Geschichte der deutschen Literatur Band 4. Gottfried Willems
wenige über der Industrialisierung extrem reich, und das müssen sie auch, denn zur Finanzierung der industriellen Massenproduktion bedarf es gewaltiger Mittel, bedarf es neuer Formen der „Akkumulation von Kapital“ (Karl Marx). Es bildet sich eine neue Schicht der Gesellschaft, die Bourgeoisie, gekennzeichnet durch neue Typen von Besitzbürgertum wie den Kapitalisten, den „Entrepreneur“ – den Unternehmer –, den Industriekapitän, den Finanzjongleur und den Börsenspekulanten, Typen, die bald schon eine große gesellschaftliche Bedeutung erlangen und dementsprechend auch in die Literatur einwandern.
Der Kontrast könnte nicht größer sein: hier die neuen Superreichen – da die verarmte Landbevölkerung und das kaum weniger arme Industrieproletariat. „Durch alle unsere Verhältnisse“, konstatiert Gutzkow, „zieht sich der gewaltige sociale Riß, diese klaffende Wunde des Jahrhunderts“ (GS 2, 169). So hat die Dynamik der Modernisierung im 19. Jahrhundert unausgesetzt sozialen Sprengstoff produziert; die Kollateralschäden des Fortschritts werden unübersehbar.
Progressiv vs. konservativ
Darauf konnte und kann man auf unterschiedliche Weise reagieren. Zwei typische Wege zeichnen sich bereits zu Beginn des [<<16] 19. Jahrhunderts deutlich ab. Da sind auf der einen Seite diejenigen, die die negativen Folgen des Fortschritts durch ein Noch-Mehr an Fortschritt, durch einen besseren, tiefergreifenden, fortschrittlicheren Fortschritt überwinden wollen – der Weg der Progressiven, der sich alles in allem durchgesetzt hat und bis heute in den meisten praktischen Belangen den Kurs der Gesellschaft bestimmt. Und da sind auf der anderen Seite diejenigen, die den Fortschritt an die Kette legen, im Rückgriff auf die Tradition begrenzen, zähmen, domestizieren wollen, die ihn in altbewährte Strukturen einfangen und so eine gewisse Stabilität in den Wandel bringen wollen – der Weg der Konservativen.
Solche konservativen Gedanken haben das 19. Jahrhundert nicht weniger bewegt als der Fortschritt, weshalb man von ihm auch als von einer Zeit der „defensiven Modernisierung“ (Hans-Ulrich Wehler) gesprochen hat. Sie haben sich vor allem an den Mobilisierungseffekten der Modernisierung entzündet, an der immer weiter um sich greifenden, immer totaler werdenden Mobilmachung von Natur und Gesellschaft, über der sich die Welt in einen einzigen gewaltigen Verschiebebahnhof für Menschen und Dinge zu verwandeln schien – an eben dem, was man „Entwurzelung“ nannte. Und so ist das 19. Jahrhundert nicht nur ein Jahrhundert der Begeisterung für den Fortschritt geworden, sondern zugleich auch das Jahrhundert des Historismus, einer immer intensiveren Beschäftigung mit dem kulturellen Erbe, insbesondere mit überkommenen Modellen einer weniger mobilen, stabiler scheinenden Gesellschaftsordnung.
Nicht jeder vermag bekanntlich bei der Modernisierung gleich gut mitzuhalten. Früher oder später kommt auch der flexibelste Mensch in seinem Leben an einen Punkt, wo ihm der ständige Wandel der Lebensverhältnisse, die permanente Transformation des Wissens, der Anforderungen der Gesellschaft, der sozialen Beziehungen, der Arbeitswelt und des Alltags über den Kopf wachsen und er nicht mehr mitgehen kann und will – die anthropologische Grenze der Modernisierung. Denn zur Grundausstattung des Menschen gehört nicht nur die Neugier; er ist nicht nur „rerum novarum cupidus“, auf Neues begierig, und insofern auf Erneuerung hin angelegt. Er ist auch ein Gewohnheitstier; Gewohnheit ist, wie schon Aristoteles wußte, seine zweite Natur. Und dieses Gewohnheitstier im Menschen beginnt sich zu wehren, wenn es sich durch die Modernisierung überfordert fühlt, beginnt [<<17] zumindest von der „guten alten Zeit“ zu träumen, als von einer Zeit, in der noch weniger Bewegung in der Welt gewesen wäre, in der die Welt überhaupt noch in Ordnung gewesen wäre und man sich leichter in solche Ordnung hätte finden können.
Historismus
Und so hat das 19. Jahrhundert wie die Zukunftsvisionen des Fortschrittsglaubens, so auch den Blick zurück in die Geschichte kultiviert,1 in der Hoffnung, der Gegenwart als einem „System der Unordnung“ (GS 2, 71) entkommen und in einer besseren, weniger unruhigen, weniger konfliktgeladenen und bedrohlichen Welt ankommen zu können. Das Interesse richtete sich vor allem auf Modelle einer stabileren gesellschaftlichen Ordnung, auf Modelle, deren Wiederbelebung dazu verhelfen sollte, dem Fortschritt Zügel anzulegen und ihn auf Menschenmaß zu bringen, ihn nämlich auf das Maß an Veränderung zu reduzieren, das das Gewohnheitstier im Menschen allenfalls noch würde verkraften können. Das ist das zentrale Motiv des Historismus.
