Geschichte der deutschen Literatur Band 4. Gottfried Willems
aufhalten, der Fortschritt nicht wieder einfangen; er ließ sich allenfalls kritisch begleiten, und vielleicht mitgestalten und über solcher Mitgestaltung zum Guten wenden. Hier sollte also nicht mehr versucht werden, den Blick gegen die modernen Verhältnisse abzuschirmen und zu Natur und Geschichte hinüberzulenken. Vielmehr sollte ihn die Kunst nun dahin bringen, auf der Gegenwart, auf den „zivilisatorischen Realitäten“ (Gottfried Benn) der Moderne zu verweilen, ja sich den neuen Lebensformen – der modernen Arbeitswelt und Ökonomie, dem modernen Leben, den Großstädten, den sozialen Problemen in Stadt und Land, den Problemen einer modernen Bildung – überhaupt zu stellen, sich ihnen in jenen Formen gesteigerter Aufmerksamkeit und Bewußtheit zuzuwenden, die die Sache der Kunst ist. [<<20]
Zu einer solchen Ausrichtung der Literatur auf die moderne Welt kam es zuerst in Frankreich und in England, als den beiden avanciertesten Ländern in Europa.4 Für Frankreich ist hier vor allem Honoré Balzac (1799–1850) zu nennen, für England vor allem Charles Dickens (1812–1870), von denen der eine um 1830, der andere um 1840 zu einem neuartigen Realismus fand, jeder auf seine Weise. Bei Balzac zieht die Literatur erstmals ohne Wenn und Aber in die moderne Großstadt ein, um sich deren Boulevards und Plätze zu erobern und ihre verschiedenen Lebensbereiche zu erkunden, von den Palästen der alten und neuen Reichen bis hin zu den Elendsquartieren der alten und neuen Armen, ja um die gesamte moderne Gesellschaft von oben nach unten und von unten nach oben zu durchmessen. Sie begibt sich in die Zentren der Macht, an die Börse und in die Unterwelt, in die Fabriken und auf das verarmte Land; sie läßt den Minister, die Marquise und den Großkapitalisten ebenso ihre Auftritte haben wie den Kleinkrämer, den Bauern und den Arbeiter. Die deutsche Literatur vermag dem nur mit einer gewissen Verzögerung zu folgen, vor allem weil es in Deutschland erst später als in England und Frankreich zu jenen Formen von Modernisierung kam, die die Literatur des Realismus in den Blick nahm; weil die neuen Realitäten hier noch nicht Gestalt angenommen hatten oder jedenfalls noch nicht mit der gleichen Deutlichkeit sichtbar geworden waren wie dort.
Übergangs- und Zwischenformen
Geht man näher auf die Literatur des 19. Jahrhunderts ein, zeigt sich freilich, daß sich der romantische und der realistische Grundimpuls kaum je in Reinkultur und keineswegs in einem deutlichen Nacheinander Geltung verschafft haben, daß sie vielmehr nebeneinander zur Wirkung gelangt sind und dabei die verschiedensten Verbindungen eingegangen sind. Und wie sollte es anders sein, da Literatur, wenn sie denn wirklich Kunst ist, wenn sie einmal ein gewisses gedankliches und ästhetisches Niveau erreicht hat, nie einseitig ist; was ihre Zeitgenossen an Einseitigkeiten kultivieren, wird von ihr aufgegriffen und in Gebilden verarbeitet, die die unterschiedlichsten Motive in ein spannungsreiches Beziehungsleben einstellen. So hat der Romantizismus durchaus progressive Züge anzunehmen vermocht, wie sich der [<<21] Realismus auch konservativ hat gebärden können. Daraus sind eine Reihe von Übergangs- und Zwischenformen entstanden, die ein Gutteil, wenn nicht das Gros der Literatur des 19. Jahrhunderts ausmachen.
Biedermeier
Zu diesen Übergangs- und Zwischenformen zählen mitunter ganze kulturelle Bewegungen, denen man wie dem Biedermeier oder der „jungdeutschen“ Literatur des Vormärz den Status einer epochalen Tendenz zugesprochen hat. Der Biedermeier5 der Zeit von 1820 bis 1850 zieht seinen Kopf ein, damit er ihm im scharfen Wind der Modernisierung nicht davonfliegt, und verdrückt sich in die geschichtsfernen Zonen seines unmittelbaren Lebensumfelds. Dieser seiner Lebenswelt wendet er sich aber nicht nur zu, um sie im Sinne der Romantik zu „poetisieren“; er faßt sie auch mit einem geschärften Realitätssinn ins Auge, der auf den Realismus der zweiten Jahrhunderthälfte vorausweist. Man denke nur an Autoren wie Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848), Eduard Mörike (1804–1875) und Adalbert Stifter (1805–1868), wie sie, jeder auf seine Weise, den Abschied von der Romantik und Übergang zum Realismus markieren.
