Postkoloniale Theologien. Stefan Silber

Postkoloniale Theologien - Stefan Silber


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Entwicklung eines ‚Interner Kolonialismusinternen Kolonialismus‘ begünstigen, durch den einheimische Eliten und bestimmte Landesregionen koloniale Machtverhältnisse über andere Teile des Landes weiterführen können1. Dies zeigt sich beispielsweise in der systematischen Ausbeutung ländlicher und von Bergbau betroffener Regionen, die häufig durch eine Zentralregierung unterstützt wird. Derzeit wird ein solcher interner Kolonialismus besonders drastisch in der Amazonienregion wahrgenommen2.

      Weitere koloniale und neokoloniale Kontexte finden sich im Zusammenhang mit den vielfältigen Migrationsbewegungen der Gegenwart3. Einerseits gehören neokoloniale Ausbeutung und Gewaltszenarien, die mit ihr verbunden sind, zu den wesentlichen push-Faktoren der Migration, andererseits muss unter den pull-Faktoren die sich öffnende Schere zwischen den weltweiten Gewinnern und den Verlierern der kapitalistischen Globalisierung identifiziert werden. Geduldete und sich illegal aufhaltende MigrantInnen werden darüber hinaus häufig auch in Europa unter sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen oder in anderen prekären Arbeitsverhältnissen ausgebeutet. Von ihren Ursprungsländern angefangen sind MigrantInnen auf dem ganzen Weg ihrer Migration bis in die Zielländer überall dem Rassismus und Hierarchien kultureller Überlegenheit ausgesetzt, die ihren Ursprung nicht zuletzt in den Jahrhunderten der europäischen Kolonialpraxis besitzen.

      Ebenso wie die wirtschaftlichen Strukturen des Kolonialismus besitzen auch seine Kulturelle Tiefenschichtenkulturellen Tiefenschichten eine Langlebigkeit, die nicht durch das Ende der Kolonialzeit einfach überwunden oder durchbrochen werden kann. Aníbal QuijanoQuijano, Aníbal nennt die Hartnäckigkeit dieser kulturellen Prägungen die ↗ Kolonialität:

      „Sie besteht […] aus einer Kolonisierung der Vorstellungswelt (imaginario) des Dominierten. Das heißt, sie handelt innerhalb dieser Vorstellungswelt. In gewisser Weise ist sie ein Teil davon.“4

      Dies bedeutet, dass die Vorstellungswelt der Menschen selbst kolonisiert, also bis in die Gegenwart den Bedingungen des Kolonialismus unterworfen ist. Gleichzeitig ist es diese Vorstellungswelt selbst, die diese kulturellen Bedingungen des Kolonialismus aufrechterhält, weil sie sie für selbstverständlich einstuft. Dies ist der Grund, weshalb die koloniale Abwertung der einheimischen Kulturen und die unterbewusste Aufwertung alles Europäischen in den ehemals Unterworfenen und Unterwerfenden gleichermaßen nachwirkt und bis in die Gegenwart kulturprägende Macht ausübt. Ein wichtiges Werkzeug der Kolonialität ist nach QuijanoQuijano, Aníbal der Rassismus, da er oberflächliche Unterschiede im Aussehen der Menschen dazu nutzt, kulturelle Auf- und Abwertung individuell zuzuordnen.

      Wirtschaftliche und kulturelle Kolonialität bedingen und befördern sich gegenseitig. Die ökonomische Ausbeutung wird legitimiert und akzeptabel durch die abwertende kulturelle (Selbst-)Einschätzung, und die kulturelle Abwertung verstärkt sich durch wachsende Armut und Prekarität. Diese wechselseitige Verstärkung postkolonialer Erfahrungen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen ist ein wichtiges Thema der Kritik im Postkolonialismus. Sie verweist auf die unterbewusste, für selbstverständlich gehaltene hartnäckige Überlebenskraft kolonialer Verstehensmuster.

      Man kann die Wirkung dieser Hinterlassenschaften des Kolonialismus als ↗ epistemologisch bezeichnen: Sie verändern die Art und Weise, wie Menschen sich selbst und die Welt, in der sie leben, wahrnehmen. Beziehungen zwischen Menschen verschiedener Herkunft, Sprache oder Hautfarbe werden unterbewusst auf einer kolonialen Folie gelesen und damit von vornherein in diese Erblast der Kolonialität eingeordnet. Das Recht transnationaler Unternehmen auf die Ausbeutung von Rohstoffen, Energiegewinnung und landwirtschaftlicher Produktion wird nicht hinterfragt, weil in der Koloniale Erinnerungkolonialen Erinnerung die Vormacht und damit das Vorrecht der ehemaligen Kolonialstaaten gar nicht in Zweifel gezogen werden. Dies geschieht sowohl auf der Seite der vormals Kolonisierten wie der ehedem Kolonisierenden.