Dieser Historismus wurde zu einer Quelle immer neuer Projekte und Moden, wie er überhaupt seinerzeit die tollsten Blüten trieb. Das 19. Jahrhundert liebte das historische Kostüm. Wenn Borsig in Berlin eine neue Fabrik für Lokomotiven baute oder wenn in einer der ständig wachsenden Städte ein neuer Bahnhof errichtet wurde, dann gab man diesen Gebäuden eine Fassade, die bei einem gotischen Dom, einem Palazzo der Renaissance oder einem Lustschloß des Rokoko abgeguckt war. Die Werke des Fortschritts wurden historisch maskiert, damit sie noch irgendwie nach etwas Menschlichem, dem Menschen Gemäßen aussähen. Am deutlichsten zeigt sich dieses eigentümlich zwiespältige Verhältnis zum Fortschritt in der Architektur und der Bildenden Kunst. Da finden sich nebeneinander sämtliche Stile des alten Europa wieder, Romanik und Gotik, Renaissance und Barock, Rokoko und Klassizismus, und womöglich nicht nur nebeneinander, sondern an ein und demselben Objekt. Man denke nur an Gebäude wie den Reichstag in Berlin oder die alten Hauptbahnhöfe der großen Städte. Ein früher Vertreter dieses Historismus war der preußische Staatsbaumeister [<<18] Karl Friedrich Schinkel (1781–1841), ein Architekt, der sich sowohl auf die neuesten, fortschrittlichsten Bautechniken verstand als auch die Kunst beherrschte, einem Gebäude jedes gewünschte historische Kostüm anzumessen.
1.4 Literatur und Modernisierung im 19. Jahrhundert
Die Welt wird modern. Die Modernisierung nimmt Fahrt auf und entfaltet eine Dynamik, die nach und nach das gesamte Leben verändert. Hier macht sie es leichter, da erschwert sie es, die einen läßt sie Karriere machen, die anderen stürzt sie ins Elend. So versetzt sie die Menschen bald in Begeisterung und bald in Angst und Schrecken. Und so arbeitet man sich unausgesetzt an ihren Folgen ab, sei es daß man sich im Sinne des Progressismus darum bemüht, den Fortschritt immer fortschrittlicher zu machen, oder daß man ihn im Sinne des Konservatismus mit Mitteln des Historismus einzuhegen und zu zähmen versucht. Damit haben wir nun einen ersten großen Komplex von Fragen vor uns, der die Literatur des 19. Jahrhunderts „im Innersten bewegt“. Demgemäß finden sich in ihr auch die beiden Grundhaltungen zur Modernisierung wieder, und zwar, vereinfacht gesprochen, der Progressismus als Realismus und der Konservatismus als Romantizismus.
Romantizismus
Die Ausbildung des Denkens, das die Probleme der Modernisierung im Sinne von Konservatismus und Historismus angeht, ist eng mit der Geschichte der romantischen Bewegung verknüpft. Ein Grundimpuls der Romantik2 ist die Vorstellung, daß die moderne Welt im Grunde nicht zum Ansehen sei, daß sie in ihrem Mangel an Schönheit, in ihrer monströsen Häßlichkeit nur schwer zu ertragen sei und daß Kunst und Literatur dem modernen Menschen vor allem dann etwas würden geben können, wenn sie ihn anderes schauen ließen als diese moderne Welt, wenn sie ihn wenigstens in der Phantasie Verhältnisse erblicken [<<19] ließen, die nicht vom Wirbel der Modernisierung erfaßt wären und bei deren Schönheit er sich beruhigen und wieder zu sich kommen könnte.
Solche Verhältnisse will der Romantizismus vor allem in zwei Bereichen entdecken: in der Natur, genauer: in der von der Modernisierungsdynamik noch nicht erfaßten, der „unberührten“, „freien Natur“; und in der Geschichte, wie sie den modernen Menschen mit den wohlgeordneten Verhältnissen einer „guten alten Zeit“, mit vormodernen, traditionalen Gesellschaften bekanntmacht. Bei letzterem denkt der romantisch Gestimmte vor allem an das Mittelalter, als an eine Zeit, in der das gesellschaftliche Leben noch in eine stabile Ordnung eingegossen gewesen wäre, mit Kaiser und Reich, Gott und Vaterland, und in der die Menschen noch keine Kapitalisten, Karrieristen und Intellektualisten gewesen wären, sondern schlicht, fromm und tugendhaft. So etwa hat Novalis das Mittelalter in seiner Rede über „Die Christenheit oder Europa“ (1799) dargestellt.
Realismus
Demgegenüber läßt sich die Bewegung des „bürgerlichen“ oder „poetischen Realismus“3 als ein Versuch von Kunst