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Die Rhetorik-Matrix. Georg Nagler
gut zu reden“ (lat. ars bene dicendi) halten viele Zeitgenossen auch und gerade im deutschsprachigen Raum nach wie vor für sehr verdächtig, seitdem auch zwei Titanen der deutschen Geisteswissenschaft sie als eher minderwertig eingestuft haben: Immanuel Kant und Johann Wolfgang von Goethe. So schimpft etwa Kant: „Rednerkunst ist, als Kunst sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen (diese mögen immer so gut gemeint, oder auch wirklich gut sein, als sie wollen) gar keiner Achtung würdig“ (Kant, Kritik der Urteilskraft, 1790). Und Goethe äußert sich in „Maximen und Reflexionen“ (Nr. 1251) vergleichbar abschätzig: „Die Redekunst ist angewiesen auf alle Vorteile der Poesie, auf alle ihre Rechte; sie bemächtigt sich derselben und missbraucht sie, um gewisse äußere, sittliche oder unsittliche, augenblickliche Vorteile im bürgerlichen Leben zu erreichen“ (vgl. Schlüter, Grundkurs, S. 9f., eingehend Kramer, Goethe und die Rhetorik). Der fürchterliche Missbrauch, den die Rhetorik im Nationalsozialismus in Deutschland und vielen anderen totalitären Staatssystemen des 20. Jahrhunderts erlitten hat, lieferte einen weiteren Beitrag dazu, sie zu diskreditieren. So muss man sich auch nicht wundern, dass die Redekunst in den Lehrplänen der deutschen Schulen seit Generationen ein Schattendasein führt.
Dies ändert aber nichts an der objektiven Notwendigkeit der Rhetorik für die Kommunikation einer modernen Gesellschaft in allen Bereichen. Ein guter Beleg sind die Manöverkritiken zum Medienverhalten der beiden Kanzlerkandidaten im Bundestagswahlkampf 2017 in Deutschland (vgl. SZ vom 4.9.2017, „Duell versemmelt“). Auch die Schlammschlachten in den sozialen Medien während des Wahlkampfs zum österreichischen Nationalparlament 2017 zeigen, wie wichtig rhetorische Analysen und eine gute rhetorische Praxis wären. Es gibt aber offensichtlich noch vieles, was richtigzustellen ist. Der fundamentale Irrtum, dem etwa Kant erlag, war auf sein damaliges Unvermögen zurückzuführen, die Rhetorik als wissenschaftlich fundiertes Instrumentarium überhaupt begreifen zu können (vgl. zu den Nachweisen Plett, Systematische Rhetorik, S. 248ff.). Die moderne Psychologie, die sogenannte Verhaltensökonomie und die Neurobiologie haben mit ihren Erkenntnissen dazu beigetragen, dass unser Verständnis von Rhetorik komplett neu zu bewerten ist. Dies gilt für die Performance von Reden in allen Medien, vom klassischen Podium bis hin zum selbstproduzierten Redebeitrag in Youtube (vgl. dazu die wirklich sehenswerten Beiträge des ehemaligen kalifornischen Gouverneurs Arnold Schwarzenegger gegen Präsident Donald Trump, z.B. Message on Charlottesville violence).
II. Strukturen unseres Denkens
Bevor wir uns der Rhetorik zuwenden, sind einige zentrale Ausführungen zu den neuen psychologischen und neurobiologischen Erkenntnissen über die Wirkmechanismen unseres Gehirns vorauszuschicken. Vieles von dem, was in den letzten Jahrzehnten im Kommunikationsprozess psychologisch untersucht und in vielen Einzelstudien detailliert analysiert wurde, trägt dazu bei, auch wichtige rhetorische Fragestellungen ganz neu zu sehen und zu beantworten. Häufig ist es dabei so, dass die klassische Rhetorik mit ihren Jahrtausende alten Erkenntnissen durchaus zu richtigen Schlüssen kam und kommt. Die dahinterliegenden (häufig unbewussten) Wirkmechanismen blieben aber verborgen und können erst heute verstanden werden.
Gerade die Bedeutung der unbewusst aktivierten neuronalen Denkprozesse wird in ihrem Umfang erst allmählich richtig begriffen. Daraus lassen sich für die Rhetorik und die rhetorische Wirksamkeit als analytischer Wissenschaft wichtige Aussagen generieren. Es wird aber auch klar, mit welchem Instrumentarium man daran gehen kann, die rhetorische Wirksamkeit noch intensiver zu verbessern. Besonders was sorgfältig vorbereitete Rednerauftritte in der Öffentlichkeit betrifft, können die Folgen dieser Entwicklung als revolutionär eingestuft werden. Davon kann nicht nur der „rhetorische Leistungssport“ profitieren – schon wer als einfacher „rhetorischer Aktivist“ unterwegs ist, kann seine Wirkung mit einigen grundlegenden neuen Erkenntnissen signifikant verbessern. Für dieses Ziel müssen wir allerdings im Folgenden einige wesentliche Grundsätze zur Psychologie des Redens intensiv beackern und uns Punkt für Punkt voranarbeiten (s.a. Wartenburger, Sprache und Gehirn, S. 196ff.).
