Postkoloniale Theologien. Stefan Silber

Postkoloniale Theologien - Stefan Silber


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biblische Dokumente, theologische Paradigmen und doktrinäre Behauptungen zu untersuchen, um ihre Komplizenschaft mit dem kolonialen Unternehmen festzustellen. […]

      (2) Zweitens das Projekt der Rekonstruktion. Postkoloniale Theologien führen rekonstruktive Lektüren der sogenannten klassischen Texte aus der Perspektive subalterner Stimmen durch oder stellen neue Texte und Praktiken in den Vordergrund, die bislang von dominanten Diskursen unterdrückt wurden. […]

      (3) Drittens entscheidet sich die postkoloniale Theologie für eine Hermeneutik des Widerstands, d.h. nicht nur zu lesen, wie die Kolonialmächte die Kolonisierten konstruieren, sondern auch, wie die Subalternen dieselbe Macht untergraben, mit der sie dominiert wurden.“4

      Diese Ziele oder Phasen postkolonialer Theologien, die nicht als starre Abfolge oder Struktur gedacht werden dürfen, werden auch in den Beispielen, die auf den folgenden Seiten vorgestellt werden, immer wieder zum Vorschein kommen. In diesem Überblick wird aber schon deutlich, dass die postkoloniale Kritik nicht nur einzelne Elemente der theologischen Arbeit verändert, sondern die traditionelle Theologie prinzipiell in Frage stellt. Die österreichisch-belgische Theologin Judith GruberGruber, Judith verweist auf diese Grundsätzlichkeit der Neuorientierung:

      „Eine deutschsprachige postkoloniale Theologie ist damit keine neue, marginalisierbare Disziplin, sondern orientiert die epistemologischen Vollzüge des theologischen Diskurses neu:“ Postkoloniale TheologInnen in Europa wählen „eine alternative Methode zu den Strategien des etablierten Diskurses; wir gehen buchstäblich einen anderen ‚Weg‘ des Theologietreibens, der uns dazu herausfordert, auch die ‚Landkarte‘ der Theologie neu zu vermessen.“5

      Auch hierzulande besitzt der Postkolonialismus daher eine prinzipielle Bedeutung für die Theologie. Denn in ihm werden zum einen aus einer historischen Perspektive Kolonialismus, Mission, ↗ Eurozentrismus usw. angefragt. Zum anderen entfaltet sich diese Bedeutung auch in epistemologischer Hinsicht, da die europäischen Theologien und ihre Sprachwelt wesentlich mitverantwortlich für postkoloniale Verwerfungen sind. Schließlich ziehen diese Fragen auch auf praktischer Ebene Konsequenzen in Bereichen wie Gemeinde, Schule und Hochschule nach sich, wie in den folgenden Kapiteln deutlich werden wird.

      Literaturhinweise

      Die Veröffentlichungen in deutscher Sprache zu postkolonialen Theologien sind noch überschaubar6. Der umfassende und mit hilfreichen Einleitungen versehene Sammelband „Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge“7 von Andreas NehringNehring, Andreas und Simon WiesgicklWiesgickl, Simon (geb. TieleschWiesgickl, Simon) aus dem Jahr 2013 bietet nicht nur gleich zu Beginn eine informative Einführung in die postkolonialen Studien, sondern vor allem eine Zusammenstellung von zumeist aus dem Englischen übersetzten einschlägigen Beiträgen aus Asien und Nordamerika. Dieser Band gibt einen guten Überblick über AutorInnen, Themen und Methoden, stellt aber noch keine systematische Einführung in die postkolonialen Theologien dar. Diese Einschränkung gilt auch für den Nachfolgeband „Postkoloniale Theologien II: Perspektiven aus dem deutschsprachigen Raum“8, den die beiden Herausgeber 2018 veröffentlichten, und in dem Beiträge, die ursprünglich auf Deutsch geschrieben wurden, gesammelt sind. Diese sind inhaltlich eher disparat. Sie eint, dass sie postkoloniale Methodiken auf verschiedene Themenbereiche anwenden, die den AutorInnen jeweils wichtig erschienen. Der Band macht zugleich auch sichtbar und greifbar, dass postkoloniale Theologien auch im deutschen Sprachraum bereits diskutiert werden.

      Der von Sebastian PittlPittl, Sebastian herausgegebene Sammelband zu „Theologie und Postkolonialismus“9 dokumentiert die Beiträge einer Tagung, die 2017 im Institut für Weltkirche und Mission (Frankfurt/M.) zu diesem Thema stattfand. Der zweisprachige Tagungsband (deutsch und englisch) vereint vor allem missionswissenschaftliche Reflexionen von WissenschaftlerInnen aus aller Welt und verweist sowohl auf die Vielfalt als auch auf die globale Bedeutung der postkolonialen Theologien. Die ebenfalls zweisprachige Tagungsdokumentation „Postkolonialismus, Theologie und die Konstruktion des Anderen“10 diskutiert kirchenhistorische, biblische und systematisch-theologische Themen und nimmt auch Konsequenzen für die europäische Theologie in den Blick.

