Postkoloniale Theologien. Stefan Silber

Postkoloniale Theologien - Stefan Silber


Скачать книгу
und unmittelbarer Verbindung und kann so auch mit heutigen afroamerikanischen Kulturen in Lateinamerika in Beziehung gesetzt werden, ohne dafür den Umweg über die europäischen Eroberer nehmen zu müssen.

      2.5 Gibt es überhaupt Religionen?

      Die Frage in der Überschrift mag zunächst ungewöhnlich erscheinen. Die postkoloniale Kritik an der erkenntnistheoretischen Kategorie der Religion kann jedoch die Konsequenz nach sich ziehen, danach zu fragen, was mit diesem Begriff denn nun eigentlich gemeint ist: Auf welche kulturellen und historischen Phänomene trifft der Begriff in welcher Weise zu? Gibt es ein Machtinteresse, das mit seiner Verwendung verbunden ist oder war? Welche Funktion übte er beispielsweise in der Legitimation und Praxis der Kolonisierung aus1?

      Auch die aktuelle Religionswissenschaft sieht berechtigte Zweifel an der Konsistenz des Religionsbegriffs, insbesondere in seiner Anwendung. Denn eine Religionswissenschaft, die sich neutral gegenüber den Selbstdefinitionen der Religionsgemeinschaften, insbesondere dem Konfessionalismus verhalten will, steht vor dem Problem zu entscheiden, wie eine Religion genau zu definieren oder zu beschreiben ist. So schreibt Ulrich BernerBerner, Ulrich:

      „Die Problematik all dieser Ordnungs- und Klassifikationsversuche […] liegt […] in der Tendenz zur Essentialisierung, d.h. der Tendenz, das ‚Wesen‘ oder die ‚Sinnmitte‘ der einzelnen Religionen oder der Religion überhaupt zu definieren.“2

      Welchen Stellenwert besitzt beispielsweise für ‚das Christentum‘ die Bibel oder die Eucharistie? Je nach christlicher Konfession wird das ein anderer sein. Dasselbe gilt für den Sabbat ‚im Judentum‘ oder den Koran ‚im Islam‘. BernerBerner, Ulrich zitiert daher Pierre BourdieuBourdieu, Pierre mit der Aussage, dass vielen „gemeinhin als christlich bezeichneten Glaubensinhalten und Praktiken“ oft „kaum mehr als der Name gemein ist“3.

      Nicht-Homogenität von ReligionenReligionen sind also nicht homogen, wurden aber gerade in der kolonialen Praxis häufig als solche behandelt, um sie durch die ↗ Essentialisierung leichter beherrschen und manipulieren zu können, sowie durch sie die koloniale Herrschaft zu stabilisieren. Die koloniale Religionswissenschaft unterstützte diese Praxis, indem sie verschiedene Ausprägungen einer Religion zu ‚abweichenden‘ oder ‚heterodoxen‘ Strömungen erklärte, häufig in Übereinstimmung mit einheimischen Eliten, mit denen die Kolonialbeamten zusammenarbeiteten.

      → KwokKwok, Pui-lan Pui-lan kritisiert diese westliche religionswissenschaftliche Praxis als eine „Reifizierung der Religionen“4, also ihre Verdinglichung oder Essentialisierung. Was an einer Religion lebendig, flexibel und auf Austausch ausgerichtet ist, wird zugunsten eines starren, scheinbar wissenschaftlichen Begriffs von unterscheidbaren Religionsgemeinschaften zurückgedrängt.

      Dieser Ausschluss kann sogar – wie der chinesische Theologe LaiLai, Pan-chiu Pan-chiu erläutert – christliche Traditionen in einem kolonialen Setting treffen: Christliche Spuren in Asien, die von nestorianischen, arianischen und monophysitischen ChristInnen aus der Zeit ihrer Verfolgung im Römischen Reich stammen, wurden in der kolonialen Mission nicht als etwas christlich-Eigenes aufgegriffen sondern als heterodox abgelehnt. Sie können aber heute zur Ausbildung einer eigenen, inkulturierten chinesischen Identität des Christlichen beitragen5.

      Der Reifizierung oder Verdinglichung der Religionen entspricht eine trennende oder unterscheidende Abgrenzung der einen von der anderen Religion. Die verschiedenen Beziehungen, die Angehörige der Religionen untereinander aufbauen, werden marginalisiert oder zur Abweichung erklärt. So scheinen etwa die Möglichkeiten der Marienverehrung im Hinduismus6 oder der Sabbatobservanz statt Sonntagsheiligung im Christentum für die jeweilige Religion untypisch zu sein. Sie stellen aber Beispiele von Praktiken dar, die bei Angehörigen vieler Religionen selbstverständlich geübt werden, wenn sie in ihren Kontexten mit Riten und Überzeugungen von Angehörigen anderer Religionen in Berührung kommen. Solche Phänomene verweisen auf diese Weise darauf, dass eine essentialistische Beschreibung von Religionen ihrer lebendigen kulturellen und interkulturellen Dynamik überhaupt nicht angemessen ist.

