Postkoloniale Theologien. Stefan Silber
zeigt sich dieses europäische Überlegenheitsdenken4. Die kulturelle Kontextualisierung des Christentums im griechisch‐römischen Denken, die bereits zur Zeit der Abfassung des Neuen Testaments beginnt, wird zur Basis einer universalen Theologie erklärt, aus der sich die Theologien anderer Kulturkreise nähren sollen. Die Herkunft des Christentums aus einer nichteuropäischen Kultur wird dabei geflissentlich unterschlagen; seine jüdischen Wurzeln zum letztlich verzichtbaren „Partikularismus“5 erklärt. Europäische Theologien werden auf diese Weise zum Maßstab der Theologie überhaupt. Edward SchillebeeckxSchillebeeckx, Edward vermerkt daher auch kritisch: „Früher nahm man an, daß die Theologie der Kirchen des Westens selbstverständlich überregional, universal gültig und für jeden Menschen – unabhängig aus welcher Kultur er stammt – sofort zugänglich sei“.6
Theologische Aufbrüche auf anderen Kontinenten können auf diese Weise immer mit dem Verweis auf den universellen Anspruch der europäischen Theologie abgewehrt werden. Diese Tendenz lässt sich sogar in der frühen Rezeption der Theologie der Befreiung durch die Neue Politische Theologie nachweisen, in der die Abhängigkeit der ersteren von der letzteren unterstellt wurde7.
Paulo SuessSuess, Paulo kritisiert den Universalanspruch der europäischen Theologie als eine Verfälschung des Christentums8. Für Suess steht dieser Universalismus in einem engen Zusammenhang mit dem Anspruch des europäischen Denkens, Wissenschaft im Singular zu repräsentieren und damit alternative oder konkurrierende Formen des Wissens abzuwerten oder auszuschließen:
„Der Universalismus überlässt das erste und das letzte Wort der Wissenschaft, die er als universal ansieht, weil sie keinem kontextuellen Einfluss unterliegt. Deshalb ist das lokal verankerte Wissen aufgrund seiner regionalen Reichweite auf einer niedrigeren Stufe anzusiedeln und von einem Dialog mit der Wissenschaft ausgeschlossen. Der wissenschaftliche Universalismus wurde ebenso wie der Rassismus und das Patriarchat zu einem Herrschaftsinstrument. Im Bereich der Theologie taucht diese Frage in Gestalt des Streits zwischen universaler Theologie und lokalen Theologien […] auf“9.
Die europäische Theologie kann aber nicht beanspruchen, eine ‚universale‘ Theologie zu sein, sondern ist selbst eine lokale, kontextuelle Theologie, die im unmittelbaren Austausch mit ihren lokalen Kontexten und deren epistemischem Horizont steht. Die Dekonstruktion dieses europäischen Universalanspruchs ist ein wichtiges Thema des indischen Historikers Dipesh ChakrabartyChakrabarty, Dipesh, Provinzialisierungder von der Notwendigkeit spricht, Europa zu ↗ „provinzialisieren“10, also dem Kontinent den regionalen (und intern pluralen) Charakter zurückzugeben, der ihm tatsächlich eigen ist, und so den universellen Anspruch als den Versuch zu enttarnen, das globale Denken zu hegemonisieren.
Der deutsche Fundamentaltheologe Elmar KlingerKlinger, Elmar nimmt diese Herausforderung der Provinzialisierung an, wenn er schreibt:
„Die europäische Theologie ist es nicht gewohnt, der europäischen Theologie den Titel europäisch zu geben. […] Der Titel ‚europäisch‘ für sie muß in den Ohren eines europäischen Theologen daher wie eine Herausforderung klingen, und er ist es auch. Denn er ist nach Meinung jener Theologen, die ihn für sie verwenden, ein Titel, mit dem sie als einem bestimmten Kulturkreis zugehörig und in ihrem Blickwinkel eingeengt bezeichnet wird.“11
Konstruktionen europäischer Überlegenheit und der Anspruch auf die universelle Bedeutung des Eigenen finden sich auch versteckt in der Geschichte der europäischen Theologie. Häufig üben sie dadurch bis heute ihren Einfluss aus, ohne dass dies unmittelbar zu erkennen ist.
Überlegenheitsdenken historisch-kritischer BibelwissenschaftSimon WiesgicklWiesgickl, Simon etwa macht am Beispiel der Entwicklung der historisch-kritischen Methode in der deutschsprachigen Bibelwissenschaft sichtbar, welche vielfältigen Wechselwirkungen zwischen dem europäischen Überlegenheitsdenken, dem Kolonialismus des 18./19. Jahrhunderts und der Entstehung einer bis in die Gegenwart äußerst einflussreichen exegetischen Methode bestand12. Denn die kritische Analyse der Kontexte, in denen biblische Erzählungen situiert oder redigiert wurden, bediente sich häufig der orientalistischen Konstruktionen kolonialer Reisebeschreibungen.
