Die Rhetorik-Matrix. Georg Nagler

Die Rhetorik-Matrix - Georg Nagler


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Weltbild“ seines Eltern-Ichs und dem „gefühlten Weltbild“ seines Kindheits-Ichs. Das Erwachsenen-Ich baut (Schritt für Schritt) sein eigenes „gedachtes Weltbild“ auf, indem es Informationen über die Realität sammelt und verarbeitet. (Harris, S. 45)

      Letztlich bildet sich damit das bewusst operierende System 2 mehr und mehr aus. Dies ist die Grundlage zum vollständigen Denken als Human – einschließlich der wesentlichen Fähigkeit zur Wahrscheinlichkeitsabschätzung und zur Kreativität. Es entwickelt sich zeitgleich die Fähigkeit zum Sprechen und damit zur bewussten Verbalisierung des Denkens. Mit anderen Worten: Nur ein Mensch, der dieses Erwachsenen-Ich ohne größere Abweichungen (Devianzen) entwickelt, ist zum objektiven Lernen, zur objektiven Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit imstande. Nur dann wird er auch ein anerkannter Redner sein und als Zuhörer eine Rede reflektieren können.

      Auch das Erwachsenen-Ich produziert aber eine Fülle von typischen Denkfehlern (Bias). In seinem epochalen Werk „Schnelles Denken, langsames Denken“ hat Daniel Kahneman diese strukturellen Probleme herausgearbeitet (vgl. Kahneman, insbes. Kap. 7 und 8). Ein Beispiel für diese Denkfehler ist die Schwäche fast jedes Menschen, die Wahrscheinlichkeit seltener Ereignisse realistisch zu bewerten. Gerade wenn Ereignisse mit negativen Gefühlen und Erfahrungen oder mit großen Schäden verbunden sind, passiert Folgendes: Menschen überschätzen die Wahrscheinlichkeiten unwahrscheinlicher Ereignisse (vgl. Kahneman, S. 396ff.) und messen ihnen bei ihren Entscheidungen übergroßes Gewicht zu. Die auffallende publizistische Hysterie in den Medien bei der Diskussion von Selbstmordattentaten oder Amokläufen kann man damit erklären – ja sogar auch manipulieren!

      Wenn Sie jetzt bereits an das geflügelte Wort denken sollten, nur solche Statistiken zu verwenden, die Sie vorher selbst gefälscht (oder geschönt: interpretiert) haben – dann liegen Sie hier bestimmt nicht falsch. Es ist eine wichtige Voraussetzung, zu verstehen, dass und wie man das bewusst arbeitende System 2 beeinflussen und gegebenenfalls auch manipulieren kann. Für eine effiziente Rhetorik haben Sie also gerade hier interessante Ansatzpunkte. Wir werden sie vor allem bei den Fragen der Argumentationslehre noch eingehend durcharbeiten.

      3. Auf dem Weg zur neurolingualen Intervention (NLI)

      Auf Grundlage der Erkenntnisse zu Lebensanschauungen und Denkweisen zeichnet sich immer mehr ab, wie Rhetorik wirksam eingesetzt werden kann. Wir sehen aber auch, wie Rhetorik natürlich auch dazu verwendet werden kann, die Zuhörer zu manipulieren! Die Literatur zur „Kunst der Manipulation“, zu „satanischen Redefähigkeiten“, zur „neurolinguistischen Totalprogrammierung“ und was es da noch alles gibt, ist dabei kaum zu übersehen. Das Problem mit diesen „teuflischen Künsten“ und „Programmierungscodes“ ist nur: Es gibt niemanden, der auch nur annähernd perfekt einsetzen kann, was er als Autor oder Schüler perfekt zu beherrschen vorgibt. Auch die selbst ernannten Großmeister im Bereich „Macht der Rede“ haben hier offensichtlich Probleme, als „überirdische Rhetorikmagier“ Anerkennung zu finden. Ich rate daher dringend davon ab, eine solide rhetorische Ausbildung durch solche „rhetorische Schwarze Magie“ ablösen zu wollen.

      Davon abzugrenzen ist die sogenannte neurolinguistische Programmierung (NLP): Obgleich offensichtlich eine exakte Definition fehlt, versteht man unter NLP ein regelbasiertes, psychologisch und linguistisch (= sprachwissenschaftlich) verortetes methodisches Instrumentarium, aufgrund dessen seine Nutzer in der Lage sind, sich selbst und eine andere Person vollständig wahrzunehmen und durch die Verwendung exakter Handlungs- und Verhaltensanweisungen das Denken, die daraus resultierenden Entscheidungen einer anderen Person und deren Verhalten gezielt und weitgehend zu beeinflussen und zu verändern (vgl. zur Einführung Seidl, NLP, und Mohl, Der Zauberlehrling).

