Postkoloniale Theologien. Stefan Silber
Verwendung in postkolonial-theologischen Texten vorgestellt. Zwei sehr wichtige Konzepte stehen am Anfang: das ↗ Othering oder die Erfindung des/der Anderen (2.1) und die Essentialisierung oder Versteinerung von Identitäten und Begriffen (2.2). Beide sind stark aufeinander bezogen und treten in der Praxis häufig in Verbindung miteinander auf. Kulturelle Bereiche, in denen besonders augenfällig diese Praktiken des Othering und der Essentialisierung nachgezeichnet werden können, sind der Rassismus (2.3) und die Genderbeziehungen (2.6). Auch der Diskurs über Religion und Religionen ist von externen Zuschreibungen, die versteinernd wirken können, geprägt (2.5). Im Kolonialismus wirkt sich besonders stark eine mehr oder weniger offene Überzeugung von der europäischen Überlegenheit (2.4) aus, die sich beispielsweise auch in der Geschichtsschreibung findet (2.7).
Aufgrund der Vielfalt dieser Perspektiven und ihrer komplexen wechselseitigen Beeinflussung wird in postkolonialen Debatten inzwischen mehr und mehr das Konzept der Intersektionalität oder der Überschneidungen solcher Perspektiven aufgegriffen (2.8).
Allen diesen eher kulturell oder diskursiv orientierten Perspektiven gemeinsam ist die charakteristische Eigenschaft kultureller Phänomene, prägend auf das Bewusstsein der Menschen zu wirken, ohne immer offen sichtbar in Erscheinung zu treten. Bestimmte kulturelle Vorstellungen gelten als selbstverständlich, ohne hinterfragt zu werden. Vielmehr werden sie mit einer scheinbaren Sicherheit ‚gewusst‘, weil sie bereits die Wahrnehmung prägen. Ähnlich wie Sophie BessisBessis, Sophie in ihrer Kindheitserinnerung (vgl. oben 1.1) nicht daran zweifelte, dass die ‚Französinnen‘ in ihrer Schule ihnen überlegen waren, so ‚wissen‘ Menschen auch heute in sehr unterschiedlichen postkolonialen Konstellationen aus tiefster Überzeugung, dass manche Identitäten so und nicht anders sind, bestimmte Menschen weniger wert oder weniger fortgeschritten als andere und dass geschichtliche Prozesse so abgelaufen sind, wie es die Mächtigen aufschreiben ließen.
Postkoloniale Studien hinterfragen und kritisieren diese Selbstverständlichkeit und stellen analytische Mittel bereit, um die scheinbare Sicherheit des kulturellen Wissens zu durchbrechen. Sie decken auch Diskurspraktiken in der Theologie auf, in denen solche Stereotypen als Grundlage verwendet oder als Ergebnis begründet werden. Sie leisten damit einen wichtigen Beitrag zur selbstkritischen Überprüfung theologischer Diskurse.
2.1 Die Erfindung des Anderen
Die Erfindung des Anderen ist eine wichtige von den postkolonialen Studien kritisierte Diskursstrategie. In ihr geht es darum, anderen Menschen, oft innerhalb eines angenommenen Kollektivs, bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben, durch die diese Menschen zugleich charakterisiert und bewertet werden sollen. Dadurch, dass diese Eigenschaften im Unterschied zu den behaupteten Eigenschaften der definierenden Gruppe (oder Subjekts) bestimmt werden, betont diese Strategie die (vermeintlichen) Unterschiede mehr als die Gemeinsamkeiten, die Individuen in beiden Gruppen verbinden. Die Menschen der so definierten Gruppe scheinen grundlegend anders zu sein: Sie werden zu Anderen gemacht. Der Postkolonialismus nennt diese Strategie ↗ „Othering“1, man könnte das als ‚VeranderungVeranderung‘2 oder ‚fremd machen‘, ‚anders machen‘ übersetzen.
Gayatri SpivakSpivak, Gayatri hat das Phänomen des Othering ausführlich analysiert und beschrieben3. Ihr zufolge geht es beim Othering nicht nur um die Beschreibung, Differenzierung oder Abgrenzung, sondern immer auch um die Abwertung und Beherrschung derjenigen, die zu Anderen gemacht werden: Es impliziert die Bestätigung einer Machtbeziehung durch moralische Gegensätze wie wild/zivilisiert, verräterisch/zuverlässig usw., die in scheinbares Wissen über den Anderen oder die Andere umgesetzt werden. Dieses Wissen und seine Produktion sind wiederum nur dem Herrschenden in dieser Machtbeziehung zugänglich. Auf diese Weise wird die Herrschaft scheinbar legitimiert.
Homi BhabhaBhabha, Homi macht darüber hinaus noch darauf aufmerksam, dass diese Veranderungsprozesse nicht nach einem festgelegten Schema stattfinden, sondern Ambivalenzen und Veränderungen einschließen4. Die Bewertung des ‚Anderen‘ kann zwischen Spott und Sehnsucht changieren, nährt sich aus unterbewussten Fantasien und Obsessionen, so dass der veranderte Mensch zugleich Projektionsfläche der eigenen Wünsche wie der eigenen Verachtung sein kann.
