Postkoloniale Theologien. Stefan Silber
kann eine Essentialisierung als Mittel zum Widerstand, zur Mobilisierung von Menschen oder auch zur Markierung einer Gegenposition als strategisches Instrument zum Einsatz kommen, wenn dabei der Gefahr der Versteinerung entgegengewirkt wird.
Die negativen Auswirkungen dieser Essentialisierungen müssen jedoch immer kritisch und selbstkritisch im Blick bleiben. Insbesondere müssen sowohl interne Differenzen zwischen den Personen, die unter einen strategischen Essentialismus fallen, als auch die Beziehungen, die zwischen den als verschieden markierten Positionen herrschen, benannt und analysiert werden. Sonst droht die Gefahr eine Isolation der verschiedenen sich selbst als rein und unveränderlich verstehenden Identitäten. KangKang, Namsoon warnt daher ausdrücklich:
„Heutzutage ist es völlig klar, dass alles, was sich isoliert, sei es westliche oder asiatische Theologie, versteinert. Und alles, was versteinert, stirbt.“12
Neben solchen versteinerten Identitätszuschreibungen, die sich auf Menschen anderer Regionen, Kulturen und Ethnien richten können, finden sich Essentialisierungen auch in anderen diskursiven Bereichen. Auch Begriffe und Konzepte können essentialistisch verwendet werden können, so als ob ihre Bedeutung festgelegt und unveränderlich wäre.
Auch Essentialisierungen in der Theologiein der Theologie werden solche generalisierenden Begriffe häufig unkritisch verwendet und können zu Essentialisierungen und politischer, aber auch theologischer Versteinerung führen und so zur bewussten oder unbewussten Machtausübung eingesetzt werden. Die argentinisch-schottische feministische Theologin → Marcella Althaus-ReidAlthaus-Reid, Marcella analysiert am Beispiel der Gnadenlehre, wie auch theologische Lehrsysteme, wenn sie in einer versteinerten Weise angewendet werden, zur Rechtfertigung von Gewalt, Ausbeutung und Mord gebraucht werden können. Bei der Eroberung Lateinamerikas sei der Gnadenbegriff dazu missbraucht worden, die UreinwohnerInnen des Kontinents als ‚Heiden‘, als „Minderwertige“13 abzuwerten. Allerhand „Sünden“ seien dazu konstruiert worden: „Kannibalismus, abweichendes Sexualverhalten, Faulheit und mangelnde geistige Ernsthaftigkeit“ konnten „als Vehikel für die Gnade“ dienen, auch wenn sie „(wie im Fall des Kannibalismus) reine Phantasiegebilde angesichts der tatsächlichen Identität der Eingeborenen waren“14. Die ‚Gnade‘ der Evangelisierung mussten die UreinwohnerInnen mit ihrem Land, ihrer Arbeitskraft und oft genug mit dem Leben bezahlen.
Einen ähnlichen Missbrauch eines versteinerten Lehrbegriffs konstatiert Althaus-ReidAlthaus-Reid, Marcella bei der Rede von der Gnade während der argentinischen Militärdiktatur (1976–1983), die zum Tod oder spurlosen Verschwinden von Zehntausenden argentinischer Staatsangehöriger führte. Die Inanspruchnahme versteinerter Lehren, die sich von ihrer ursprünglichen biblischen und theologischen Bedeutung entfernt hatten und nur noch den Begrifflichkeiten nach am Christentum festhielten, konnte zur Legitimation der Diktatur und ihrer Verbrechen werden:
„Bestimmte Predigten zur damaligen Zeit sprachen von einem Land, das vom Kommunismus erlöst werden musste nach dem Beispiel von JesusJesus am Kreuz, und diese Erlösung sollte ‚durch das Blut‘ von Mitbürgern erreicht werden.“15
Solche kritisch zu bewertenden Praktiken finden sich auch in politischen und befreienden Theologien. → R.S. SugirtharajahSugirtharajah, R.S. kritisiert beispielsweise an der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung, dass sie dazu neige, „die Armen zu reifizieren“ und dann „zu romantisieren“16. ‚Reifizierung‘, also Verdinglichung, kann mit dem verglichen werden, was hier als ‚Essentialisierung‘ oder Versteinerung bezeichnet wird. ‚Die Armen‘, ‚die Frauen‘, ‚die Arbeiter‘, ‚die Laien‘, ‚die Ausgeschlossenen‘ (usw.) sind klassische „masterwords“17 im Sinn von Gayatri SpivakSpivak, Gayatri. Darunter versteht sie Wörter, die als machtvolle Oberbegriffe eine größere, heterogene Gruppe von Menschen so bezeichnen, als wäre sie homogen. Zugleich – durch die Macht der Verallgemeinerung – üben diese Begriffe Herrschaft (im Sinn des englischen master) über diese Menschen aus, indem sie sie homogenisieren und ihre individuellen Differenzen verschwinden lassen. Diese Herrschaft üben natürlich nicht die Begriffe selbst aus, sondern diejenigen, die sie verwenden. Durch die Benennung als masterwords lässt sich diese Herrschaftsausübung an den Begriffen selbst sichtbar machen.
