Postkoloniale Theologien. Stefan Silber
in der Perspektive der postkolonialen Theologien ausdrücklicher die komplexe Dreiecksbeziehung zwischen Herrschaft, Kultur und theologischer Produktion in den Blick genommen, analysiert und kritisiert werden.
Sowohl in der interkulturellen wie auch in der Befreiungstheologie ist in den letzten Jahrzehnten die Aufmerksamkeit für dieses komplexe Wechselverhältnis gewachsen. Seine Thematisierung ist keine Exklusivleistung postkolonialer Theologien. Darum geht es hier auch gar nicht. Vielmehr schöpfen postkoloniale Theologien sowohl aus der Befreiungstheologie als auch aus der interkulturellen Theologie Hilfestellungen für eine umfassendere und profundere Analyse und können ihnen zugleich einen fruchtbaren Dialog anbieten.
Kultur als komplexe DynamikKultur muss dabei als umfassende, komplexe Dynamik verschiedener Symbolsysteme betrachtet werden, die Religion, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik einschließt2. Sie bezieht sich nicht nur auf Kunst, Sprache und Wissenschaft, sondern auf alle Lebensbereiche, auch die Gestaltung des Alltags, Herrschaftsverhältnisse und das Weltverständnis. Ein reduzierter Kulturbegriff wird der kulturellen Selbst- und interkulturellen Fremderfahrung des Menschen nicht gerecht, schon gar nicht in kolonialen und postkolonialen Kontexten. Ebenso müssen Macht und Herrschaft auch als kulturelle Größen angesehen werden, die nicht nur auf rechtliche, faktische oder gewaltsam erzwungene Abhängigkeiten in den Blick nehmen, sondern ebenso psychische, kulturelle und religiöse Unterordnungen sowie Gegenmacht und Widerstand einschließen. Insbesondere mit Homi BhabhaBhabha, Homi und Gayatri SpivakSpivak, Gayatri ist es wichtig, sich auf die Konzeptionen von Macht, Herrschaft und ↗ Hegemonie, wie sie von Michel FoucaultFoucault, Michel und Antonio GramsciGramsci, Antonio entwickelt wurden, zu beziehen, wie dies in den postkolonialen Studien geschieht3.
Die folgenden fünf Kapitel stellen einen möglichen Zugang zur Vorstellung postkolonialer Theologien dar; sie erheben keinen Anspruch darauf, die einzig mögliche oder beste Form der Präsentation zu sein. Diese GliederungGliederung wurde gewählt, weil auf diese Weise vier wichtige unterschiedliche Aspekte der postkolonialen Theologien transparent dargestellt und anschließend mögliche Lerneffekte für uns in Europa aufgezeigt werden können. Diese Aspekte sind in vielfacher Weise aufeinander bezogen. Die einzelnen Kapitel verweisen daher eng aufeinander4.
Kapitel zwei legt einen Schwerpunkt auf kulturelle und sprachliche Faktoren im Postkolonialismus. Diese Fragen stehen bei vielen TheoretikerInnen – von denen viele ja aus den Literaturwissenschaften kommen – im Vordergrund. Postkoloniale Theorien werden daher häufig damit identifiziert bzw. darauf reduziert. Genauso wichtig für ein Verständnis der postkolonialen Theologien ist jedoch der Aspekt der Machtbeziehungen, der im dritten Kapitel vorrangig behandelt wird. Denn der Kolonialismus ist ein Machtverhältnis und hat bis heute Auswirkungen in vielfältigen Machtkonfigurationen der Gegenwart.
Der Widerstand, der diesen Machtverhältnissen entgegengebracht wird, auch in der Theologie, ist schwerpunktmäßig Gegenstand des vierten Kapitels. Dieser Widerstand und die Gegenmacht, die er repräsentiert, beinhaltet auch eine Reihe konkreter Methodiken, mit denen traditionelle theologische Formen kritisiert werden. Er endet auch nicht mit der Kritik, sondern postkoloniale Theologien – und das ist das Thema des fünften Kapitels – entwickeln auch theologische Alternativen, in denen sie die kolonialkritische Gegenmacht auch theologisch entfalten und teilweise zu völlig neuen Verständnissen des christlichen Glaubens gelangen. Das abschließende sechste Kapitel fragt nach den Möglichkeiten, Bedingungen und Chancen für ein Lernen in Auseinandersetzung mit postkolonialen Theologien, die sich für uns in Mitteleuropa ergeben.
Dieses Buch ist als eine Einführung in die postkolonialen Theologien und ihre Methodik gedacht, nicht als eine systematische Abhandlung. Postkoloniale Theologien sollen hier vorgestellt und nicht dargestellt werden. Diese Einführung möchte zum vertieften Weiterstudium anregen. Dazu eignet sich die verwendete und vorgestellte Literatur, auch wenn sie selbstverständlich bislang nur zu einem Teil in deutscher Sprache zur Verfügung steht. Ebenso können einzelne theologische Themen oder Gegenstände der postkolonialen Theologien hier nicht vollständig und systematisch erarbeitet werden: Wie Sigrid RettenbacherRettenbacher, Sigrid und Simon WiesgicklWiesgickl, Simon gezeigt haben, lässt sich mit konkreten postkolonial-theologischen Fragestellungen leicht eine ganze Dissertation füllen5.
