Postkoloniale Theologien. Stefan Silber
DienerInnen. Schokoladenwerbung gebraucht die rassistische Figur des ‚Mohren‘. An rassistischer Sprachpraxis in Kinderbüchern wird vehement festgehalten, auch wenn Betroffene äußern, wie verletzend sie bestimmte Ausdrücke finden. […] Es gibt massiven politischen und gesellschaftlichen Widerstand gegen Initiativen zur Umbenennung von Straßennamen, die nach Kolonialverbrechern benannt sind. Schwarze Menschen und People of Color […] sind häufiger Polizeikontrollen ausgesetzt, weil sie allein aufgrund ihrer Hautfarbe ins ‚Täterprofil‘ passen. Menschen, die keine ‚weiße‘ Pigmentierung aufweisen, werden immer wieder in die Situation gebracht, sich als ‚Geanderte‘ zu fühlen, als nicht zur deutschen Gesellschaft Zugehörige.“8
Zahlreiche Initiativen in größeren deutschen Städten haben es sich zur Aufgabe gemacht, diese Gegenwart des Kolonialen im Alltag sichtbar zu machen und kritisch herauszuheben. Mit alternativen Stadtführungen (teils auch virtuell erlebbar) machen sie auf ProtagonistInnen des Kolonialismus, ehemalige und gegenwärtige Kolonialinstitutionen, Denkmäler und Straßennamen, Namen und Geschäftszeichen von Hotels und Apotheken usw. aufmerksam, um auf die Wirksamkeit kolonialer Denkweisen und Praktiken bis in die Gegenwart hinzuweisen und auf eine Verhaltensänderung hinzuwirken9.
Der Kolonialismus wirkt auch in Erfahrungen von alltäglichem, strukturellem und unterbewusstem Rassismus fort, von denen People of Colour und MigrantInnen in Deutschland berichten. Sie werden häufig mit den kulturellen Erinnerungen an die deutsche Kolonialzeit in Verbindung gebracht, die – wie beschrieben – umfassender ist als die konkrete Kolonialherrschaft des Deutschen Reiches. Ein nicht zu unterschätzendes Problem, das unmittelbar mit dem Kolonialismus zu tun hat, ist die in Deutschland weit verbreitete und vielschichtige Islamfeindlichkeit. Hito SteyerlSteyerl, Hito und Encarnación Gutiérrez RodríguezGutiérrez Rodríguez, Encarnación sprechen bezüglich solcher Erfahrungen mit Rassismus in Deutschland von der „Koloniale Kontinuitätkoloniale[n] Kontinuität der Bundesrepublik“10 und verweisen insbesondere auf die Arbeiten Schwarzer11 Feministinnen seit den 1980er Jahren.
→ Michael NausnerNausner, Michael, österreichisch-schwedischer Theologe, erinnert daran, dass nicht nur das Christentum in seiner Geschichte eine „intime Komplizität […] mit der Kolonialisierung“12 aufwies, sondern dass die heutigen Migrationsformen eine „Spätfolge“13 dieser Kolonial- und Missionsgeschichte seien. Darüber hinaus erkennt er mehrere Zusammenhänge zwischen Migration und kirchlichem Leben in Mitteleuropa: Religionen spielen zwar einerseits eine wichtige Rolle bei der Integration von MigrantInnen, andererseits führt aber eine starke Zuwanderung auch zur Bildung von Diaspora-Religionen und christlichen Gruppen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen. Auf diese Weise tragen migrantische christliche Gruppen auch postkoloniale Konfliktkonstellationen in Kirchen und Gemeinden Mitteleuropas. Um dieser Herausforderung gerecht zu werden plädiert NausnerNausner, Michael dafür, die theologische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Migration nicht allein der praktischen Theologie und der Missionswissenschaft zu überlassen, sondern auch in der systematischen Theologie nach den grundlegenden Konsequenzen dieser komplexen Herausforderung für Theologie und Kirchen hierzulande zu fragen14.
Der deutsche Theologe Simon WiesgicklWiesgickl, Simon, der auch in Hongkong lehrte, hat in seiner Dissertation gründlich herausgearbeitet, wie die Entstehung und Entwicklung der historisch-kritischen Exegese in Deutschland einerseits ohne den Kolonialismus nicht denkbar gewesen wäre und sie andererseits aber auch zahlreiche Denkmuster und Stereotypen des kolonialen Zeitalters integrierte. So lassen sich in exegetischen Texten der ↗ Eurozentrismus, der Überlegenheitsanspruch deutscher ExpertInnen und sogar Wechselwirkungen mit dem Antisemitismus zeigen, die alle auch eine wichtige Rolle in der Kolonialideologie deutscher Prägung spielen. Solche kritischen Untersuchungen wären auch in anderen theologischen und theologiegeschichtlichen Bereichen überaus wünschenswert15.