2.3 „Schwarz bin ich und schön.“ (Hld 1,5Hld 1,5 ). Rassistische Traditionen
Bei dem Bibelvers, der in der Überschrift zitiert wird, steckt der Teufel im Detail: Maricel Mena LópezMena López, Maricel, Claudia Pilar de la Callede la Calle, Claudia Pilar und Loida Sardiñas IglesiasSardiñas Iglesias, Loida weisen auf die Problematik hin, die mit der Übersetzung eines kleinen Wörtchens verbunden ist1: Was genau bedeutet „und“? In der Vergangenheit wurde dieses Wort häufig adversativ übersetzt. Auch die Einheitsübersetzung 2016 schreibt hier „Schwarz bin ich, doch schön“, versteht also beide Adjektive im Gegensatz zueinander, während die Lutherübersetzung 2017 an derselben Stelle formuliert: „Ich bin schwarz und gar lieblich“. Im Hebräischen Text steht ein waf, heißt es also „und“.
Die drei Autorinnen verweisen auf den Kommentar der Jerusalemer Bibel (brasilianische Ausgabe von 1998), für den „eine sonnenverbrannte Frau, die Weinberge hütet, nichts anderes als eine Sklavin sein kann, anders als Frauen mit heller Haut“2, und sie zitieren aus dem Kommentar:
„Die alten arabischen Dichter setzen die helle Haut der Mädchen von guter Abstammung (hier die Töchter Jerusalems) den Sklaven und Sklavinnen entgegen, die Arbeit im Freien verrichteten.“3
Hier wird das brasilianisch-koloniale Verhältnis von weißen SklavenbesitzerInnen und schwarzen SklavInnen in die Zeit des Hoheliedes zurückprojiziert. Im Bibeltext ist nicht davon die Rede, dass die Töchter Jerusalems und die Sprecherin zu verschiedenen sozialen Klassen gehören oder dass erstere eine hellere Hautfarbe haben. Diese Rassistische Interpretation des Hoheliedesrassistische Interpretation des Anfangs des Hoheliedes hat allerdings schon eine lange Tradition. Die drei Theologinnen zitieren daher auch den Kirchenvater OrigenesOrigenes, der diese Stelle aufgreift:
„Schwarz durch die Schmach der Rasse, aber schön durch Buße und Glauben; Schwarz durch Sünde, aber schön durch Buße und die Früchte der Buße (…) Sie, die schwarz ist, ist weder von Natur aus noch vom Schöpfer so geschaffen, sondern hat diese Situation versehentlich erlitten.“4
OrigenesOrigenes vergleicht die schöne schwarze Frau mit der Seele, die durch die Sünde schwarz geworden sei, aber durch das Zurückweisen der Schwärze zum Licht aufsteigen könne. ‚Schwarz‘ gilt ihm also als negativ und von Gott entfernt, ‚weiß‘ als erlöst und von der Sünde befreit. Dass es tatsächlich Menschen gibt, deren dunklere Hautfarbe „vom Schöpfer so geschaffen“ ist, scheint ihm nicht in den Sinn gekommen zu sein.
In dieser Metaphorik steckt ein tiefer Rassismus, der sich in der Hartnäckigkeit der adversativen Übersetzung des Verses zeigt und damit Schwarze Mädchen und Frauen einer positiven Identifikationsmöglichkeit mit sich selbst, ihrer Hautfarbe, „ihrer Erotik, Sinnlichkeit und Schönheit“5 beraubt. Die Übersetzung und Wirkungsgeschichte von Hld 1,5Hld 1,5 ist nur ein Beispiel für den Rassismus, der christliche Theologien prägt, seit sie in Europa Fuß gefasst und sich europäisch entwickelt haben.
In den postkolonialen Studien wird der europäische Rassismus als eine der prägendsten Grundstrukturen des Kolonialismus und der postkolonialen Verhältnisse angesehen. Für Aníbal QuijanoQuijano, Aníbal stellt die heutige globalisierte Welt „die Vervollkommnung eines Prozesses dar, der mit der Gründung Amerikas und des kolonial/modernen und eurozentrischen Kapitalismus begann“6, wobei er hier mit „Amerika“ die Erfindung einer für die EuropäerInnen neuen Welt westlich Europas bezeichnet. Der Rassismus ist in diesem Prozess „eine der fundamentalen Achsen“7, die auf einer Teilung der Menschheit gemäß der „phänotypischen Differenzen zwischen Siegern und Besiegten“8 beruhe. Gemäß QuijanoQuijano, Aníbal ist der Rassismus
„die soziale Klassifikation der Weltbevölkerung gemäß der Idee der ‚Rasse‘, eine mentale Konstruktion, die die Grunderfahrung der kolonialen Herrschaft zum Ausdruck bringt, und die seither die wichtigsten Dimensionen der weltweiten Macht durchdringt.“9
Diese soziale Klassifikation setzt sich bis in die Gegenwart