Die Rhetorik-Matrix. Georg Nagler
mit denen zwei unterschiedliche „Viewpoints“, also linguistisch verschlüsselte Positionierungen zum gleichen Thema gesetzt werden (Wehling, S. 137; s. auch unten S. 83).
Ist ein solcher Rahmen erst einmal vom Redner bewusst gewählt und dann gesetzt worden, so wird er beim Zuhörer zwangsläufig Assoziationsprozesse im Weg der kognitiven Simulation auslösen, die davon beeinflusst werden. Und je mehr der Redner dieses assoziative Gerüst weiter bedient, umso wirksamer wird das aktivierte unterbewusste System 1 dies affirmativ unterstützen: Diese Assoziationen hat es schließlich gelernt und im Unterbewusstsein als Lerneinheit gespeichert. Wer etwa vom „Humankapital“ spricht, der entpersönlicht Diskussionen – Arbeit wird zur rein betriebswirtschaftlich zu behandelnden Ressource. Ist der Einzelne hingegen einer, der für den „Daimler“, „Bosch“ oder andere hart arbeitet – dann belegt er als Malocher oder treuer Arbeitnehmer, dass der Verlust eines Arbeitsplatzes ungemein stärker wirkt als der Begriff vom „Arbeitsabbau“ (vgl. Wehling, S. 139f.): „Wegrationalisierung“ wäre hier eine begriffliche Alternative, die deutlich negativer wirkt. Der assoziative Rahmen kann also bewusst durch solche wertenden Frames voreingestellt werden, was etwa in Podiumsdiskussionen durchaus erfolgsentscheidend sein kann.
Auch zum wirksamen Framing fehlen noch exakte wissenschaftliche Erkenntnisse, die dazu eine ganze Theorie formulieren können. Eines steht aber fest: Wir als „Humans“ lassen uns in unserem unbewussten System 1 massiv durch vorgegebene assoziative Frames in unserem Denken beeinflussen. Wer also für sich in bewusster sorgfältiger Auswahl den richtigen Sprachrahmen, die richtigen Metaphern und metaphorischen Rahmen setzt, kann zu seinen Gunsten einigen Einfluss auf das unbewusste System 1 des Zuhörers ausüben. Dieser Effekt wird sich auch auf das bewusste Denken des Zuhörers sehr subtil auswirken und kann dem Redeerfolg durchaus nachhaltig zugutekommen.
4. Rhetorik für „Econs“ (Vernunftmenschen) oder „Humans“ (Alltagsmenschen)?
Die Rhetorik als Wissenschaft war und ist seit Jahrtausenden darauf ausgelegt, auf den Grundlagen von sittlicher Vernunft, Argumentation und rationaler Entscheidungsfindung die wesentlichen Ziele von Wahrheitsfindung und Überzeugung durch richtiges Reden zu erreichen. Dabei stehen der „Ethos“ des Redners (seine Autorität und Glaubwürdigkeit) sowie der „Logos“ der Rede (die Beweis- und Argumentationsführung) im Vordergrund, wie etwa Aristoteles in seinem Standardwerk „Rhetorik“ ausführt (Aristoteles, Rhetorik, S. 11f.; s.a. Krieger/Hantschel, Handbuch Rhetorik, S. 18). Psychologische Elemente der Redekunst waren zwar bekannt; sie konnten mangels der Kenntnis der Psychologie als Wissenschaft aber nur unvollständig beschrieben und eingeordnet werden: In der Benutzung von rhetorischen Elementen, die das „Gefühl“ beeinflussen sollten, also der rhetorischen Funktion des Pathos, liegt das Hauptfeld dessen, was zwar als rhetorisch wirksam bekannt, aber letztlich nicht in seinen Wirkmechanismen verstanden war.
Die Rhetorik war damit am Vernunftmenschen ausgerichtet – genauso wie die klassische Volkswirtschaft am Econ, dem rationalen Entscheider/Agenten von wirtschaftlichen Sachverhalten (vgl. Kahneman, S. 508f.). Die Geschichte der Wortschöpfung „Econs vs. Humans“ ist auch bei Thaler/Sunstein in ihrem grundlegenden Buch „Nudge – Wie man kluge Entscheidungen anstößt“ nachzulesen (S. 16ff.); Richard Thaler hat für diese Theorien mit Recht den Wirtschaftsnobelpreis 2017 erhalten. Im Mittelpunkt der Rhetorik stand der Wettstreit der Econs um die Wahrheit vor dem Hintergrund des Einsatzes vernunftbetonter Argumente. Wer davon abwich und die „dunkle Seite“ der Rhetorik anging, die Kunst der Manipulation und der Verführung, der wurde schnell mit dem Verdikt der Demagogie belegt, also verdächtigt, Rhetorik bewusst zur Propaganda und Massenlenkung zu missbrauchen. Die Opfer waren dann die „verführbaren Humans“, die Alltagsmenschen, die allzu leicht den „schwarzen Redekünsten“ auf den Leim gingen. Zu denken ist etwa an den rhetorischen Super-Beelzebub Josef Goebbels, der beispielsweise in seiner berüchtigten Sportpalastrede zum „totalen Krieg“ 1943 das ABC der dunklen Rhetorik gnadenlos – und auch gnadenlos wirkungsvoll – durchdeklinierte.
