Die Rhetorik-Matrix. Georg Nagler
und der Kommunikationspsychologie auf ihre Relevanz für die Rhetorik hin überprüft. Sie formuliert daraus ein methodisches Instrumentarium, mit dem die wesentlichen Prozesse der Rhetorik ganzheitlich schlüssig erklärt und gezielt beeinflusst werden können. Grundlage der NLI ist ein neues Verständnis des rhetorischen Gestaltungs- und Wirkungsprozesses, der überwiegend durch das unbewusste System 1 des menschlichen Denkens gesteuert wird und in vielen Facetten das bewusste System 2 beeinflusst. Die NLI trägt der aus der Verhaltensökonomie übernommenen Erkenntnis Rechnung, dass der Mensch durchweg weniger als Econ rational-logisch versteht, denkt und spricht, sondern als fehleranfälliger Human auch seine rhetorischen Prozesse gestaltet. Dies gilt für alle Teilelemente der Rhetorik, insbesondere die Argumentation, die rhetorischen Instrumente und die nonverbalen Elemente einer überzeugenden Rede. Die NLI bietet für alle diese Bereiche Ansätze und Methoden, die auf das unbewusste System 1 und damit das Zentrum menschlicher Denk- und Entscheidungsprozesse zielen. Das entsprechende Instrumentarium entwickelt sie analog zur modernen Verhaltens- und Kommunikationspsychologie dynamisch und versteht sich daher als offenes Konzept, dessen theoretische und praktische Grundsätze im Anschluss an die Forschung kontinuierlich weiterentwickelt werden.
Derzeit lassen sich folgende wesentliche Erkenntnisse und Einzelelemente der NLI formulieren:
Die „neuronale Heuristik“ des menschlichen Denkens ist nicht „rational-linear“, sondern basiert auf elementaren Bewertungen des unbewussten Denkens mit „Berechnungen von Ähnlichkeit und Repräsentativität, Kausalattributen und Bewertungen der Verfügbarkeit von Assoziationen und Musterbeispielen“ (Kahneman, S. 120). Die ungeheure Vielfalt permanenter Berechnungen, Wertungen und Assoziationsabgleiche, die ständig im Gehirn stattfinden, führt daher im unterbewusst arbeitenden System 1 zu keinen rational abgeleiteten Antworten und Lösungen, die in Sprache und Rede umgewandelt werden. Die Methodik der Erkenntnis- und Entscheidungsfindung gleicht vielmehr einer mentalen Schrotflinte, mit der das Unterbewusstsein aus der Fülle seiner Erfahrungen die Register treffen will, von denen es eine Lösung für das Problem erwartet. Bei der weiteren Auswahl von Lösungsansätzen arbeitet das Unterbewusstsein dann gerne mit Analogien und der Ersetzung von komplizierten Fragen durch einfache (Kahneman, S. 125, S. 127, S. 133).
Das menschliche Denken lässt sich damit auch nicht hundertprozentig bewusst manipulieren. Der aktuell bekannte rhetorische Prozess der Produktion einer Rede ist aber durchaus einer gezielten Intervention zugänglich, die der neuronalen Denkheuristik eines Zuhörers „neuronale Leitplanken“ vorgeben oder „heuristische Angebote“ machen kann: Das können Lösungsbilder, Affekte, Gefühlsmomente, Wertmuster oder gedankliche Frames sein. Sie führen, in einer Rede bewusst eingesetzt, sofort dazu, dass die neuronale Heuristik des Zuhörers sich damit beschäftigt. Wenn diese dann Ähnlichkeiten, potenzielle Lösungen für die interne Heuristik-Maschine darin sieht, dann ist das Denken tatsächlich mit der Intervention in neue Bahnen geleitet; auf diesen können dann weitere Interventionen stattfinden.
Die nachweisliche Wirksamkeit solcher rhetorischer Einzelinterventionen zeigt sich beispielsweise an einem verblüffenden Verhalten in der wissenschaftlichen Praxis, das Kahneman ausführlich beschreibt (S. 142f.): Selbst erfahrene Wissenschaftler unternehmen weniger Anstrengungen bei der Erarbeitung wissenschaftlicher Erkenntnisse und ihrer Präsentation, als notwendig wäre, um ein wirklich valides Ergebnis aus ausreichend großen Stichproben zu erzielen. Im Gegenzug akzeptiert auch das Publikum bei der Präsentation fremder Ergebnisse die Aussagekraft unzureichender Stichproben genauso bereitwillig (Kahneman, S. 143; s. dazu auch Gigerenzer, S. 30ff.). Die neuronale Bereitschaft des unbewusst arbeitenden System 1 für voreilige Schlussfolgerungen ist unglaublich groß. Entscheidend ist allein die „Kohärenz der Geschichte“, die System 1 damit erschafft; die Menge und Qualität der Daten, auf denen die Geschichte beruht, ist weitgehend belanglos (Kahneman, S. 112 mit Quellen). System 1 wird damit zur „Maschine für voreilige Schlussfolgerungen“, es arbeitet nach dem Prinzip „What you see is all there is (WYSIATI)“ (Kahneman) – „nur was man gerade weiß, zählt“.
