Die Rhetorik-Matrix. Georg Nagler
a) Standardsetting: Der Redner liest
„Es gibt nur eines, was teurer ist als Bildung – keine Bildung.“ (John F. Kennedy)
b) Intervention: Der Redner liest
„John F. Kennedy formulierte einmal zum Wert von Bildung: ‚Es gibt nur eines, was teurer ist als Bildung – keine Bildung.‘“
Indem Sie zuerst den Autor des Zitates nennen, führt dessen enorme Bekanntheit und Wertschätzung dazu, dass der rhetorische Effekt für das Bewusstsein messbar höher wird (sogenannter Mere-Exposure-Effekt, vgl. Kahneman, S. 89ff.).
Aber diese Effekte wirken auch umgekehrt – sind also reziprok in Richtung auf den Redner selbst: Wenn das bewusste System 2 beim Redner gezielt die Körpersprache positiv beeinflusst, also eine positive Stimmungslage etwa durch (situationsangemessenes) Lächeln oder gute Laune erzeugt, dann bewirkt dies auch beim Zuhörer eine positive Stimmungslage, die die kognitive Akzeptanz des Gesagten und die intuitive „Leichtigkeit“ begünstigt. Dasselbe gilt „selbstinduktiv“ aber auch für den Redner selbst; auch seine Stimmung verbessert sich spürbar (vgl. Kahneman, S. 81f., S. 84).
Vor diesem Hintergrund gewinnt das alte chinesische Sprichwort eine ungeahnte Aktualität: „Wer nicht lächeln kann, soll kein Geschäft aufmachen“ (Achtung: Autor vor Zitat – jetzt sind Sie mir mit dem eingesetzten Mere-Exposure-Effekt auf den Leim gegangen …).
Allerdings möchte ich hier eine Warnung anbringen: Die sogenannten Priming-Effekte führen zwar statistisch nachweisbar zu verändertem Verhalten. Das muss allerdings im Einzelfall nicht gelten. Wie so oft können wir uns daher nicht blind und gesetzmäßig auf automatisch ausgelöste Effekte verlassen. Deswegen seien Sie vorsichtig, wenn man Sie glauben machen will, man könne quasi automatisch „linguistisch programmieren“ oder manipulieren (vgl. Kahneman, S. 77ff.). Aber schon eine kleine Steigerung Ihrer positiven rhetorischen Effizienz mithilfe einiger bewusst eingesetzter einfacher Mittel kann, im Zusammenspiel mit anderen Faktoren, Ihre Überzeugungskraft als guter Redner deutlich verbessern.
b) Ankern
Die Wirkungsweise des Priming-Effektes führt zu einem weiteren Wirkfaktor, der gerade bei Verkaufsansprachen enorme Bedeutung hat und auch auf andere Redearten ausstrahlt. Es handelt sich um das Phänomen des sogenannten „Ankerns“, das wir sogleich an einem belegten Fall betrachten (vgl. auch Fälle nach den Vorgaben von Northcraft/Neale bei Kahneman, S. 157ff.; s.a. Kitz/Tusch, Psycho? Logisch!, S. 98ff.):
Ein Immobilienhändler, der ein Immobilienprojekt vorstellt, erwähnt scheinbar beiläufig ein vergleichbares Projekt und die dabei erzielten Konditionen – gezielt mit einem Preisaufschlag von ca. 15 Prozent. Verblüffenderweise wird in den darauf folgenden Verhandlungen dieser Wert eine Orientierungsfunktion haben, die geeignet ist, den angestrebten Preis nach oben in diese Richtung zu verhandeln. Auch hier erleben wir unmittelbar einen erstaunlichen Effekt: Das bewusste System 2 glaubt völlig rational die wertbildenden Faktoren für ein Immobiliengeschäft ohne fremde Einflüsse zu ermitteln. Und dennoch arbeitet es auf der Grundlage von Assoziationen und Informationen, die es unbewusst aus den im System 1 dazu laufenden Erkenntnisprozessen abruft. Da auf jeden Fall System 1 unbewusst den vom Verkäufer aufgerufenen Preis registriert und verarbeitet hat, orientiert sich das „Entscheidungskonvolut“, mit dem System 2 letztlich weiterverhandelt, tatsächlich in die Richtung des angesprochenen Preises – solange er plausibel klingt; ja manchmal selbst dann, wenn er völlig überhöht erscheint.