Die moderne Psychologie bringt uns in der Rhetorik einen sehr nüchternen und klaren Standpunkt bei: Es gibt in der Rhetorik keine Econs! Es gibt nur Humans! Wirkungsvolle Rhetorik ohne die Berücksichtigung der elementaren psychologischen Grundlagen unseres Denkens ist schlichtweg nicht möglich. Letztlich gibt es kein rhetorisches Phänomen, das sich nicht diese Grundlagen zunutze macht. Rhetorik ist daher untrennbar mit der Bereitschaft verbunden, auch psychologische Wirkmechanismen und die wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu zu nutzen. Gesicherte Forschungsergebnisse der modernen Neurobiologie und Verhaltenswissenschaften einzubeziehen, ist korrektes wissenschaftliches Verhalten. Dies ist – noch – keine Manipulation. Wer die Redekunst beherrschen will, muss künftig das ganze, und damit auch das psychologische Instrumentarium der Beeinflussung des Menschen als Human kennen und auch anwenden wollen. Die Frage der Demagogie ist eine der ethischen Bewertung des Einsatzes von Redekunst, und dann ganz gleich, ob religiöser Demagoge (etwa ein salafistischer Prediger) oder politischer Demagoge (z.B. der rechtsradikale Nazi).
Der Einsatz dieser modernen Erkenntnisse, deren Verwendung für die Rhetorik ich im Folgenden als neurolinguale Intervention (NLI) bezeichne, ist für den modernen Redner unausweichlich. Ihr Potential kann verglichen werden mit einem „Treibsatz“ in der Chemie: Man kann mit ihm formen (etwa im Druckpressverfahren), man kann mit ihm Raketen für friedliche Missionen starten. Aber man kann damit auch zerstören (als Sprengstoff). Es liegt an uns, wie wir unser Wissen über die Wirkung rhetorischer Mittel verantwortungsvoll einsetzen.
Der weitere Aufbau des Buches trägt dieser Herausforderung an die moderne Rhetorik Rechnung: Jedem „klassischen“ Thema der Redekunst, das man aus der Literatur und Praxis auch bislang kennt, wird der „wirkungspsychologische“ Ansatz zugeordnet, der für Redner und Hörer relevant ist. Daraus ergeben sich manche interessante Querverbindungen und Aha-Effekte zu Erkenntnissen, wie wir sie etwa in den kurzweiligen Büchern von Rolf Dobelli zur „Kunst des klaren Denkens“ und „klugen Handelns“ aktuell erstaunt für unser wirtschaftliches Denken aufnehmen. Auch in der Rhetorik zeigt sich, wie profund wir im Alltagsleben mit Täuschungen und Illusionen konfrontiert werden, ihnen erliegen und trotzdem Erfolg haben können. Das Verständnis dieses Phänomens ist besonders wichtig für heute junge Menschen und die künftigen Generationen, die von Anfang an mit diesem Rüstzeug werden leben müssen. Auch in Zukunft wird erfolgreiche Kommunikation sich nicht auf Wischen und Klicken beschränken können. Wer nur „World of Warcraft“ spielt, wird wohl allenfalls virtuell erfolgreich sein. Es ist und bleibt eine Illusion. Wer aber bereit ist, in Echtzeit auf modernster Grundlage rhetorisch zu sprechen, zu kommunizieren und zu führen, der kann das reale Game of Power gewinnen oder zumindest erfolgreich im Beruf und Privatleben sein.
III. Der Hörer ist das Ziel: Was ein Redner bei seinen Hörern voraussetzen kann – und wie er an sie herankommt
1. Die Interaktion Redner – Hörer
Nachdem wir die wesentlichen modernen Erkenntnisse erarbeitet haben, die dem kommunikativen Denken zugrunde liegen, können wir uns nun der Interaktion zwischen Redner und Hörer/Zuschauer zuwenden. Diese Interaktion heißt Kommunikation. Und auch hierfür gibt es einige wesentliche Grundlagen, die wir als Redner unbedingt kennen sollten: Nur dann können wir wirksam beeinflussen. Sollten Sie dies vertiefen wollen, darf ich Ihnen dazu eine Empfehlung mitgeben: Das deutsche Standardbuch hierzu ist nach wie vor von Friedemann Schulz von Thun „Miteinander reden 1: Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation“; es erscheint seit über 30 Jahren mittlerweile in der 54. Auflage (s.a. zu den psychologischen Grundlagen Höhle, Psycholinguistik).
Grundlage der wirksamen Kommunikation ist die Erkenntnis, dass sie auf verschiedenen Kanälen parallel erfolgt. Wir kennen zwei Hauptkanäle: Verbale Kommunikation und nonverbale Kommunikation. Beide Aktivitätsebenen „produziert“ der Redner zur gleichen Zeit und parallel. Und nur dann, wenn beide „Produkte“ authentisch und glaubwürdig parallel beim Zuhörer ankommen, wird dieser den Redner und seine Rede akzeptieren.
Da wir uns der nonverbalen