Die Rhetorik-Matrix. Georg Nagler
Erfahrungen“ zum Schluss: „alles schon mal gehört“, „das ist nicht neu“, „das sagt ja jeder“. Das bewusst arbeitende (und bekanntermaßen eher faule) System 2 nutzt dieses Urteil zum Abschalten mit der vernichtenden Begründung: Der ist es nicht wert, dass man ihm zuhört. Konsequenz: abwesende Gesichter, verstohlene Blicke zum Smartphone oder zur Uhr, zufallende Augen – und zum Schluss freundlicher Applaus der vernichtenden Art …
Ganz fatal wirkt sich das bei Redekandidaten aus, die eigentlich auf ein „kreatives Redeerlebnis“ angewiesen wären, weil mit der Rede etwa ein beruflicher Aufstieg verbunden wäre, zum Beispiel bei der Präsentation eines Papers auf einem wissenschaftlichen Kongress. Diese karriererelevante Kreativität benötigt eben in der Regel auch Zeit. Wer sich diese Zeit nicht nimmt und unvorbereitet in einen Vortrag stolpert, wird dann glatt doppelt bestraft: Die gelungene Pointe, das einprägsame Bild und das unvergessliche Zitat waren wieder einmal in der Kürze der „Panikvorbereitung“ nicht auffindbar, und System 1 und 2 der Zuhörer (in diesem Fall erfahrungsgemäß Konkurrenten und potenzielle Mitglieder der nächsten Berufungskommission) kommen zum Urteil: „Langweiler“ – dieses Urteil ist kollektiv! Der Redner weiß um dieses Urteil auch – zumindest uneingestanden auf der unbewussten Ebene. Diese Frustrationserfahrung motiviert in den meisten Fällen nicht dazu, es beim nächsten Mal besser zu machen, sondern verstärkt eher die Redeaversion des Redners, die sich so zu einer waschechten Logosthenie auswachsen kann (s. dazu unten Kapitel X.).
2. Die kluge Vorbereitung – sammeln, prüfen und sortieren
Die Pädagogik kennt seit Jahrhunderten einen auch für die Vorbereitung von Vorträgen geltenden Erfahrungssatz: Einmal selbst geschrieben ist mehr als siebenmal gesprochen oder gelesen. Dieser Wert kann sicher nicht exakt verifiziert werden (erfahrungsgemäß ist er wohl eher noch größer). In jedem Fall sprechen für die schriftliche Ausarbeitung der wesentlichen Passagen einer Rede im Voraus einige Vorteile. So gibt es für die Vorbereitung einige Faustregeln:
Nehmen Sie sich die Zeit für eine sorgfältige Gliederung (s.u. Kapitel V.).
Denken Sie in Richtung Ihres Redeziels die Argumente und auch die Gegenargumente durch. Bedenken Sie dabei: Nichts ist nach dem Gesetz der Dialektik alternativlos – es gibt immer Gegenargumente!
Ein prominentes Beispiel für die Missachtung dieser Regel ist Angela Merkel. Schon bald nach ihrer Wahl, insbesondere aber in der Weltwirtschaftskrise nach der Lehman-Pleite, der Eurokrise mit der Griechenlandpleite und auch später in der Flüchtlingskrise verwendete sie gerne die Argumentation, ihr Handeln sei „alternativlos“ – und zwar mit derartiger Penetranz, dass eine frustrierte Öffentlichkeit das Wort „alternativlos“ sogar zum Unwort des Jahres 2010 wählte. Heike Göbel erklärt das in ihrem Kommentar in der FAZ-Netausgabe vom 18. Januar 2011 so: „Mit dem Etikett ‚alternativlos‘ stellt sich Politik als ohnmächtiges Vollzugsorgan eines von höherer Macht bestimmten Schicksals hin. Das schafft Verdruss beim Wähler. Warum soll er überhaupt noch seine Stimme abgeben, wenn Regierungshandeln so alternativlos ist, wie behauptet?“ Und die Jury des „Unwort des Jahres“ ergänzt: „Das Wort suggeriert sachlich unangemessen, dass es bei einem Entscheidungsprozess von vornherein keine Alternativen und damit auch keine Notwendigkeit der Diskussion und Argumentation gebe. Behauptungen dieser Art sind 2010 zu oft aufgestellt worden, sie drohen, die Politik-Verdrossenheit in der Bevölkerung zu verstärken.“ (www.unwortdesjahres.net)
Nutzen Sie auf der Suche nach zusätzlichen Argumenten auch die gängigen Kreativtechniken, die Ihnen persönlich weiterhelfen: Ob Brainstorming, Mind-Mapping, „Fundgrubensuche“ oder was auch immer – der Zuhörer ist für jedes bislang ungehörte Zitat oder ein weiterführendes und erhellendes Argument dankbar und spürt die Sorgfalt, mit der sich der Redner auf ihn vorbereitet hat.