Eine weitere Postkoloniale Realität in der deutschen Kirchepostkoloniale Realität in der deutschen Kirche besteht bis heute in den vielschichtigen Beziehungen zwischen Deutschland und früheren Kolonialstaaten auch anderer Länder durch Ordensgemeinschaften und Hilfswerke. Diese Beziehungen bestehen teilweise bereits seit vielen Jahrzehnten und haben in dieser Zeit auch bereits vielfach ihren Charakter transformiert. Dennoch beruhen sie ursprünglich auf kolonialen Verhältnissen, die nicht immer hinreichend im kritischen Bewusstsein sind. Die Diskussion postkolonialer Theorien wurde in manchen dieser Institutionen jedoch bereits aufgenommen16.
Eine grundlegende Nachwirkung des Kolonialismus in Deutschland, die vielfache Konsequenzen nach sich zieht, lässt sich schließlich auf ↗ epistemologischer Ebene greifbar machen: Der europäische Kolonialismus insbesondere des 19. Jahrhunderts wäre nicht denkbar gewesen ohne die ideologischen Voraussetzungen des deutschen Idealismus und der Aufklärung insgesamt. Gayatri SpivakSpivak, Gayatri merkt hierzu an, dass Deutschland eine zentrale philosophische und intellektuelle Rolle bei der Ausarbeitung und Durchführung einer kolonialen Ideologie spielte: „Das kulturelle und intellektuelle ‚Deutschland‘ […] war die Hauptquelle der pedantischen Denkrichtung, die eine Identitätsbegrifflichkeit einführte,“17 die zur Benennung, Bewertung und Einhegung kolonialer Erfahrungen diente. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf KantKant, Immanuel, HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich und MarxMarx, Karl schreibt sie: „Deutschland produzierte die autorisierten ‚universalen‘ Erzählungen, in denen das Subjekt unweigerlich ein europäisches war.“18
Diese Philosophien des 18. und 19. Jahrhunderts prägen deutsche Denkweise bis in die Gegenwart. Das identitäre Denken vom so genannten ‚christlichen Abendland‘ ist nur ein Beispiel für den Ausschluss scheinbar fremder oder ‚anderer‘ Kulturen von einer unterstellten ‚Leitkultur‘. Auch der in vielen Bereichen nach wie vor wirksame Eurozentrischer Überlegenheitsansprucheurozentrische Überlegenheitsanspruch gegenüber Entwicklungen in anderen Teilen der Welt lässt sich hier nennen. Ein Christentum, das seine asiatischen Wurzeln vergessen zu haben scheint und sich als ‚europäisches‘ versteht, zumal in seiner eurozentrischen katholischen Variante, muss sich dieser kritischen Anfrage in weitaus verstärktem Maß stellen.
1.4 Koloniale Kontexte heute
Auch wenn die meisten Kolonien inzwischen staatliche Unabhängigkeit erlangt haben, ist der Kolonialismus keine abgeschlossene Episode der Vergangenheit. Er prägt die Gegenwart auf vielfältige Weise. Der Postkolonialismus als globale wissenschaftliche Strömung versteht sich daher auch als eine kritische Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Kolonialzeit in der Gegenwart, die sich auf sehr unterschiedlichen Ebenen bemerkbar machen: in wirtschaftlicher Abhängigkeit, in kulturellen Hierarchien und Exklusionen und auf ↗ epistemologischer Ebene. Zugleich lassen sich auch globale Gegenbewegungen mit diesem kolonialen Weiterwirken des Kolonialismus wahrnehmen, die ebenfalls auf diesen verschiedenen Ebenen agieren.
In vielen Bereichen der internationalen wirtschaftlichen Beziehungen werden gegenwärtig unter dem Stichwort des NeokolonialismusNeokolonialismus unterschiedliche Ausbeutungsverhältnisse diskutiert, die sich vom historischen Kolonialismus dadurch unterscheiden, dass die ausgebeuteten Regionen formal ihre staatliche Unabhängigkeit besitzen. Durch Bergbaukonzessionen, Investitionen und Handelsverträge werden diese Neokolonien jedoch dazu gebracht, das zu produzieren, was der internationale Investor vorgibt, und nicht das, was von der lokalen Bevölkerung benötigt wird. Besonders drastisch macht sich dies im landwirtschaftlichen Sektor bemerkbar.
Eine andere Form des Neokolonialismus kann beobachtet werden, wenn Arbeitsplätze etwa in der Bekleidungs- oder Informationsindustrie in Ländern geschaffen werden, die ein wesentlich geringeres Lohnniveau und eine schlechtere Arbeitsgesetzgebung als die industrialisierten Staaten besitzen. In vielen Fällen wird von den armen Ländern selbst die Gesetzgebung so ‚investorenfreundlich‘ gestaltet, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter unter extrem prekären, teils der Sklaverei ähnelnden Bedingungen zu arbeiten gezwungen sind. Eine dritte Form des Neokolonialismus findet sich in der Auslagerung der Konsequenzen des Klimawandels in die Länder und Regionen, die ihn am wenigsten verursacht haben. Diese drei Beispiele sollen die Phänomene des Neokolonialismus nur exemplarisch und nicht erschöpfend aufzeigen.
Der mexikanische Soziologe Pablo González CasanovaGonzález Casanova, Pablo wies bereits in den 1960er Jahren darauf hin, dass trotz der staatlichen Unabhängigkeit und zahlreichen anderen sozio-ökonomischen Veränderungen