Die Rhetorik-Matrix. Georg Nagler

Die Rhetorik-Matrix - Georg Nagler


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korrekt bearbeitet – nein: die Optionen basieren auf der Annahme, dass sich damit ein erkannter Sachverhalt plausibel und wahrscheinlich lösen lässt. Damit haben wir die zentrale Leistung der sogenannten Heuristik des menschlichen Denkens angesprochen: Es ist, „technisch definiert, ein einfaches Verfahren, das uns hilft, adäquate, wenn auch oftmals unvollkommene Antworten auf schwierige Fragen zu finden“ (Kahneman, S. 127), indem wir Schlussfolgerungen aus Informationen ziehen.

      Heuristik: Wie unser Gehirn Entscheidungen trifft

      Heuristik bezeichnet Strategien des Denkens, wie mit unvollständigen Informationen mit relativ großer Genauigkeit eine Entscheidung zu einer – durchaus schwierigen – Frage getroffen wird, ohne dafür zu viel Zeit in Anspruch zu nehmen (vgl. Gigerenzer, S. 380; Kahneman, S. 127ff.). Das menschliche Denken verwendet dazu u.a. folgende bekannte Instrumente: Versuch und Irrtum (trial and error); Wiedererkennung (Rekognitionsheuristik); operationales Entscheiden „mit einem guten Grund“ („One-Reason-Decision-Making“ bzw. „Take the Best“) oder soziale Information (Was machen deine Freunde/Vorbilder?). Gerd Gigerenzer zählt auch die sogenannten „Faustregeln“ dazu. Er weist in seinem Buch „Risiko“ nach, dass das weit verbreitete Urteil, Heuristiken seien „zweitbeste Lösungen“, unzutreffend ist.

      Ein berühmtes Beispiel sind die geometrischen und dreidimensionalen Täuschungen, mit denen man in populärwissenschaftlichen Abhandlungen gerne konfrontiert wird: Unterschiedlich lange Pfeile (die doch gleich lang sind), dreidimensionale Täuschungen und das bivalente Bild von Hexe oder Schönheit zählen dazu. Eagleman betont, dass auch diesen Täuschungen der unbewusste Eindruck des sogenannten mühelosen Erkennens zugrunde liegt. In all diesen Fällen schlägt unser Unterbewusstsein keinen Alarm, also hat das bewusste System 2 keinerlei Anlass, kritisch zu reflektieren (vgl. Eagleman, S. 32ff.). Seien wir uns bewusst, dass gerade die sprachliche Kommunikation, und damit auch die Rede, ohne solche unbewussten heuristischen Vorgänge, ohne plausible Abkürzungen und Scheinbeweise schlichtweg nicht denkbar ist: System 1 glaubt und akzeptiert bereits das, was plausibel erscheint und mit den vorhandenen Modellen verträglich. Dabei kann es nachweislich mathematisch und auch erkenntnisbezogen gewaltig falsch liegen. Die von Kahneman (vgl. S. 136) beschriebenen Fehlermerkmale des heuristischen und intellektuellen Denkens in System 1 sind für sich genommen kaum zu glauben. Aber wer sie liest, muss sich eingestehen: System 1 ist ein geradezu omnipräsentes und leider auch omnipotentes Tool, um Lösungen anzubieten, die man gerne akzeptiert, bis man ernüchtert vom Gegenteil belehrt wird. Und das passiert in einer Rede bzw. rhetorischen Situation leider viel zu oft.

      Das Pralinenexperiment: Dividende durch Schokolade

      Ein wichtiges Beispiel zur „Verführbarkeit“ mit messbarem Effekt liefert ein Experiment des amerikanischen Psychologen David Strohmetz (nach Dutton, Gehirnflüsterer, S. 110f.): In einem Restaurant wurden die Gäste in vier Gruppen eingeteilt. Zum Abschluss des Essens, und vor dem Bezahlen, brachte die Bedienung der ersten Gruppe keine Praline, der zweiten Gruppe eine und der dritten Gruppe zwei Pralinen. Bei der vierten Gruppe gab es folgenden Clou: Zunächst brachte die Bedienung eine Praline, ging dann weg, wandte sich um, als hätte sie es sich anders überlegt – und legte dann noch eine zweite Praline auf den Tisch. Die zentrale Frage war, welchen Einfluss das Verhalten der Bedienung auf die Großzügigkeit der Trinkgelder haben könne.

      Das Ergebnis war verblüffend: Verglichen mit der Kontrollgruppe 1 (ohne Praline) zahlten diejenigen, die eine Praline erhalten hatten, durchschnittlich 3,3 Prozent höheres Trinkgeld. Bei zwei Pralinen waren es 14,1 Prozent – und bei der Gruppe mit der auffälligen Übergabe der zweiten Praline stieg das Trinkgeld um kaum glaubhafte 23 Prozent im Verhältnis zu Gruppe 1. Der scheinbar unerklärliche Sinneswandel – „Mensch, Leute, für euch zwei statt eine“ – ist eine nicht erwartete Geste der Wertschätzung, die unmittelbar unser unbewusstes Denken anrührt und positiv stimmt. Durch nonverbales Verhalten wurde unmittelbar das Belohnungsverhalten angeregt. Eine Praline für 10 Cent und eine kleine Geste brachten eine enorme Dividende.