      Vielmehr muss jedes Studium ‚der Religionen‘ der Tatsache Rechnung tragen, dass es Vielfältige Beziehungen zwischen Religionenvielfältige Beziehungen zwischen den Religionen gibt, nicht nur Ähnlichkeiten, sondern auch wechselseitige Abhängigkeiten, geteilte und verwobene Geschichten. Der Begriff der „entangled histories“7, der von der postkolonialen Ethnologin Shalini RanderiaRanderia, Shalini vertreten wird, und die Tatsache benennt, dass auch scheinbar getrennte Geschichten immer ineinander verwoben und miteinander verflochten sind, hat hier seine besondere Berechtigung.

      So zeigt beispielsweise Sigrid RettenbacherRettenbacher, Sigrid in ihrer Dissertation, wie verschiedene Religionsgemeinschaften ihre Beziehungen, Differenzen und Abgrenzungen im Lauf der Geschichte immer wieder durch ↗ Verhandlungen im Diskurs ausbildeten8. Christentum und Judentum waren nach dieser Lesart sehr viel länger miteinander verbunden und trennten sich erst dann in zwei voneinander zu unterscheidende Religionsgemeinschaften, als das Christentum eine Machtposition im Römischen Reich gewonnen hatte. Der äußeren Abgrenzung zwischen den künftig als getrennt wahrgenommenen Religionen entspricht dabei genau auch eine innere Essentialisierung:

      „Mit der Trennung bzw. Schaffung von Judentum und Christentum im vierten Jahrhundert wurde also zugleich auch die Differenz von Orthodoxie und Häresie festgeschrieben, so dass fortan eindeutig zu definieren war, wer sich drinnen und wer sich draußen befindet.“9

      → R.S. SugirtharajahSugirtharajah, R.S. macht auf die Verflochtenheit des Christentums mit den asiatischen Religionen aufmerksam: Durch „Händler, Handwerksleute, Migranten und vor religiöser Verfolgung Flüchtende“10 breitete sich das ‚Christentum‘ in den ersten Jahrhunderten in die gesamte damals bereiste Welt, bis ins heutige Japan, aus, ohne gezielt ‚Mission‘ im heutigen (oder im kolonialen) Sinn zu betreiben. Auch umgekehrt lassen sich Spuren östlicher Weisheit und Kulturen in den christlichen Überlieferungen nachweisen. So korreliert Sugirtharajah den historisch bezeugten „religiösen Akt der freiwilligen Selbstopferung“11, der von dem indischen (buddhistischen?) Emissär ZarmanochegasZarmanochegas im Jahr 37 v. Chr. in Athen vollzogen wurde, mit der Selbstverbrennung, auf die PaulusPaulus in 1 Kor 13,31 Kor 13,3 anspielt. Religiöse Traditionen müssten insofern immer als ↗ Hybride gelesen werden und verweisen auf interreligiöse Beziehungen.

      In der postkolonialen Kritik wird aus diesen Gründen der Infragestellung des ReligionsbegriffsReligionsbegriff selbst in Frage gestellt. Der britische Religionswissenschaftler Richard KingKing, Richard urteilt, dass der Begriff Religion selbst „eine Kategorie der christlichen Theologie“ sei, „das Produkt kulturell spezifischer Diskursprozesse christlicher Theologie im Westen, hergestellt im Schmelztiegel interreligiösen Konflikts und Interaktion.“12 Durch die Aufnahme dieses christlich-theologischen Begriffs in die westliche Religionswissenschaft, argumentiert KwokKwok, Pui-lan Pui-lan, erhält er eine Deutekraft über alle Phänomene weltweit, die mit ihm bezeichnet werden, ungeachtet ihrer kulturellen Besonderheiten, sogar in säkularen akademischen und dadurch auch nicht-akademischen Kontexten. „Auf diese Weise dient das Christentum weiterhin als Prototyp einer Religion und als Standard, mit dem andere Weisheitstraditionen bewertet werden“13, folgert Kwok.

      Auch Sigrid RettenbacherRettenbacher, Sigrid argumentiert (mit Daniel BoyarinBoyarin, Daniel): „Religion“ gibt es als „erkenntnistheoretische Kategorie[…]“14 nicht vor dem 4. Jahrhundert u.Z. Diese Kategorie und mit ihr die ‚Religionen‘ des Christentums und des Judentums wurden „erfunden“ (invented)15, um das bezeichnen zu können, was sich durch die Trennung von Judentum und Christentum auszudifferenzieren begann. Diese religionswissenschaftliche Kategorie kann daher nicht ohne weiteres auf ganz andere kulturelle Phänomene in weit entfernten Kontexten angewendet werden.

      Welche Konsequenzen sich daraus für die koloniale Religionswissenschaft ergaben, zeigt RettenbacherRettenbacher, Sigrid an zahlreichen Beispielen. So zeichnet sie nach, wie bei der kolonialen Beschreibung des Hinduismus gezielt nach Phänomenen gesucht wurde, die man aus dem Christentum kannte, nämlich heiligen Schriften und geistlichen Eliten, ohne sich zu fragen, ob solche Institutionen tatsächlich auch eine wichtige Bedeutung in der untersuchten ‚Religion‘ besaßen – bzw. welche Bedeutung das war16. So kann man von einer


Скачать книгу