Hier hat der Redner heutzutage einen enormen Vorteil: 2500 Jahre lang musste er mühsam Materialien in Bibliotheken, eigenen Zettelkästen und seinem Gedächtnis zusammensuchen – jetzt gibt es die Internet-Suchmaschinen. Die bekanntesten zu nennen (Google, Yahoo, Bing), hieße Eulen nach Athen zu tragen (in diesem Satz sind übrigens gleich zwei rhetorische Kunstgriffe verborgen – zur Auflösung siehe unten die Stichwörter Präteritio und Metapher). Mit alternativen Suchmaschinen wie DuckDuckGo, Qwant, IxQuix und Blekko können Sie sich auch spurenlos auf die Suche machen, ohne Ihre Daten quasi kostenlos den Suchmaschinenstaubsaugern zu überlassen. Aber denken Sie bitte daran: Im Fall einer Debatte oder einer Diskussion wird Ihr Redegegner/-partner mit Sicherheit auch im Internet recherchiert haben. Suchen Sie daher im Zweifel auch jenseits der Seite 1, die Ihnen Google anbietet – sonst könnten Sie ins Staunen geraten, dass Ihr Gegner schneller und besser vorbereitet war als Sie! Und vergessen Sie dabei nicht, dass kommerzielle Suchmaschinen dem Vernehmen nach Suchergebnisse auch gegen Entgelt vorpositioniert haben könnten.
Der dann (hoffentlich) angehäufte Wust an Zetteln, Ideen und Bildern kann aber nicht planlos verwertet werden. Es gibt bewährte Muster, nach denen Sie Ihre Ideen strukturieren können, bevor sie dann mit Argumenten und der Gliederung zur Rede umgearbeitet werden. Diese Strukturprinzipien haben einen weiteren großen Vorteil: Sie zeigen Ihnen, wo Sie möglicherweise noch inhaltliche Defizite und Schwächen haben, und dienen damit Ihrem gedanklichen Controlling.
AIDA – die Werbung macht es vor!
Schon vor über 100 Jahren hat der Amerikaner Elmo Lewis das Grundprinzip einer universellen Marketingstrategie entwickelt – und da der Redner seine Ideen ja auch an den Kunden, nämlich an sein Publikum bringen will, ist dieser Methodentransfer sicher legitim. Dem AIDA-Modell nach gibt es vier Stufen oder Prozessabschnitte, in denen ein Kunde/Hörer letztlich vom unentschlossenen Einstieg zur Kaufentscheidung/Überzeugung für etwas geführt werden soll. Sie lauten
Attention – Aufmerksamkeit erwecken
Interest – Interesse des Kunden erregen
Desire – den Wunsch nach dem Produkt erzeugen und verstärken
Action – die gewünschte Aktion/Reaktion auslösen: Kauf des Produktes oder Applaus und Umsetzung der präsentierten These
Auch der Redner sollte seine Ideen in die unterschiedlichen Prozessphasen einordnen. Dies gibt ihm zum einen die Sicherheit, quasi wie im Direktmarketing, sein Produkt rhetorisch verkaufen zu können. Zum andern zeigt ihm das Ergebnis seiner Stoffsortierung, wo möglicherweise noch Defizite bestehen. Hier kann er dann gezielt nacharbeiten und so eine vollständige Stoff-Basis für seine Rede generieren.
Die 6-Schritt-Methode
Diese Strukturierungsmethoden wurden in der Folgezeit entwickelt, um den Redner noch gezielter an weitere Aspekte/Notwendigkeiten in seiner Rede zu erinnern (vgl. Wieke, Handbuch Rhetorik, S. 96 – „5-Schritt-Methode“; Mohl, Der Zauberlehrling, S. 209f. – „Six-Step-Methode“):
1 Aufmerksamkeit/Interesse wecken
2 das Problem benennen
3 Argumente für die vorgeschlagene Problemlösung
4 Argumente gegen die vorgeschlagene Problemlösung
5 Beispiele/Geschichten/Analogien zur Problembehandlung
6 die Lösung formulieren und an sie appellieren
Beachten Sie: Mit dieser Methode haben Sie noch keine Gliederung erarbeitet – es geht nur darum, möglichst optimal eine Stoffsammlung zu gestalten. Allerdings haben Sie am Ende der Stoffsammlung mit dieser Methode schon ein ziemlich gutes Gliederungsgerüst aufgebaut.
Die Journalisten-Recherche: Die 7 W-Fragen
In vielen Fällen ist die Recherche-Arbeit eines Journalisten vergleichbar mit der Stoffsammlung eines Redners: Am Ende muss ein guter Text stehen, der die jeweiligen Anforderungen erfüllt. Hierfür haben die Journalisten seit langem ein ziemlich gutes Frageschema erarbeitet, das auf mindestens 6 W-Fragen beruht; aus meiner Sicht