      Auch innerhalb der Staaten Europas und Nordamerikas wirkt diese koloniale Erinnerung: Die kolonialen Beziehungen haben nicht nur die Vorstellungswelt der Dominierten verändert und nachhaltig geprägt, sondern auch die der Eroberer. Die Überlegenheit der heute durch den Kapitalismus Mächtigen ist scheinbar selbstverständlich auch eine kulturelle und politische Überlegenheit. Sie scheint durch faktische Gegebenheiten legitim und wird durch ebenso vorurteilsbelastete ‚Wissenschaft‘ akademisch abgesichert. Ebenso üben ↗ Eurozentrismus und Weiße Überlegenheit häufig unhinterfragt ihren kulturellen Einfluss aus.

      Die Kritik an diesen scheinbaren Selbstverständlichkeiten ist ein wesentliches Thema der postkolonialen Studien. Sie streben an, die verborgenen Strukturen der Kolonialität aufzudecken, zu kritisieren und zu verändern. Auch die Postkoloniale Theologienpostkolonialen Theologien, die in diesem Buch im Mittelpunkt stehen, zielen die Kritik dieser tief liegenden kulturellen Überzeugungen an, rücken jedoch zugleich auch das Feld der Religionen in den Mittelpunkt. Sie fragen zum einen nach der Verantwortung der Religion für die Ausprägung dieser selbstverständlich hierarchischen Vorstellungswelt des Kolonialismus und zum anderen auch nach den Konsequenzen, die der Kolonialismus seinerseits für die Konstruktion von Theologien nach sich gezogen hat.

      Postkoloniale Theologien und Studien allgemein fügen sich damit in ein globales Netz des Widerstands gegen die Kolonialität und den Kolonialismus ein, das auch schon zu Kolonialzeiten existierte. Denn solchen Widerstand gibt es ungefähr ebenso lange wie den Kolonialismus selbst, auch innerhalb der Kirchen und der Theologie. Er steht diesem jedoch nicht als homogener Block gegenüber, sondern ist durch vielfältige Verbindungen mit dem Kolonialismus selbst unauflöslich verflochten und äußert sich in unterschiedlichen Strategien und Praktiken.

      Gleichzeitig mit der neoliberalen Globalisierung kann daher heute auch von einer Globalisierung der Solidarität, der Gerechtigkeit oder der Hoffnung die Rede sein. Menschen versuchen an vielen Orten mit sehr unterschiedlichen Methoden gemeinsam an der Selbstverständlichkeit der vielfältigen zerstörerischen Strukturen der Gegenwart zu rütteln. Sie sind dabei selbst auch der Erblast der Kolonialität unterworfen und müssen daher ihr eigenes Tun auch immer wieder selbstkritisch hinterfragen. Ein wichtiges Element dieser Selbstkritik sind dabei eben die vielfältigen und in Entwicklung begriffenen postkolonialen Studien, genauso wie umgekehrt der selbstkritische Blick auf die eigene Produktion zum Selbstverständnis des Postkolonialismus insgesamt gehört.

      1.5 Bedeutung der postkolonialen Studien für die Theologie

      Auch ChristInnen sind Teil dieser globalen Prozesse – der ↗ Kolonialität und des Widerstands. Die Verflechtungen der christlichen Mission mit den Gewalttaten des Kolonialismus sind weithin bekannt und wurden vielfach kritisch analysiert. Bereits während der Kolonialzeit wie auch danach sind ChristInnen – als Einzelne, aber auch in Repräsentation ihrer kirchlichen Institutionen – sowohl auf der Seite der Zerstörungen wie auf der des Widerstandes zu finden. Viele von ihnen – wie der Dominikaner Bartolomé de las CasasLas Casas, Bartolomé de – waren zudem zugleich Kolonisatoren und Kritiker des Kolonialismus. Eine binäre Einteilung in Gut und Böse, Kolonialismus und Widerstand verbietet sich in einer angemessenen historischen Perspektive. Die Kritik solchen Schwarz-Weiß-Denkens ist gerade ein wesentlicher Aspekt des postkolonialen Denkens.

      Die vielfältige Verflechtung christlicher und kirchlicher AkteurInnen in koloniale Beziehungen ist ein wichtiger Grund dafür, dass die postkolonialen Studien weltweit gesehen auch in der Theologie schon seit einigen Jahren aktiv rezipiert wurden. Der US-amerikanische Theologe Joseph DugganDuggan, Joseph unterschiedet Vier Phasen der Entwicklung postkolonialer Theologienvier Phasen der Entwicklung postkolonialer Theologien1: Eine erste Strömung identifiziert er bereits – avant la lettre – in den Befreiungskämpfen gegen den Kolonialismus Mitte des 20. Jahrhunderts. Bereits in diesen Befreiungskämpfen waren ChristInnen aktiv beteiligt und produzierten auch theologische Texte, häufig aus der Perspektive indigener Völker. Die Nichtberücksichtigung christlicher und theologischer Literatur aus dieser Zeit durch die Hauptströmungen der postkolonialen Theologien verengt jedoch nach Ansicht von Duggan das Spektrum dieser Theologien unnötig.

      Eine zweite Strömung entwickelt sich aus der Anwendung der postkolonialen Literaturwissenschaften auf die Exegese der Bibel. Vor allem in Indien, Afrika und den USA finden sich etwa seit der Jahrtausendwende TheologInnen, die beginnen, die Bibel mit Hilfe des postkolonialen Instrumentariums neu zu lesen und zu interpretieren.


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