Postkoloniale Theologien. Stefan Silber
geschichtlicher Erinnerung gewissermaßen zu destillieren, sondern die Widerstandsformen zu beschreiben, durch die sie transformiert und weitergegeben wird. Auf diese Weise ist es möglich, nicht nur von der ursprünglichen indigenen Weisheit, sondern auch von den Erfahrungen des Widerstandes für die Gegenwart zu lernen.
Die Geschichte der Unterworfenen und ihres Widerstands ist daher nicht dazu verdammt, verloren zu gehen. Vielmehr ist es möglich, mit geeigneten Methoden, mit Rücksicht auf die Stimmen der Subalternen selbst und durch eine Korrektur der nach westlichen Vorstellungen geprägten Geschichtswissenschaften und der Vorstellung von Geschichte selbst Alternativen zu konstruieren, in denen diese subalterne Geschichte erinnert und tradiert werden kann. So bilanziert auch Randall StyersStyers, Randall (in einem Vorwort zu postkolonial-kirchenhistorischen Beiträgen):
„Die Kolonisierung hat es selten geschafft, die Kolonisierten aus der Geschichte zu streichen. So wie postkoloniales Schreiben das Potenzial zeigt, sich einen Weg in die Revision des historischen Narrativs zu erkämpfen, so bieten auch die folgenden Beiträge neue Einblicke, wie die Historikerin/der Historiker zu den Bemühungen beitragen kann, dieses Narrativ anzufechten und zu erweitern.“11
2.8 Überschneidungen verschiedener Achsen der Kolonialität
Der feministische Theoriebegriff der ↗ Intersektionalität wird auch in den postkolonialen Studien sehr häufig eingesetzt. Gabriele WinkerWinker, Gabriele und Nina DegeleDegele, Nina verorten den Ursprung dieses Konzepts in den „Erfahrungen Schwarzer Frauen, die sich im Feminismus westlicher Weißer Mittelschichtsfrauen nicht wieder fanden“1, vor allem in den USA der 1970er Jahre. Unterdrückungserfahrungen aufgrund von Rassismus und Sexismus können demnach nicht einfach addiert werden, sondern überlappen und beeinflussen sich wechselseitig. Diese Überlappungen oder Überschneidungen wurden seit den 1990er Jahren ‚Intersektionen‘ genannt und das theoretische Konzept der systematischen Analyse ihrer wechselseitigen Einflussnahme ‚IntersektionalitätIntersektionalität‘.
Weitere Achsen der Ungleichbehandlung, Exklusion oder Ausbeutung kamen im Lauf der Zeit zu dieser immer komplexer werdenden Analysemethode hinzu. Die Theologin → Namsoon KangKang, Namsoon nennt „Geschlecht, Rasse, Ethnizität, Schicht, Sexualität, Unfähigkeit und Befähigung, Nationalität, Staatsangehörigkeit, Religion usw.“2 – insbesondere das abschließende „usw.“ verweist auf die prinzipielle Unabgeschlossenheit, die dem Konzept innewohnt. Alter, Bildung und Beruf erscheinen darüber hinaus als weitere wichtige Kategorien, die in die Analyse aufgenommen werden können.
WinkerWinker, Gabriele und DegeleDegele, Nina verdeutlichen nun, dass diese verschiedenen Achsen der gesellschaftlichen Ordnung nicht unabhängig voneinander sind und deswegen auch in ihrer Beziehung zueinander analysiert werden müssen, da diese „Kategorien in verwobener Weise auftreten und sich wechselseitig verstärken, abschwächen oder auch verändern können“3. Das „Ziel ist dabei die umfassende theoretische und vor allem empirische Analyse, welche Bedeutung verschiedene Differenzkategorien bei Phänomenen und Prozessen unterschiedlichster Art haben.“4
Auch Namsoon KangKang, Namsoon spricht hinsichtlich postkolonial-theologischer Szenarien von einer „Verstrickung von Kolonialismus, Geschlecht und Religion“5. Über die unmittelbaren historischen Auswirkungen des Kolonialismus hinaus ist es daher notwendig, seine Verwobenheit auch in andere Machtstrukturen und Ausschlussmechanismen aufzudecken. Postkoloniale Theoriebildung impliziert daher auch die
„Analyse mehrfacher komplexer Zusammenhänge von Herrschaft und Unterdrückung und von Macht und Wissen, die voneinander untrennbar sind, sich jedoch nicht aufeinander zurückführen lassen.“6
KangKang, Namsoon verdeutlicht, dass jede einzelne dieser Achsen – sie beschränkt sich in ihrer Analyse weitgehend auf Kolonialismus, Geschlecht und Religion – dazu neigt, binäre Strukturen von „Zentrum und Rand, […] Einschluss und Ausschluss“7 zu produzieren. Durch die Überschneidungen werde es jedoch zunehmend „schwierig, haargenau zu definieren, wer ‚wir‘ und wer ‚sie‘ sind. Das Wir als singulär-monolithische Identität wird unmöglich, problematisch und sogar gefährlich“8. Gerade in kolonial-missionarischen Konstellation erscheine darüber hinaus „Religion als eine heilige Sanktion solcher Macht-Asymmetrie“9.