      NLP kann schon deswegen in der Rhetorik nicht oder nur schwer funktionieren, weil wesentliche Elemente ihres Instrumentariums für die Kommunikation mit einer Gruppe nicht anwendbar sind. Schwerpunkt ist die Kommunikation mit einem individuellen Gegenüber (vgl. Seidl, NLP, S. 35). Wer versucht, eine ganze Zuhörergruppe in ihrer Gesamtheit mit den zentralen Elementen der NLP kommunikativ zu bearbeiten, sie also zu kalibrieren, sie auf ihre „sprachlichen Repräsentationssysteme“ zu analysieren oder „Augenzugangshinweise“ zu sammeln, um dann zu „leaden“ oder zu „pacen“, dass der Versammlungsraum nur so wackelt, der ist nach meiner Kenntnis damit bislang grandios gescheitert (vgl. dazu u.a. Rappmund, Manipulation, S. 134ff., Mohl, Der Zauberlehrling, S. 137ff., S. 191ff., s.a. Braun, Die Macht der Rhetorik).

      Ich will nicht verhehlen, dass viele Erkenntnisse und Thesen derartiger Autoren durchaus mit ernsthafter wissenschaftlicher Methodik erarbeitet wurden. Der – selbst nur teilweise – experimentelle Nachweis der wissenschaftlichen Richtigkeit der Gesamttheorie ist aber nicht existent; auf jeden Fall nicht, soweit es die Bedeutung der NLP für die Rhetorik als eigenständiger und ganzheitlicher geisteswissenschaftlicher Technik und Disziplin betrifft. Vor diesem Hintergrund rate ich zu einer realistischen Bescheidenheit, wenn es darum geht, das Potenzial der modernen wissenschaftlichen Erkenntnisse von Psychologie, Linguistik und weiteren sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen als Grundlage für eine optimierte Theorie und wissenschaftliche Deutung der Rhetorik zu nutzen.

      Die vorstehenden und nachfolgenden Darlegungen zeigen, wie hochkomplex die Rhetorik ist. Nicht umsonst heißt sie ja Redekunst; sie ist mit Sicherheit kein bloßes Redehandwerk. Wer also eine realistische Bestandsaufnahme der aktuellen – praxisbezogenen – Rhetorik angeht, der wird eingestehen müssen, dass die Rhetorik in ihrer vielschichtigen Matrix von unterschiedlichen Teilelementen von einer exakten Wissenschaft der algorithmischen neurolinguistischen Programmierung weit entfernt ist. Der Anspruch mancher Autoren, „nicht nur systemisch perfekte Manipulationskonzepte (der Sprache) zusammenstellen zu können, sondern auch immer zu wissen, warum sie funktionieren“, ist schon bemerkenswert (so aber z.B. Rappmund, Manipulation, S. 50f.). Letztlich ist diese Behauptung nichts anderes als eine ziemlich bedenkliche und manipulative (!) Marketingstrategie, die dem selbst gesetzten wissenschaftlichen Anspruch bei Weitem nicht entsprechen kann. Zwar wird sich die Rhetorik durchaus unter der Einwirkung der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse konstant fortentwickeln. Gleichwohl ist es zweifelhaft und wird es jedenfalls noch lange kaum möglich sein, eine in sich völlig schlüssige rhetorische Theorie und Wissenschaft als Zusammenfassung gesicherter wissenschaftlicher Ansätze mit einem umfassenden wissenschaftlichen Geltungsanspruch für die Rhetorik zu formulieren. Eine solche „allgemeine rhetorische Relativitätstheorie“ müsste ansonsten ja folgenden Ansprüchen – mindestens – gerecht werden:

       eine exakte Einordnung aller verbalen und nonverbalen Analytik und Praxis der rhetorischen Instrumente zu leisten

       eine exakte linguistische und psychologische Beschreibung der Rhetorik mit universeller Verwendbarkeit bei allen gängigen Sprachen zu vollbringen

       eine exakte sozialpsychologische, sprachwissenschaftliche, kulturwissenschaftliche, soziologische und politologische Beschreibung des Einsatzes der Rhetorik zur Erzielung gewünschter Transaktionsergebnisse formulieren

      Davon ist die Rhetorik als Teildisziplin der Geisteswissenschaften noch Lichtjahre entfernt – wenn diese Vielzahl an Zielen überhaupt je erreicht werden könnte. Sie kann jedoch schon heute davon profitieren, was die Erforschung der neuronalen Struktur unseres Gehirns und seiner Arbeitsweise gerade im unbewussten Bereich erbringt. Wir erkennen zunehmend die Funktionen der neuronalen Schaltungen des Unbewussten, die dem bewussten Denken Lösungen für erkannte Fragen und Probleme anbieten. Diese unbewussten Vorgänge kann sich die Rhetorik zunutze machen, um gezielt eigene Fragen zu platzieren und überzeugende Antworten zu präsentieren. Der theoretische Ansatz und das damit eingeführte Instrumentarium können unter einem neuen terminus technicus zusammengefasst werden: Neurolinguale Intervention. Damit wird zum einen die Leistung des Instrumentariums beschrieben, aber auch die Aufgabe und die Zielsetzung, die der Einsatz des neuen rhetorischen Ansatzes auf der Grundlage der Verhaltenspsychologie verfolgt.

      NLI: Klassische Rhetorik und moderne Psychologie

      Die neurolinguale Intervention (NLI) versteht sich als ein


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