1. Zwei Sinnes- und Aktionssysteme
Das Reden ist ein psychisch-physischer Vorgang, der zwei Sinnes- und Aktionssysteme beim Redner/Sender und zwei Sinnes- und Aktionssysteme beim Zuschauer/Rezipienten aktiviert. Diese zwei Sinnes- und Aktionssysteme produzieren zum einen (natürlich) den bewussten Sprechvorgang. Hinzu treten aber eine Fülle von Aktivitäten der unbewussten Verarbeitung von rhetorisch relevanten Aktionen und Signalen. Die revolutionäre Erkenntnis der Neurobiologie war, dass das Ausmaß der unbewussten Verarbeitung von Eindrücken und die Generierung von Erkenntnissen daraus den Umfang der bewussten Gedankenarbeit um ein Vielfaches übersteigen. Dies kann mithilfe von Scans der Denkprozesse in modernen MRTs gemessen werden (vgl. Eagleman, Inkognito, S. 57ff., S. 59ff.; ders., The Brain, S. 45ff.). Dieser Prozess der „verkörperlichten Kognition“ („Embodied Cognition“) im Unterbewusstsein ist der eigentliche Kernmechanismus (vgl. Wehling, S. 21f.) für das Denken und Sprechen. Unterbewusstsein und Bewusstsein widmen sich parallel dem Ziel, eine Rede zu produzieren und den Redner ganzheitlich diese Aufgabe bewältigen zu lassen.
Der Redner nutzt also nicht nur bewusst seine Stimme – er ist auch ganzheitlich darauf eingestellt, zu reden, gesehen und gehört zu werden. Sein nonverbales Körperverhalten – also die Gesamtheit der körperbezogenen Transaktionen als Oberbegriff zur Körpersprache – ist daher automatisch – und zumeist unbewusst – überdurchschnittlich aktiviert. Es gibt eine wesentliche rhetorische Sondersituation, in der ein Redner diesen Zustand buchstäblich am eigenen Leib erfährt: Es ist die Situation, in der er subjektiv glaubt oder fürchtet, seine Rede gehe schief – also die Empfindung des Lampenfiebers. Kurt Tucholsky hat diese Empfindung in einem berühmten Zitat in treffende Worte gefasst: „Ein Podium ist eine unbarmherzige Sache – da steht der Mensch nackter als im Sonnenbad“ (Tucholsky, Ratschläge für einen guten Redner, abgedruckt in Lay, S. 257).
Den zwei Sinnes- und Aktionssystemen des Redners entsprechen die beiden Sinnes- und Aktionssysteme des Rezipienten/Zuschauers: Er hört und sieht dem Redner bewusst zu und analysiert und reflektiert den Gesamteindruck in seinem Denken. Aber auch beim Rezipienten werden die meisten empfangenen Reize unbewusst verarbeitet: Die menschliche Erzeugung von Wirklichkeit ist weit überwiegend eine Denkleistung des Unterbewusstseins (Eagleman, The Brain, S. 45ff.). Durch den Mechanismus der sogenannten Spiegelneutronen findet eine überwiegend unbewusste kognitive Simulation statt, die von Elisabeth Wehling so treffend beschrieben wird: „Wir begreifen, was einer sagt, indem unser Gehirn so tut, als würden wir selbst es sagen“ (Wehling, S. 23).
Klassisches Beispiel dafür ist die berühmte Untersuchung zu der Frage, welche Eindrücke wesentlich für die Einschätzung eines Redners sind: Ist es der bewusst aufgenommene Inhalt des gesprochenen Wortes? Oder sind es vielmehr die Faktoren Stimme und Mimik sowie das Aussehen? Wir wissen mittlerweile eines sicher, auch wenn die Untersuchungen hierzu im Einzelnen unterschiedliche Prozentsätze gebracht haben: Unser Zuhörer-Eindruck wird zu einem wesentlichen Anteil durch die nonverbalen Faktoren beeinflusst, sicher zu mehr als 50 Prozent. Der Anteil des bewusst wahrgenommenen Inhalts unserer Rede hat in Studien selten mehr als 25 Prozent erreicht. Moderne Neurolinguisten und Verhaltenspsychologen gehen aufgrund ihrer Forschungen sogar so weit, dass sie dem bewussten Denken nur 2 Prozent der gesamten Denkleistung zubilligen (vgl. Wehling, S. 48ff. mit weiteren Nachweisen). Eine wirkungsvolle Präsentation der nonverbalen „Show“ für unseren Redeinhalt ist daher ausschlaggebend für den Erfolg als Redner.
2. Zwei Regelkreise
Die Steuerung des Redevorganges erfolgt im Gehirn über zwei „Regelkreise“, deren Bedeutung erst in den letzten Jahrzehnten eingehend erforscht wurde. Das Modell des Denkens über zwei Regelkreise bzw. „Systeme“ hat insbesondere das wirtschaftspsychologische Weltbild radikal verändert. Einer der prominentesten Vertreter dieser wirtschaftspsychologischen Schule ist der Psychologe Daniel Kahneman, der für die Entwicklung und Beschreibung dieses Modells im Jahr 2002 den Wirtschaftsnobelpreis erhielt.
Daniel Kahneman und die zwei Systeme
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