Postkoloniale Theologien. Stefan Silber
Geschichts- und Literaturwissenschaften, in denen der Einfluss der kolonialen Macht auf die Interpretation Verbindung von kolonialer Macht und Wissensproduktionvon Geschichte und Literatur aufgedeckt wurde: Die Darstellung und Interpretation historischer Ereignisse und sowohl die Inhalte wie auch die Erzählweise und die Interpretation literarischer Werke gehorchten in vieler Hinsicht den Machtinteressen der Kolonialherren, auch nach dem Ende ihrer politischen Macht. Durch kritische Analysen und alternative Erzählungen konnte ein alternativer, befreiender Blick auf scheinbar bekannte Tatsachen entwickelt werden. Schnell wurde diese kritische Perspektive auf die Verbindung von kolonialer Macht und Wissensproduktion auch in anderen akademischen Disziplinen aufgegriffen. Der Fokus auf Texte, der den Literatur- und Geschichtswissenschaften eigen ist, bleibt den postkolonialen Studien jedoch bis heute als Erbe erhalten, das teils auch kritisch angefragt wird.
Als ein Schlüsselereignis der Entwicklung der postkolonialen Theorien gilt weithin die Veröffentlichung der Studie „Orientalismus“ des palästinensischen Literaturwissenschaftlers Edward W. SaidSaid, Edward 19781. Said zeigt nicht nur an literarischen Werken und wissenschaftlichen Arbeiten aus der Kolonialzeit, sondern auch an Gebrauchstexten wie Reisebeschreibungen und bürokratischen Texten, dass in allen diesen Bereichen das Wissen über die Gegenden, die als Orient bezeichnet werden, mit der Intention konstruiert wurde (und wird), die Menschen, die dort leben, besser beherrschen zu können und ihre Ausbeutung zu legitimieren.
Etwa gleichzeitig befasste sich die Subaltern Studies Group – ein Zusammenschluss südasiatischer WissenschaftlerInnen um den indischen Historiker Ranajit GuhaGuha, Ranajit – mit einer Kritik der europäischen (v.a. britischen) Geschichtsschreibung über Indien und historisch verbundene Staaten. Mit dem Begriff des/der ‚Subalternen‘ griff die Gruppe ein Konzept von Antonio GramsciGramsci, Antonio auf, das in den postkolonialen Theorien prägend wurde, um Menschen zu bezeichnen, die in verschiedener oder sogar vielfacher Weise unterworfen und ausgebeutet sind.2 Ein wichtiges Mitglied dieser Gruppe war die indische Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty SpivakSpivak, Gayatri. Sie brachte nicht nur den französischen Poststrukturalismus in die Debatte ein, für den sie als Expertin galt, seit sie 1976 De la grammatologie von Jacques DerridaDerrida, Jacques ins Englische übersetzt und mit einer vielbeachteten Einleitung versehen herausgegeben hatte. Sie vertritt auch eine konsequent feministische Position im Postkolonialismus und integriert kritisch-marxistisches Denken.3
SpivakSpivak, Gayatri Epistemische Gewaltmacht auch darauf aufmerksam, dass die ↗ epistemologischen Voraussetzungen des Kolonialismus und die Ideen und Vorstellungen, mit denen er seine Herrschaft durchsetzt, nicht nur Gewalt nach sich ziehen, sondern als ↗ „epistemische Gewalt“4 bereits selbst beinhalten. Das scheinbare Wissen, das im Kolonialismus (und um seinetwillen) erzeugt wird, übt selbst Gewalt aus, da es konkrete Menschenbilder hervorbringt, durch die Menschen auf- und abgewertet werden und Herrschaft begründet wird.
Die Bereiche der interkulturellen Beziehungen und auch der Psychoanalyse wurden durch den indischen Literaturwissenschaftler Homi K. BhabhaBhabha, Homi mit den neomarxistischen und poststrukturalistischen Theorien des Postkolonialismus verknüpft. Durch BhabhaBhabha, Homi werden auch vielfältige, teils auch unbewusste Formen des Widerstands in kolonialen Beziehungen beschreibbar. In kritischer Rezeption der Orientalismusthese von SaidSaid, Edward macht BhabhaBhabha, Homi darauf aufmerksam, dass Identitäten niemals eindeutig und statisch sind, sich vielmehr in ↗ Hybridisierungsprozessen bilden und verändern.5
Ein wichtiger Vorläufer der postkolonialen Bewegung war der Psychiater und Autor Frantz FanonFanon, Frantz, der in der französischen Kolonie Martinique in der Karibik geboren wurde, in Frankreich und Nordafrika lebte und auf diese Weise das französische Kolonialsystem aus sehr unterschiedlichen Perspektiven kennenlernte, nicht zuletzt im zweiten Weltkrieg und in den algerischen Befreiungskriegen. Sein 1952 publiziertes Werk „Schwarze Haut, weiße Masken“6 (aus dem oben ein narrativer Zugang zitiert wurde) ist ein einflussreicher Bezugspunkt für das Thema des Rassismus innerhalb kolonialer Beziehungen.
