den Schriftsymbolen. Auch wenn Sprache und Schrift im hier definierten Sinn keine Medien sind, so ist eine Sprach-, Lese- und Schreibkompetenz oft eine entscheidende Voraussetzung medialer Kommunikation. Man muss lesen können, um ein Buch zu verstehen, und man muss die Sprache verstehen, in der es geschrieben ist, um die Botschaft entschlüsseln zu können. Man muss die Sprache(n), die der Adressat versteht, beherrschen, damit die E-Mail, die man schreibt, auch verstanden wird.
Als Medien werden in diesem Buch nicht nur technische Verbreitungsmittel von Informationen von Mensch zu Mensch verstanden, sondern auch deren Nutzungsformen sowie die Institutionen, die sie verwenden bzw. hervorbringen. Mediennutzungsformen sind kulturell klar definierte Verwendungsweisen von Medientechnologien. Nutzungsformen der Medientechnologie Druck sind zum Beispiel die Zeitung und die Zeitschrift, wohingegen der Spielfilm eine Nutzungsform der Medientechnologie Film und die Nachrichtensendung des Hörfunks eine Nutzungsform der Medientechnologie Rundfunk darstellt.
Man kann Nutzungsformen unterschiedlicher Ordnung unterscheiden. Das Buch ist eine Nutzungsform der Technologie Druck, Roman und Sachbuch wiederum unterschiedliche Formen des Buchs. Eine Nutzungsform der Technologie Film ist der Spielfilm, bei dem sich wiederum verschiedene Genres wie zum Beispiel Komödien, Thriller oder Kriminalfilme unterscheiden lassen. Diese lassen sich wiederum in verschiedene Subgenres differenzieren, Komödien etwa in Slapstick,[20] Screwball-Komödien und Verwechslungskomödien. Welche Nutzungsformen sich herausbilden, ist von der Nachfrage der Mediennutzer abhängig und damit kulturell und zeitlich differenziert. So bildet sich das Genre der Screwball-Komödie mit Filmen wie IT HAPPENED ONE NIGHT (1934) und ARSENIC AND OLD LACE (1944) in den Vereinigten Staaten von Mitte der 1930er- bis Mitte der 1940er-Jahre aus.
Damit eine Medientechnologie unterschiedliche Funktionen wie zum Beispiel Kommunikation oder Unterhaltung übernehmen kann, muss sie institutionalisiert werden. Als Medieninstitutionen werden gesellschaftliche Einrichtungen wie das Kino, das Fernsehen oder das Internet bezeichnet, die Verwendungsweisen der Medientechnologie wie Nutzungs- und Programmformen definieren. Indem die Institutionen die Verwendungsweisen der Medientechnologie definieren, lenken sie das Verhalten der Medienproduzenten und -nutzer. Sie legen ihren Handlungsrahmen fest und damit ihre Möglichkeiten, mit den Medientechnologien bzw. -nutzungsformen umzugehen.
Medieninstitutionen bringen Nutzungsformen hervor und verwenden diese aus unterschiedlichen Gründen, also z. B. um Geld zu verdienen, Menschen zu unterhalten und zu informieren oder um ihnen die Möglichkeit zu geben, sich mit anderen auszutauschen. Indem sie Medientechnologien und -nutzungsformen in einer bestimmten Art verwenden, entstehen klar konturierte soziale und kulturelle Profile der Institutionen. Die Zeitung etabliert sich als Nachrichtenmedium, der Film als Unterhaltungsmedium und das World Wide Web als multimedialer Dienst (mit Text-, Bild- und Tondokumenten).
Wie man Nutzungsformen unterschiedlicher Ordnung unterscheiden kann, so lassen sich auch Institutionen unterschiedlicher Ordnung differenzieren – wobei man formell geregelte Institutionen auch als Organisationen bezeichnet. Kann man das Fernsehen als Medieninstitution bezeichnen, so lassen sich wiederum private von öffentlich-rechtlichen Organisationen unterscheiden. Zu den öffentlich-rechtlichen Sendern zählen u. a. ARD und ZDF, zu den privaten RTL und Sat1. Ist das World Wide Web eine Institution, so lassen sich Organisationen identifizieren wie Alphabet Inc. oder die Wikimedia Foundation, die das Netz nutzen, um die Suchmaschine Google bzw. die Wikipedia zu betreiben.
Was eine Medieninstitution ausmacht, kann definiert werden, wobei hier das Kino als Beispiel dienen mag. Als Kino bezeichnet man die Projektion von Filmen vor einem Publikum, wenn nichts als oder zumindest ganz überwiegend Filme gezeigt werden. Kinos sind durch eine große historische Vielfalt gekennzeichnet: Ob mobil oder ortsfest, ob die Filme unter freiem Himmel oder in einem geschlossenen Raum vorgeführt werden, ob es sich um eine private oder öffentlich zugängliche Vorführung handelt, ob die Öffentlichkeit etwa nach Maßgabe des Jugendschutzes eingeschränkt wird, ob ein Kurzfilmprogramm gezeigt[21] wird oder ein abendfüllender Spielfilm, ob Eintrittsgeld erhoben wird, welches Publikum adressiert und angezogen wird – alle diese Aspekte können variieren und damit zur Unterscheidung unterschiedlicher Kinotypen dienen. Der Kinotyp, der sich kommerziell durchgesetzt hat, ist ein geschlossener Raum, in dem sich Menschen zu einer Öffentlichkeit versammeln, die sich in aller Regel nicht kennen und aus dem gemeinsamen Schauen einen Gewinn ziehen. In einem weiteren Sinn macht die Institution Kino nicht nur die Projektion von Filmen vor einem Publikum aus, sondern auch die Art, wie die Filme hergestellt, finanziert, vertrieben und vermarktet werden.
Kapitel 6, 7 und 8 zeigen, wie die Institution Kino (im definierten erweiterten Sinn) in Deutschland etabliert wurde. Kapitel 16 stellt dar, wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg grundlegend