Der US-amerikanische Bibelwissenschaftler Uriah Y. KimKim, Uriah zeigt, wie sich Prozesse des Othering auch in der Bibel finden lassen. Dazu beschreibt er zunächst, wie sich das Fremdmachen von Menschen in der nordamerikanischen Geschichte bis in die Gegenwart legitimiert. Er fragt:
„Wie kann es sein, dass die Abkömmlinge von Europäern, die […] bis 1492 nie aus Europa herausgekommen sind, heute als ‚Einheimische‘ in diesen Ländern gelten und sich auch dafür halten“, während „die indigenen Bevölkerungen […] als das andere leben und gelten?“5
KimKim, Uriah verbindet diese scheinbare Legitimation mit der Notwendigkeit, die koloniale Machtordnung zu stabilisieren: Damit die Mächtigen im kolonialen System ihre Herrschaft aufrechterhalten können, auch wenn sie rein nummerisch in der Minderheit sind, werden die Beherrschten als menschlich, intellektuell und/oder moralisch unterlegen qualifiziert. Die tatsächliche Überlegenheit der Herrschenden wird so zu einer scheinbar natürlichen und unhinterfragbaren Wirklichkeit. Sie kann zur ethnologischen oder rassenideologischen ‚Wissenschaft‘ werden.
Im Fall der Vereinigten Staaten beschreibt Kim eine weitere Komplexität dieses Veranderungsprozesses: Während „nationale ethnische Minderheiten (Iren, Italiener, Polen, Griechen und andere weiße Europäer) nach und nach Teil der Mehrheitsgruppe wurden“, gelang dies weder den UreinwohnerInnen noch anderen ImmigrantInnen: „Nichteuropäische ethnische Gruppen (Schwarze, einheimische Indianer, Asiaten, Latinos)“6 wurden den anderen Gruppen gegenüber abgewertet, vereinzelt, als Minderheiten abgestempelt und gegeneinander ausgespielt.
Während KimKim, Uriah die innere Differenzierung und Hierarchisierung der ‚weißen‘ Bevölkerungsgruppe vernachlässigt, zeigt er dennoch anschaulich, wie Menschen allein aufgrund äußerer Merkmale und geografischer Herkunft kulturell (und damit unbewusst) in hierarchisierte Menschengruppen eingestuft werden.
Vergleichbare Prozesse des Othering im biblischen RichterbuchOthering deckt KimKim, Uriah im biblischen Richterbuch auf. Dies legt sich nicht zuletzt deswegen nahe, weil die Eroberung indigener Territorien Nordamerikas im 18. Jahrhundert durch europäische EinwandererInnen unter anderem auch mit dem Verweis auf die biblischen Landnahmeerzählungen legitimiert und glorifiziert wurden.
Im Richterbuch werden nun die Völker des Landes Kanaan zwar mit einzelnen Namen genannt, jedoch nicht differenziert: Sie werden als Einheit, als feindliche Einheit konstruiert, die die Identität und die Existenz des erobernden Volkes bedroht7. Ebenso wird das Volk Israel als Einheit konstruiert, dessen interne Differenzierungen weitgehend minimiert werden. Die Unterschiede zwischen der einen, eigenen und der fremden, feindlichen Einheit werden dagegen in binärer, kontrastierender Weise übersteigert.
Auf einer vordergründigen Ebene scheint der Text also durch die Strategie des Othering die Abwertung und schließlich Auslöschung einer erzählten Menschengruppe durch eine andere zu legitimieren. Zumindest wurde der Text in der nordamerikanischen Eroberungsgeschichte von Seiten der Kolonisatoren genau so interpretiert.
KimKim, Uriah analysiert jedoch darüber hinaus, dass der biblische Text interessanterweise diese strenge binäre Unterscheidung selbst an vielen einzelnen Punkten nicht durchhält: In manchen Episoden wird erzählt, wie Israeliten sich schlimmer verhalten als die Kanaaniter (wie in Ri 19,25Ri 19,25 ). An anderen Stellen gibt es Kanaaniter, die sich mit den Israeliten solidarisieren (Ri 1,24-26Ri 1,24-26 ), und Personen, die nicht eindeutig einer der beiden Gruppen zugeordnet werden können (Ri 3,31Ri 3,31 ). Ja, eines der transversalen Themen des Richterbuchs ist gerade die immer wieder erzählte Tatsache, „dass es Israel nicht gelungen ist, den Hauptunterschied zwischen sich und den Anderen aufrechtzuerhalten“8. Der biblische Text verhält sich auf einer untergründigen Erzählebene widerständig gegenüber dem Narrativ der Veranderung, das an der erzählten Oberfläche aufrechterhalten wird. Veranderungsprozesse werden dadurch vom Text selbst subtil durchbrochen.
Eine nicht unbedeutende Rolle für die Konstruktion der binären Unterscheidung zwischen Israel und Kanaan – ebenso wie für deren Durchbrechung – spielen dabei die in den Erzählungen auftauchenden Frauen9.