Ein anderer nachweislicher Fall, der unglaublich erscheint: Ein Jahrmarktverkäufer preist ein echtes Sonderangebot von Fertigsuppen in besten Worten an. Gleichzeitig erwähnt er, dass es nur maximal 12 Dosen pro Kunde gebe. Im identischen Vergleichsfall wird die Rationierung nicht erwähnt. Das Resultat ist bemerkenswert: Im ersten Fall hat der Verkäufer dem System 1 der Kunden einen dramatisch wirkenden Anker gesetzt: Rationierung. Daraus schließt das unbewusste System 1 auf eine gewisse Dringlichkeit. Konsequenz: Es werden doppelt so viele Dosen erworben wie ohne den Anker! Wissen Sie jetzt, was der Hinweis auslöst „Solange der Vorrat reicht“? (Kahneman, S. 160)
In vielen Experimenten hat die Psychologie die Wirkmächtigkeit derartiger Anker herausgearbeitet – die natürlich auch in Reden ohne weiteres Anwendung finden können. Hier ein zugegebenermaßen fieses Beispiel dafür (SZ vom 18.2.2016): „2015 hatten wir etwa 1 Million Zuwanderer. Es ist eine Tatsache, dass sich die Zahl der Straftaten durch Zuwanderer verdoppelt hat – auf über 200000 Straftaten“ – der hier gesetzte Zahlen-Anker bezieht sich auf die von der Presse völlig korrekt wiedergegebene Zahl der Straftaten aller Zuwanderer insgesamt, die das Bundeskriminalamt bekannt gab. Eine – natürlich nur stichprobenartige – Erhebung unter meinen Studierenden erbrachte als Ergebnis, dass diese weit überwiegend davon ausgingen, dass jeder fünfte neue Zuwanderer 2015 straffällig wurde – obwohl sich die Zahl der Straftaten auf die Gesamtzahl der Zuwanderer in Deutschland bezog: Die Kriminalitätsrate lag daher faktisch nicht einmal ein Viertel so hoch! Gleichwohl wirkte die angebotene Zahl als glaubwürdig dergestalt, dass niemand auch nur ansatzweise dieses Zahlenverhältnis in Frage stellen wollte.
Die Macht des unbewussten System 1 und seine massiven und permanenten Auswirkungen auf das bewusste System 2 werden dabei nach allgemeiner Meinung der Psychologie von den meisten Menschen völlig unterschätzt (vgl. Kahneman, S. 162). Dies ist eine wichtige Chance für eine effizienzorientierte Rhetorik, um hier erneut wirkungsvoll zu punkten. Wer Anker setzt, hat den Hörer an einem Haken, der unsichtbar ist und daher umso einflussreicher sein kann!
c) Framing
Die beiden Phänomene von Priming und Ankern zeigen, wie das unbewusste System 1 bereits durch wenige vorgegebene Informationen beeinflusst werden kann, die ein Redner bzw. Gesprächspartner bewusst vorgibt. Dies lässt den Schluss zu, dass auch ganze „Gedankenrahmen“, die von einem Redner vorgegeben werden, das Denken des Zuhörers, insbesondere über sein unbewusstes Assoziationssystem, aktiv beeinflussen können (s. dazu auch Bechmann, Sprachwandel – Bedeutungswandel, S. 270ff.). Das zentrale Ergebnis einer Studie dazu ist bei Elisabeth Wehling nachzulesen (vgl. Wehling, S. 76, nach Zhong/Liljenquist). Zwei Versuchsgruppen mussten einen Text Wort für Wort abschreiben:
Der Text der einen Gruppe handelte von einer guten Tat – jemand hatte einem Kollegen geholfen. Der Text der anderen Gruppe dagegen behandelte eine schlechte Tat – jemand hatte gegen seinen Kollegen intrigiert. Danach sollten die Teilnehmer angeben, wie sehr ihnen bestimmte Produkte gefielen. Und um solche Produkte ging es: Zahnpasta, Seife, Glasreiniger, Desinfektionstücher, Waschpulver, Orangensaft, Batterien, Post-It-sticker, CD-Hülle, Snickers und einiges mehr. Sie ahnen es schon: Diejenigen Teilnehmer, die eine schlechte Tat hatten abschreiben müssen, stuften die Reinigungsprodukte als viel attraktiver ein als jene, die von einer guten Tat geschrieben hatten.
Auslöser war ein assoziativer Frame: Moral wird mit Reinheit weitgehend gleichgesetzt und assoziiert. Die Folge der Assoziation war ein unmittelbarer Einfluss auf das Wahlverhalten der „unmoralischen“ Gruppe: Sie suchte nach Reinigung, natürlich im assoziativen Sinn. In einem vergleichbaren Setting wurden die beiden Testgruppen gefragt, ob sie bleiben und unentgeltlich einen Studierenden bei einem Projekt unterstützen wollten. Das Ergebnis verblüfft nicht weiter: 70 Prozent der „Unreinen“ entschieden sich, dem Studierenden zu helfen (und sich so zu rituell zu reinigen) – bei den „Reinen“ belief sich dieser Anteil nur auf 40 Prozent (Wehling, S. 77).
Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Beispiele, Zitate, Geschichten können ganze Assoziationsketten auslösen, die das weitere kommunikative Denken des Zuhörers voreinstellen. Man spricht dabei vom „metaphorischen Mapping“ – es werden also regelrechte moralische Koordinatensysteme im Unterbewusstsein angestoßen und ausgelöst, die das weitere Denken und Sprechen sowie das weitere Handeln nachweislich beeinflussen können (vgl. Wehling, S. 77f.). Selbst kontroverse Diskussionen können so gezielt gesteuert werden. Wehling beschreibt unter anderem das metaphorische Framing der „Vertikalisierung“: Gutes/Gott ist oben angesiedelt; Schlechtes/der Teufel unten. Daraus folge, dass Bürger mit viel Vermögen als „Oberschicht“ und damit implizit als „die Guten“ bezeichnet werden, während