Vormärz
Etwas Ähnliches findet sich bei den Autoren des Vormärz,6 beim „Jungen Deutschland“7 und bei Heinrich Heine. Wenn sie auch mit einem unerbittlichen Realismus die Probleme der Gesellschaft ihrer Zeit analysieren und einen Fortschritt einklagen, der diesen Namen verdient hätte, so bleiben sie doch „mit dem Herzen“ und mit ihren Ansprüchen der Poesie der Romantik verhaftet. Es ist das blutende Herz des Romantikers, wie es Heine in „Deutschland. Ein Wintermärchen“ zur Darstellung bringt (HS 7, 592–595), was sie zu Kritikern der Verhältnisse macht.
Historischer Roman
Und auch einige der beliebtesten Gattungen leben gleichermaßen aus romantischen und realistischen Impulsen heraus, so zum Beispiel der Historische Roman seit Walter Scott (1771–1832) und die [<<22] Dorfgeschichte seit Berthold Auerbach (1812–1882). Im Historischen Roman8 huldigt der Realismus, der doch eigentlich seinen Frieden mit der Gegenwart machen und die moderne Welt zur Darstellung bringen will, dem Historismus, indem er sich ältere Zeiten zum Schauplatz wählt. Während aber die Romantik bewußt ein poetisch unscharfes Bild von den älteren Zeiten gepflegt hat, ein Bild, das sich in seiner poetischen Unschärfe leichter idealisieren und zur „guten alten Zeit“, zum „Goldenen Alter“ stilisieren ließe – man denke nur an Novalis und seinen Roman „Heinrich von Ofterdingen“ (1802) – geht der Historische Roman des Realismus den geschichtlichen Verhältnissen mit der faktenbesessen-antiquarischen Attitüde des Historikers nach, bemüht er sich darum, ein möglichst getreues, detailgenaues Bild von der Vergangenheit zu zeichnen – aber eben ein Bild der Vergangenheit und nicht der Gegenwart. In diesem Sinne haben die meisten der großen Realisten auch historische Romane und Erzählungen geschrieben; einer von ihnen, Conrad Ferdinand Meyer, hat überhaupt nur Historisches verfaßt.
Dorfgeschichte
Und in der Dorfgeschichte,9 wie sie mit Auerbachs „Schwarzwälder Dorfgeschichten“ von 1843 in Mode kam, sucht der Realist in der Landschaft der Gegenwart Lebensformen auf, die noch nicht von der Modernisierung erfaßt und umgekrempelt worden sind, „grüne Stellen“ (Friedrich Theodor Vischer),10 die weithin noch durch die Nähe zur Natur und durch traditionale Lebensformen geprägt sind. Da will er des Menschen auf eine Weise ansichtig werden, die ihm in der modernen Großstadt nicht mehr möglich scheint, und er widmet sich diesem im Grunde romantischen Unternehmen durchaus mit dem geschärften Blick des Realisten, ja vielfach mit einer fast schon wissenschaftlich zu nennenden ethnologisch-volkskundlichen Akribie. Dabei muß er sich freilich darüber hinwegsetzen, daß das Landleben inzwischen weithin dem Pauperismus anheimgefallen ist und die Landflucht eingesetzt hat, der Zug der Menschen in die Städte, [<<23] die ihnen ein besseres Leben verheißen. Am Dorfeingang rennen sich sozusagen der moderne Intellektuelle, der die Lebensformen des flachen Landes sucht, und die Landbevölkerung, die vor ihnen davonläuft, wechselseitig über den Haufen.
Auf solche Weise gehen der romantische und der realistische Grundimpuls in der Literatur des 19. Jahrhunderts die unterschiedlichsten Verbindungen ein. Dessen unbeschadet sind sie aber zunächst einmal zu unterscheiden, als literarische Möglichkeiten, die aus zwei grundverschiedenen Einstellungen zur Moderne heraus erwachsen, aus dem Fortschrittszweifel und dem Fortschrittsglauben, aus der konservativen und der progressiven Haltung. Diese Haltungen zeigen sich natürlich auch in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, und sie lassen sich dort oft sehr viel deutlicher greifen als in der Literatur. Das gilt zumal für das politische Leben, dessen Diskurse anders als die literarische Rede zu plakativer Eindeutigkeit neigen. So haben die Begriffe des Progressiven und des Konservativen denn auch hier ihre scharfen Konturen erhalten.
1.5 Literatur und Politik im 19. Jahrhundert
Politisierung der Kultur
Während des gesamten 19. Jahrhunderts ist das gesellschaftliche Leben durch den Kampf zwischen den Kräften des Fortschritts – Demokratiebewegung, Liberalismus, Sozialismus – und den Mächten der Vergangenheit – Monarchie, Adel, Kirche – geprägt, ein Kampf, der sich letztlich in einem Wechselspiel von Revolutionen und Restaurationsversuchen niedergeschlagen hat. Darum verhandeln die Historiker das 19. Jahrhundert oder vielmehr seine erste Hälfte auch gerne unter der Überschrift „Revolution und Restauration“.11
Zunächst