      Wir werden diesen und andere Effekte noch bei der Analyse wichtiger Strategien der Argumentation und scheinlogischer Schlüsse intensiv bearbeiten. Und wir werden sehen: Auch das unbewusste System 1 der Zuhörer ist mit Inhalten des Redners einverstanden, die mit den plausiblen Eigenerfahrungen übereinstimmen, auch wenn sie nicht wirklich richtig sind! Und dies gilt auch dann, wenn wir „rhetorische Pralinen verteilen“ …

      Lieber angehender Redner: Dies ist kein Appell an Sie, die Unwahrheit zu sagen! Aber es rechtfertigt die rhetorische Neigung, mit Plausibilität – rhetorisch geschickt verpackt – weiter zu kommen und effektiv zu sein.

      Die Erkenntnis, dass das bewusste System 2 durch die unbewussten Plausibilitätslösungen von System 1 massiv beeinflusst werden kann, ist aber nur die eine Seite der Medaille: Natürlich können wir mit gezielten Eingriffen des bewusst arbeitenden und entsprechend trainierten System 2 wichtige Effekte nutzen, um das unbewusste System 1 massiv seinerseits zu beeinflussen oder auch zu manipulieren. Lassen Sie uns dazu drei Interventionsmethoden näher betrachten, die mittlerweile psychologisch gesicherte Erkenntnisse darstellen.

      3. Drei wichtige Instrumente der neurolingualen Intervention

      a) Priming

      Die Erkenntnis, dass unser unbewusstes System 1 mit Plausibilität und auch Assoziationen intensiv arbeitet, führte in der Psychologie zu mittlerweile berühmten und auch allgemein anerkannten Experimenten, in denen reproduzierbar wissenschaftlich beschrieben und belegt wird, wie man auch mit Rhetorik auf das Unbewusste unmittelbar einwirken kann.

      Einen wesentlichen Prozess nennt man „Priming“ (vgl. Eagleman, Inkognito, S. 79ff., S. 110ff.; Kahneman, S. 72ff.): Ein Redner spricht ein bestimmtes Thema an – dann formuliert das Unterbewusstsein des Hörers dazu sofort Assoziationsketten, die zu messbaren und vorhersagbaren Ergebnissen in seiner Reaktion führen. Ein einfaches Experiment kann diesen Prozess veranschaulichen. Ich nenne Ihnen den Begriff „Essen“ und bitte Sie dann, folgenden Leertext zu ergänzen: „S…e“. Fast niemandem würde jetzt als Lösung „Seife“ einfallen, die meisten Testpersonen assoziieren „Suppe“. Sie sind also durch das „primäre“ Ausgangswort in ihren Assoziationen gezielt unbewusst „geprimt“ worden (vgl. Kahneman, S. 72).

      So wurde etwa eine Versuchsgruppe dazu gebracht, sich mit dem Thema „Altern“ in einer bestimmten Situation zu beschäftigen. Der Versuch brachte den klar messbaren Effekt, dass sich die Probanden danach langsamer fortbewegten als eine Vergleichsgruppe, die sich mit derselben Situation beschäftigten, ohne dass das Altern dabei eine Rolle spielte (s. dazu auch Wehling, S. 37f.). Allein die Reihenfolge zweier Fragen an Probanden führt zu geradezu unglaublichen Ergebnissen:

      Erste Frage: Wie glücklich sind Sie zurzeit?

      Zweite Frage: Wie viele Verabredungen hatten Sie im letzten Monat?

      Wenn Sie diese beiden Fragen vertauschen und zuerst nach der Zahl der Verabredungen fragen, denken bildhaft gesagt zwei Drittel der Probanden tatsächlich, sie seien glücklicher, je mehr Verabredungen sie hatten (gleichgültig wie sie verliefen). Unser assoziativ arbeitendes Unterbewusstsein (System 1) ist also für das Angebot des Redners für Assoziationen nachweislich empfänglich – ohne dass dies je dem „Überwachungssystem 2“ bewusst wird. Im Gegenteil: System 2 lässt sich von System 1 geleitet auf diesen Holzweg weiterführen!

      Wer etwa Zuhörer in einer Rede assoziativ auf die positiven Eigenschaften von Geld bringt, löst messbar folgende Effekte aus: eine egoistischere Einstellung, weniger Hilfsbereitschaft und Solidarität, mehr Tendenz zum Individualismus (s. dazu eingehend Kahneman, S. 75ff.). Wer Zuhörer mit vertrauten Erfahrungen, Beispielen bekannter Persönlichkeiten oder plausiblen Assoziationen anspricht, dem glaubt der Zuhörer mit erhöhter „kognitiver Leichtigkeit“ auch nachfolgende Behauptungen des Redners: Damit haben Sie einen Wirkmechanismus verstanden, der die Macht von Zitaten zuvor genannter bedeutender Persönlichkeiten


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