WiesgicklWiesgickl, Simon macht sich Edward SaidSaid, Edwards Kritik dieser europäischen Vorstellungen vom Orient zu eigen. So arbeitet er heraus, dass Bibelwissenschaftler, die zu den Gründern der historischen Kritik zählen, sich religiöse, politische und wirtschaftliche Kontexte für biblische Texte vorstellen, die zwar mehr oder weniger denselben geografischen Raum, jedoch völlig andere historische und kulturelle Epochen betreffen. Zudem beschreibt Wiesgickl die bei den Wissenschaftlern des 18./19. Jahrhunderts anzutreffende Vorstellung einer abgestuften Entwicklung der Menschheit, wonach sowohl die biblischen Kontexte wie die Unterworfenen der zeitgenössischen Kolonien sich in einer Art „Kindheitsalter der Menschheit“13 befänden, während Europa bereits im Erwachsenenalter angekommen sei.
Besonders drastisch wirkt dieses europäische Überlegenheitsdenken in der von WiesgicklWiesgickl, Simon dokumentierten Vorstellung historisch-kritischer Bibelwissenschaftler, die in der Umstellung, Kürzung oder Korrektur biblischer Überlieferungen einen Beitrag zur Verbesserung des Bibeltextes zu leisten meinten:
„Die biblischen Bücher galten den Wissenschaftlern als ein Hort unsortierter, nicht nach Gattung, Echtheit und Charakter unterschiedenes Sammelsurium an Texten, in die nun deutsche Alttestamentler Ordnung zu bringen hätten.“14
Denn „deutsche Wissenschaft“, so belegt WiesgicklWiesgickl, Simon mit Dokumenten aus der Zeit, „verstehe ihr Gegenüber besser als dieses selbst zu vergegenwärtigen vermag“15. Dass dies ausgerechnet der deutschen Literaturwissenschaft und Theologie besser als anderen europäischen Wissenschaften möglich sein solle, ist kein Zufall und wurde in der untersuchten Zeit mit nationalistischen und chauvinistischen Argumenten untermauert. Wiesgickl deckt dabei auch Wechselwirkungen von Antijudaismus und Bibelwissenschaft auf, insofern eine hohe und zugleich chauvinistische Wertschätzung der alttestamentlichen Texte mit einer radikalen Abwertung und Ablehnung des zeitgenössischen jüdischen Zugangs zu den eigenen heiligen Texten einhergehen konnte16.
Die von WiesgicklWiesgickl, Simon kritisierte europäische Idee der Entwicklung der Menschheit wird vom brasilianischen Theologen Alfredo J. GonçalvesGonçalves, Alfredo mit HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich Lehre vom Weltgeist in Verbindung gebracht: Die Menschheit würde nach dieser Vorstellung „in jeder Etappe ihrer Geschichte immer zivilisierter, das heißt, fortschrittlicher und moderner werden“17. Dies würde dann selbstverständlich unter der Führung Europas geschehen, so dass die anderen Teile der Welt sich immer in einer Etappe ihrer Entwicklung befinden würden, die einer früheren Geschichtsepoche Europas entsprechen würde. Sie hinken also gewissermaßen immer und uneinholbar den europäischen Entwicklungen hinterher.
→ KwokKwok, Pui-lan Pui-lan zeigt, dass dieses Fortschrittsdenken auch Konsequenzen in den europäischen Religionswissenschaften nach sich zog. Nichtchristliche Religionen wurden als noch nicht so hoch entwickelte Formen der Religion betrachtet, sozusagen als Vorstufen zum Christentum. Kolonisierung und Mission würden dann der Weiterentwicklung und Modernisierung dieser Religionen dienen. So könnten sie ein ähnlich hoch entwickeltes Stadium wie das Christentum erreichen. In der protestantischen Religionswissenschaft gilt noch zur Zeit der Missionskonferenz von Edinburgh 1910 das Christentum als Erfüllung aller ReligionenChristentum als die Erfüllung aller Religionen18.
Aber auch in der Gegenwart lassen sich ähnliche Vorstellungen von einem Christentum, das einfach weiter fortgeschritten sei als andere Religionen oder von einem europäischen Christentum, dem gegenüber die Kirchen anderer Kontinente weniger entwickelt seien, nachweisen. KwokKwok, Pui-lan nennt für den protestantischen Bereich den Einfluss von Karl BarthBarth, Karl, dessen Trennung von Glaube und Religion wiederum neu zu einer Abwertung der nichtchristlichen Religionen geführt habe19.
Die kolumbianische Bibelwissenschaftlerin Maricel Mena LópezMena López, Maricel dekonstruiert auf geschickte Weise die Hegemonie weißer, europäischer Stereotypen in der Bibelwissenschaft: Sie untersucht die afrikanischen und asiatischen Wurzeln der biblischen Texte20. Denn die Bibel ist kein europäisches Buch, auch wenn sie in Lateinamerika mit diesem Anspruch aufgetreten ist. Sie ist auch nicht „zu 100 % semitisch“21, wie Mena LópezMena López, Maricel unterstreicht, sondern entstand in einem jahrhundertelangen Dialog