Erschwert wird die Analyse dieser komplexen und verwobenen Intersektionen darüber hinaus noch durch die Tatsache, dass Machtverhältnisse verzerrt, verschleiert und maskiert werden. Insbesondere diejenigen, die in (post-)kolonialen Kontexten Macht ausüben, bleiben oft unerkannt, da ihre Position „häufig unsichtbar und getarnt ist“10. Nicht zuletzt die Religion spielt dabei aus historischen Gründen oft eine entscheidende Rolle.
KangKang, Namsoon folgert aus ihrer Untersuchung Fünf Konsequenzen für die Produktion von Theologiefünf Konsequenzen für die Produktion von Theologie in postkolonialen Räumen mit dem Instrumentarium der Intersektionalitätsanalyse: Zunächst ist es wichtig, die „westliche Konstruktion einer binären Festgelegtheit [zu] dekonstruieren“11. Dies bedeutet, die Prozesse des ↗ Othering und der ↗ Essentialisierung, die auch in diesem Kapitel beschrieben wurden, aufzudecken und ihre Funktionsweise und Zielrichtung bloßzulegen. Eine zweite Konsequenz besteht in der Auflösung der Hegemonien, die in den verschiedenen sich überschneidenden Achsen konstruiert wurden, also beispielsweise des ↗ Eurozentrismus und des Sexismus. Dabei warnt sie vor „postkolonialer Rache“12, also dem Wunsch, die Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen, Zentrum und Peripherien, Kolonisierten und KolonistInnen einfach umzukehren. Diese Dekonstruktion der Hegemonien dient vielmehr der „Hinterfragung von theologischen Normen und Maßstäben“13.
Als dritte Konsequenz für die Theologie fordert KangKang, Namsoon, die „Hypersensibilität für die Marginalisierten [zu] fördern“14. Denn innerhalb intersektionaler Settings sind diese Marginalisierten in mehrfacher Hinsicht bedrängt, nämlich auf den verschiedenen sich überschneidenden Achsen. Jede Parteinahme für sie – die sie aufgrund der Weltgerichtsrede in Mt 25,31-46Mt 25,31-46 für christlich geboten hält – gerät selbst unter den Verdacht der Machthabenden. Deswegen zieht Kang auch die weitere Konsequenz, die Legitimität der Standpunkte, Perspektiven und Erfahrungen der Marginalisierten „radikal“ anzuerkennen15. Der theologische Grund dafür liegt schließlich für Kang in der Gottebenbildlichkeit der Marginalisierten, die aufzuzeigen und zu rehabilitieren eine entscheidende theologische Konsequenz aus der intersektionalen Analyse ist.
Diese kritische theologische Analyse und Neuorientierung geschieht für Namsoon KangKang, Namsoon im Raum der Kirche und der theologischen Tradition und übersteigt beide zugleich. Diese Weiterentwicklungen sind notwendig, um dem Christentum seinen befreienden Charakter zurückzugeben, den es durch imperialen und kolonialen Einfluss eingebüßt hat.
2.9 Hegemonie. Zusammenfassung
Die verschiedenen in diesem Kapitel vorgestellten Diskurspraktiken bewirken in kolonialen Kontexten, dass die militärische, politische und wirtschaftliche Herrschaft des Kolonialismus auch kulturell abgesichert wird, ja als Selbstverständlichkeit gelten kann. Denn die behauptete Überlegenheit der europäischen, ‚weißen‘, christlichen und männlichen Eroberer wird aufgrund dieser tief wurzelnden und kulturell verankerten Überzeugungen nur schwer anfechtbar.
Diese selbstverständliche Überzeugung lässt sich als ↗ ‚Hegemonie‘ bezeichnen, ein Begriff des marxistischen Philosophen Antonio GramsciGramsci, Antonio, der in den postkolonialen Studien breit rezipiert wurde. Darunter versteht Gramsci „grundlegend […] die Macht der herrschenden Klasse, andere Klassen davon zu überzeugen, dass ihre Interessen die Interessen aller sind“1. Diese Hegemonie ist zuvörderst ein kultureller Effekt. Gramsci kontrastiert ihn mit offenen und direkten Formen der Machtausübung, die sichtbar und spürbar sind. Vielmehr setzt die Hegemonie auf die Kraft der inneren Überzeugung:
„Herrschaft wird so weder durch Zwang noch notwendigerweise durch aktive Überredung ausgeübt, sondern durch eine subtilere und inklusive Macht über die Wirtschaft und über staatliche Institutionen wie Bildung und Medien, von denen die Interessen der herrschenden Klasse als Allgemeininteresse dargestellt und auf diese Weise als selbstverständlich akzeptiert wird.“2
Die in den letzten Abschnitten