Daraus resultiert, dass auch das träge arbeitende bewusste System 2 permanent von vielen neuronalen Lösungsvorschlägen und intuitiven Überzeugungen des System 1 geflutet wird und diese in der Regel auch berücksichtigt. Erst wenn System 2 völlig in den bewusst-logischen Denkmodus schaltet, wird dies anders (und das geschieht viel zu selten, etwa auch während einer Rede, der man „mal eben so“ folgt). Das unbewusste System 1 beeinflusst daher auch eher sorgfältigere Denkabschnitte, da sein Input für das bewusste System 2 permanent läuft (Kahneman, S. 113).
Damit ist eine weitere Erkenntnis verbunden: Das neuronale System 1 des Zuhörers muss auf den Redner buchstäblich hören wollen – mit anderen Worten: Beeinflussung setzt eine emotionale und neuronale Bereitschaft des Zuhörers für die Aufnahme solcher Signale voraus. Je ablehnender das Auditorium einem Redner gegenübersteht, umso mehr schaltet System 1 darauf um, Lösungen zu finden, mit denen man das Angebot des Redners erfolgreich ablehnen oder sogar konterkarieren kann. Es ist daher eine wichtige Aufgabe eines erfolgreichen Redners, entweder die Bereitschaft zum Zuhören zu wecken oder alternativ für einen „Aufmerksamkeitsmodus“ zu sorgen, in dem System 1 des Zuhörers einfach mitläuft.
Es gibt eine Reihe von „Denktendenzen“ von System 1, die durch rhetorische Angebote und Formulierungen äußerst effektiv angetriggert werden können. Dazu gehören folgende Beispiele (vgl. Kahneman, S. 139ff.):
Die Neigung, schon den Ergebnissen kleiner Stichproben Glauben zu schenken
Die Neigung, eher zu glauben als zu zweifeln, mit dem Risiko, die Konsistenz und Kohärenz dessen, was man sieht, zu überzeichnen (Neigung zu voreiligen Schlussfolgerungen)
Die Neigung zu kausalem Denken. Das klingt zunächst ungefährlicher als es ist; es hat aber mindestens eine dramatische Gefahrenstelle: das Risiko von massiven Fehlern, wenn man rein zufällige Ergebnisse „buchstäblich so hinstellt, dass das kein Zufall sein kann“ (der „Hand Gottes-Bias“, vgl. Dobelli, S. 97ff.). Wenn der Einzelne daraus vermeintlich plausible Schlüsse zieht, dann ist System 1 wieder unbewusst einem Einflüsterer (oder Redner) auf den Leim gegangen.
Menschen sind eher dann empfänglich für Interventionen in das unbewusste System 1, wenn sie sich nicht in einem „Zustand erhöhter Vigilanz“ befinden, der etwa das kritikfähige System 2 aktivieren würde. Auch hier gibt es einige typische Situationen, die derartige Interventionen messbar erleichtern und die Aufnahmebereitschaft für gezielte Thesen des Redners signifikant erhöhen.
Beispiele:
Zuhörer sind gut gelaunt, weil sie gerade an eine glückliche Episode in ihrem Leben gedacht haben
Zuhörer sind noch mit einer vorausgegangenen anstrengenden Aufgabe befasst (etwa durch eine Fragestellung) und daher abgelenkt
Man gibt Zuhörern das Gefühl, Macht zu haben
Man präsentiert den Zuhörern eine Geschichte, die sie als kohärent und plausibel bewerten können und daraufhin zur vom Redner gewünschten Einstellung gelangen
Zuhörer werden daran erinnert, dass sie hohes Vertrauen in ihre Intuition haben können – oder aber:
Zuhörer werden daran erinnert, dass sie ihrer Intuition misstrauen sollten. Mit der Erkenntnis, dass ihre intuitiv vorhandenen Urteile auf struktureller Selbstüberschätzung und verzerrter Wahrnehmung beruhen, wächst die Bereitschaft, stattdessen dem Redner zu glauben.
Die neurolinguale Intervention sollte behutsam erfolgen und am besten so unterschwellig ausgeprägt sein, dass sie das bewusst arbeitende System 2 nicht aktiviert und zu Zweifeln anregt. Eine wesentliche Rolle für eine effiziente unterschwellige Intervention spielt die Körpersprache, auf die wir noch intensiv eingehen werden. Solange diese Körpersprache als authentisch empfunden wird, als glaubwürdiger „nonverbaler Begleitkontext“ einer Rede, ist System 1 nicht veranlasst, argwöhnisch oder skeptisch zu reagieren. Der Redner ist dann offensichtlich so, wie er redet