Die Auseinandersetzung mit dem RassismusRassismus ist auch eines der zentralen Anliegen von Achille Mbembes „Kritik der schwarzen Vernunft“7 aus dem Jahr 2013. Der kamerunische Politikwissenschaftler MbembeMbembe, Achille und FanonFanon, Frantz zeigen, wie der Rassismus alle Ebenen des europäischen Kolonialismus durchzieht, prägt und legitimiert. Weder die Entstehung und historische Ausprägung des Kolonialismus noch seine nachhaltigen Konsequenzen in der Gegenwart sind ohne diesen Rassismus denkbar. Umgekehrt erfährt auch rassistisches Denken und Handeln durch den sich etablierenden Kolonialismus einen signifikanten Aufschwung. Die Analyse der Konstruktion von Machtverhältnissen zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe gehört daher auch zum Kernbestand postkolonialen Denkens.
Lateinamerikanische Dekoloniale TheorieTheorien, die sich kritisch mit kolonialen Machtbeziehungen auseinandersetzen, werden häufig unter das Stichwort ‚dekolonial‘ gefasst. Diese lateinamerikanischen AutorInnen distanzieren sich immer wieder von den postkolonialen Studien asiatischer und nordamerikanischer Prägung. Sie üben Kritik daran, dass im Postkolonialismus die ökonomischen und politischen Aspekte der Analyse schwächer ausgeprägt seien und dass die postkolonialen Studien sich stark an europäischen poststrukturalistischen Diskursen orientierten. Diese Kritik ist ernst zu nehmen, darf dabei aber auch nicht verallgemeinert werden. Sie sollte vor allem nicht dazu führen, die berechtigten Anliegen der verschiedenen postkolonialen Strömungen nicht in fruchtbarer Weise miteinander in Dialog zu bringen.8 In dieser Einführung stehen diese kritischen Aspekte – so berechtigt sie im Einzelnen sein mögen – daher auch nicht im Vordergrund, ebenso wenig wie die verschiedenen Kritiken, die es jeweils innerhalb der lateinamerikanischen und der anglophonen Forschungen gibt. Das Ziel dieses Buches ist es vielmehr, die Bandbreite und Wirkmächtigkeit post- und dekolonialen Denkens und ihre Konsequenzen in der Theologie vorzustellen.
Die lateinamerikanische dekoloniale Theorietradition speist sich aus den dependenztheoretischen Arbeiten der 1960er und 70er Jahre, der Weltsystem-Theorie von Immanuel WallersteinWallerstein, Immanuel und der interkulturellen Befreiungsphilosophie von Enrique DusselDussel, Enrique. Hier bestehen auch wichtige Berührungspunkte mit der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung. Da viele der ‚dekolonialen‘ AutorInnen in den USA leben und arbeiten, wird der Diskurs über diese theoretischen Ansätze sowohl in spanischer als auch in englischer Sprache geführt.
Einen streng kolonialismuskritischen Akzent erhielt die Diskussion mit der Einführung des Begriffs der ↗ ‚Kolonialität‘ durch den peruanischen Soziologen Aníbal QuijanoQuijano, Aníbal9, der in einem 1992 erschienenen Aufsatz damit die durchgängige Prägung der Denkweise ehemals kolonisierter Staaten und Kulturen bezeichnet, auch wenn die staatliche Unabhängigkeit – wie im Fall Lateinamerikas – schon seit zwei Jahrhunderten vollzogen ist. Für QuijanoQuijano, Aníbal ist diese Denkweise grundlegend im Rassismus begründet und zieht konkrete Auswirkungen auf wirtschaftliche Ausbeutung und soziale Exklusion nach sich. Später wurde der Begriff der Kolonialität in vielfacher Weise auch auf andere postkoloniale Beziehungen erweitert.10 Eine transdisziplinär arbeitende Arbeitsgruppe von WissenschaftlerInnen in Lateinamerika vertiefte unter dem Stichwort „Modernidad/Colonialidad“ oder „Modernität/KolonialitätModernität/Kolonialität“ die wechselseitigen Beziehungen zwischen der europäischen Moderne, dem Kolonialismus und der Kolonialität sowie ihre vielfältigen Konsequenzen in zahlreichen gesellschaftlichen und politischen Bereichen.11
Einer der profiliertesten Vertreter dieser Gruppe, der argentinische Literaturwissenschaftler Walter D. MignoloMignolo, Walter, verweist in seinen Arbeiten auf das prägend kolonialistische Erbe im europäischen Denken seit der Moderne und ruft zum „epistemischen Ungehorsam“12 auf. Darunter versteht er ein Denken über die von der kolonialen ↗ Epistemologie vorgegebenen Grenzen hinaus. Zahlreiche dekoloniale TheoretikerInnen greifen daher auf indigenes und afroamerikanisches Denken zurück und konstruieren von dort aus Kritiken an europäischen und kolonialen Denksystemen.13
Nicht nur in Lateinamerika ist das postkoloniale Denken sehr stark vom FeminismusFeminismus beeinflusst. Zahlreiche AutorInnen weltweit analysieren die wechselseitigen Beziehungen von Kolonialismus und Sexismus, in denen beide sich wechselseitig bestärken und aufgrund derer das koloniale Denken sich bis heute in besonderer Weise im Geschlechterverhältnis äußert. Die argentinische Anthropologin Rita