Darüber hinaus stehen postkoloniale Theorien jedweder Systematisierung immer schon sperrig gegenüber, da diese häufig mit ↗ Essentialisierungen und Hierarchisierungen einhergehen. Zumal in der Theologie muss dieses Feld außerdem immer noch als sehr jung, dynamisch und in Veränderung begriffen angesehen werden. Aus diesen Gründen scheint statt einer systematischen Darstellung zunächst ein wohlwollendes Kennenlernen postkolonialer Theologien angezeigt.
Aus demselben Grund ist dieses Buch auch keine „kritische“ Einführung. Während María do Mar Castro VarelaCastro-Varela, María do Mar und Nikita DhawanDhawan, Nikita ihre Einführung in die postkolonialen Theorien bereits in der ersten Auflage 2005 als eine „kritische“6 bezeichnen, um die Auseinandersetzung mit ihnen anzuregen, halte ich es in der Theologie gegenwärtig eher für notwendig, zunächst mit Interesse und neugieriger Aufmerksamkeit an Entwürfe postkolonialer Theologien heranzugehen. Eine kritische Auseinandersetzung bleibt dadurch selbstverständlich nicht ausgeschlossen und wird auch gelegentlich in diesem Buch bereits unternommen.
Die nun folgenden Kapitel werden mit Beispielen aus der Praxis postkolonialer TheologInnen zugleich in Begriffe, Methoden und Grundkonzepte der postkolonialen Theorien einführen. Auf diese Weise wird deutlich werden, wie verschiedene Strategien postkolonialer Kritik die Theologie grundlegend verändern. Es soll auch deutlich gemacht werden, dass postkoloniale Theologien nicht beanspruchen, ein neues theologisches Fach oder spezifische kontextuelle Theologie zu sein, sondern auf eine Umkehr in der theologischen Methodik insgesamt zielen. Sie erheben daher nicht den Anspruch, den theologischen Kanon zu erweitern, sondern ihn zu verändern7.
Bei der Auswahl der postkolonial-theologischen Beispiele werde ich prinzipiell exemplarisch, illustrierend, narrativ, fragmentarisch und nicht-erschöpfend vorgehen. Ich tue dies in der Überzeugung, dass eine solche Vorgehensweise den Grundannahmen des Postkolonialismus eher entspricht als eine wohlgeordnete Systematik, die zur Klassifizierung und damit Ein- und Unterordnung neigt. Dies mag zu Vereinfachungen, Einseitigkeiten und Auslassungen führen. Erfahrenere LeserInnen würden mit Sicherheit an der einen oder anderen Stelle die Art der Darstellung ändern, andere Beispiele wählen oder Wertungen anders vornehmen. Das Ziel dieser Einführung ist es aber, postkoloniale Theologien in ihren Grundzügen darzustellen und zu ihrem vertieften Studium zu motivieren. Sie soll dieses Studium nicht ersetzen.
Auch eine fragmentarische Theologie ist jedoch nicht ‚unsystematisch‘. Sie widersetzt sich vielmehr dem Anspruch einer ‚Systematischen Theologie‘, die auf eine vollständige, abschließende und kontrollierbare Darstellung eines theologischen Objekts zielt. Ein solcher Machtanspruch wird hier nicht erhoben. Stattdessen versucht diese Einführung durch verändernde Wiederholung, durch wechselnde Perspektiven und durch Komplementarität in scheinbar gegensätzlichen Aussagen unterschiedliche Schlaglichter auf eine wachsende und sich transformierende theologische Strömung zu werfen, die in ihrer Pluralität helfen sollen, den Grundanliegen dieser Strömung einigermaßen gerecht zu werden. Auch in Fragmenten lässt sich nach meiner Überzeugung bei genauem Blick eine mosaikhafte Systematik erkennen8.
2 Diskurspraktiken
Wissen kann in der Gegenwart nicht mehr einfach als objektiv vorhanden oder zuverlässig erwerbbar gelten. Es wird vielmehr in vielfältigen Diskursen generiert, verändert, weitergegeben und fortentwickelt. Im Zusammenhang mit Machtkonstellationen, wie sie etwa in kolonialen und postkolonialen Kontexten gegeben sind, ist es zu erwarten, dass auch die Diskurse, die Wissen hervorbringen, von diesen Machtverhältnissen durchdrungen sind und in ihnen operieren.
Die postkoloniale Kritik – und mit ihnen postkoloniale Theologien – widmet daher den verschiedenen Strategien und Praktiken des Diskurses sehr viel Aufmerksamkeit. Denn auch die Theologie ist ein Beziehungssystem vielfacher Diskurse, in denen Wissen produziert wird. Und auch theologische Diskurse sind in vielfältige Machtbeziehungen eingewoben. Die Produktion theologischen Wissens in Diskurspraktiken muss daher – gerade auch aus postkolonialer Perspektive – kritisch auf ihre Beeinflussung durch Machtverhältnisse hin befragt