      Bereits 2013 erschien eine Ausgabe der Zeitschrift „Concilium“ (2/2013) zum Thema „Postkoloniale Theologie“, die übersetzte Beiträge aus aller Welt vorstellt. Einige dieser Beiträge führen sehr gut in die Thematik ein, andere dagegen können eher als konkretes Einzelbeispiel für postkoloniale Theologien oder angrenzende theologische Debatten dienen. Das 2020 veröffentlichte Heft derselben Zeitschrift zu „Dekolonialen Theologien“, das in der deutschen Ausgabe leider nur unter dem Titel „Gewalt, Widerstand und Spiritualität“ (1/2020) erschien, stellt diese theologische Strömung aus lateinamerikanischer Perspektive dar. Vor allem jüngere AutorInnen geben darin einen Einblick in Vielfalt und Methoden, aber ebenfalls keine systematische Einführung in die ‚dekoloniale‘ Variante postkolonialer Theologien. Das „Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften“ veröffentlichte im Jahr 2020 (Bd. 61) einige Beiträge vor allem aus sozialethischer Perspektive, in denen wichtige Spuren für eine Rezeption postkolonialer Studien im deutschsprachigen Diskursraum dieser theologischen Disziplin gelegt werden11.

      Die Ausgabe 1-2/2012 von „Interkulturelle Theologie. Zeitschrift für Missionswissenschaft“ dokumentiert hauptsächlich einige der Aufsätze, die auch im ersten Band von NehringNehring, Andreas/TieleschWiesgickl, Simon erschienen sind. In der Ausgabe 2-3/2019 werden unter der Überschrift „Postkolonialismus – und was dann?“ einige interessante Beiträge zu Religionsgeschichte, Missionsgeschichte und Missionswissenschaft aus postkolonialer Perspektive zusammengestellt.

      Der spanische Theologe Juan José TamayoTamayo, Juan José führt mit „Theologien des Südens“12 in zahlreiche neuere theologische Methodiken des Globalen Südens ein. Postkoloniale Theologien werden dabei ebenfalls vorgestellt, aber leider nicht systematisch aufbereitet oder grundlegend analysiert. Die Studie „Südwind“ des Schweizer Theologen und Philosophen Josef EstermannEstermann, Josef über „kontextuelle nicht-abendländische Theologien im globalen Süden“13 dokumentiert und analysiert ebenfalls Theologien aus aller Welt, die den postkolonialen sehr nah verwandt sind, aber vertieft dies nur ansatzweise unter dem Aspekt der theologischen Entkolonisierung14.

      Darüber hinaus finden sich im deutschsprachigen Raum neben weiteren Einzelbeiträgen und Aufsätzen zu postkolonialen Themen15 vor allem zwei Dissertationen zu theologischen Fragen: Sigrid RettenbacherRettenbacher, Sigrids postkoloniale Erforschung der Religionstheologie16 und Simon WiesgicklWiesgickl, Simons kritische Aufarbeitung der Geschichte der historisch-kritischen Exegese aus postkolonialer Perspektive17. Beide weisen weit über ihre konkrete Fragestellung hinaus und bieten hilfreiches Material zur Vertiefung postkolonial-theologischer Anliegen in deutscher Sprache und in deutschsprachigen Kontexten. Zu erwähnen ist hier außerdem noch die deutsche Übersetzung von → Jörg Riegers christologischer Studie „Christus und das Imperium“18, die postkoloniale Methodik aufgreift. Weitere wichtige und interessante Veröffentlichungen lassen sich in verwandten Disziplinen wie der Religionssoziologie, der interkulturellen und der feministischen Theologie ausmachen.

      1.6 Wissen und Macht in der Theologie. Zum Aufbau dieses Buches

      Der Bibelwissenschaftler → R. S. SugirtharajahSugirtharajah, R.S. aus Sri Lanka beschreibt als „vereinende Kraft“ der vielgestaltigen Entwürfe postkolonialer Autorinnen und Autoren die Intention, „die Verbindung zwischen Wissen und Macht in der textuellen Produktion des Westens zu untersuchen und aufzudecken“1.

      Diese Intention kann auch in den postkolonialen Theologien entdeckt werden. Sie steht auch im Hintergrund der folgenden Kapitel, in denen es grundlegend um den Zusammenhang von Macht und Wissen in der Theologie gehen wird. Denn jedes Wissen steht immer in Verbindung mit einer bestimmten Kultur, wenn man es nicht als universales, ahistorisches und überkulturelles Abstraktum verstehen will. Auch theologisches Wissen ist immer kulturell gebunden und untersteht damit konkreten Machtkonstellationen, die sich zu bestimmten historischen Zeitpunkten in den Kulturen, die die Theologie prägen, bilden.

      Während die interkulturelle Theologie sich darum verdient gemacht hat, die Zusammenhänge zwischen Theologie und Kultur herauszuarbeiten,


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