Transkulturelle Kommunikation. Michèle Kaiser-Cooke
Um nachvollziehen und verstehen zu können, warum jemand in einer Situation was und wie kommuniziert, müssen wir also einiges über die Situation wissen, in der diese Person agiert.
Auf den Punkt gebracht
1 Kommunikationssituationen werden durch mehrere Dimensionen bestimmt.
2 Zu diesen Dimensionen gehören Rahmenbedingungen (wie räumliche, zeitliche und soziale Nähe und Distanz), Medien, Adressat*innen, Kontexte, Intentionen und Kommunikationsrollen.
3 Vorwissen und Erfahrungen spielen eine wichtige Rolle in der Kommunikation.
4 Neue Kommunikationssituationen werden auf Basis früherer Erfahrungen mit Kommunikation interpretiert.
5 Die Kommunikationssituation und die Beziehung zwischen den Kommunikationspartner*innen bestimmen nicht nur mit, wie kommuniziert wird, sondern auch, was kommuniziert wird.
Zum Weiterdenken und Vertiefen
1 Denken Sie an einen Insider*innen-Witz oder Gag in Ihrem Freund*innenkreis oder in Ihrer Familie. Stellen Sie sich vor, Sie müssten ihn einer Person erklären, die sie zum ersten Mal in Ihrem Leben sehen. Wie weit müssten Sie dabei ausholen? Welche Informationen müssten Sie mitliefern?
2 Machen Sie einen Spaziergang in Ihrer Umgebung und achten Sie bewusst auf Gebots- und Verbotsschilder: Was wird kommuniziert? Und wie? In welchem Kontext sind diese Gebote und Verbote zu sehen?
3 Stellen Sie sich vor, Mark Twains „Yankee aus Connecticut“ landet auf seiner Zeitreise im April 2020 und begegnet einigen Menschen, die ihm aus dem Weg gehen und Atemschutzmasken tragen. Wie würde er reagieren? Entwerfen Sie einen kurzen Dialog!
3 Sprachkompetenz und Kommunikationskompetenz
Die Art und Weise, wie Sprache verwendet wird, spielt eine wichtige Rolle in der Kommunikation. In der zitierten Szene in Mark Twains Roman spricht der Mann aus dem 6. Jahrhundert ein altertümliches Englisch und wird dadurch vom Ich-Erzähler als „Patient“ einer „Anstalt“ klassifiziert. Sprachverwendung – und damit auch Sprachkompetenz – ist also ein wichtiger Faktor in der Kommunikation, sowohl produktiv, also wenn wir Texte verfassen (beim Sprechen oder Schreiben), als auch rezeptiv, also wenn wir Texte verstehen wollen (beim Hören oder Lesen). Sprachkompetenz ist aber nicht der einzige Faktor. Denn wie wir gesehen haben, findet Kommunikation in konkreten Situationen statt, die auch in ein soziales Umfeld eingebettet sind. Und diese Situationen bestimmen mit, was und wie kommuniziert wird.
Mark Twains Ich-Erzähler weiß (noch) nicht, dass er eine Zeitreise ins 6. Jahrhundert gemacht hat – und er zieht deshalb falsche Schlüsse aus der Situation. Dies führt zu einem Vorurteil: Jemand verhält sich anders als gewohnt und der Ich-Erzähler hält ihn deshalb vorschnell für nicht gesund, „nicht normal“. Genau genommen weiß der Ich-Erzähler aber nur zu wenig über den Kontext, in dem die Kommunikation stattfindet. Er verfügt zwar über ausreichend Sprachkompetenz, um zu verstehen, was der Mann aus dem 6. Jahrhundert ihm sagt, kann die Form „seemeth“ vielleicht sogar ungefähr historisch einordnen und weiß, dass es nicht besonders üblich ist, im 20. Jahrhundert so zu sprechen. Hätte er gewusst, dass er im 6. Jahrhundert gelandet ist, hätte er die Ausdrucksweise des Mannes sicherlich anders interpretiert – und wohl selbst von vornherein eine andere Frage gestellt.
Es zeigt sich also, dass Kommunikationskompetenz etwas anderes ist als Sprachkompetenz. Mit Sprachkompetenz ist gemeint, dass jemand eine Einzelsprache wie etwa Deutsch, Tschechisch oder Portugiesisch auf einem bestimmten Niveau beherrscht. Niveaustufen – für Fremdsprachenkenntnisse – wurden im Europäischen Referenzrahmen für Sprachen beschrieben und standardisiert (mit den Niveaubeschreibungen für A1, A2, B1, B2, C1 und C2). Sprachbeherrschung hilft dabei, Äußerungen zu verstehen und zu produzieren, Kommunikationskompetenz verweist aber noch auf anderes: nämlich auf die Fähigkeit, sich in der Mehrdimensionalität von Kommunikationssituationen zurechtzufinden, Äußerungen von anderen vor diesem Hintergrund zu verstehen und einordnen zu können und auch selbst funktionierende Äußerungen in einem Kontext produzieren zu können. Damit dies in einer bestimmten Sprache klappt, braucht man allerdings auch Sprachkompetenz.
Sprachen stellen wir uns manchmal als abstrakte Systeme vor, die einfach da sind und die Mittel bereitstellen, die wir in der Kommunikation dann verwenden. Das ist aber genau genommen eine konstruierte Vorstellung, denn in der Realität kommt Sprache immer in ganz konkreten Verwendungssituationen vor. Der Soziolinguist Alastair Pennycook nennt dies Language Practice, auf Deutsch ist oft von Sprachpraxis und Sprachpraxen die Rede. Damit wird betont, dass Sprache eng mit sozialen Kontexten verwoben ist. Ein Beispiel dafür wäre etwa eine bestimmte Ausdrucksweise in einem Unternehmen. Dabei gibt es, zumeist bezogen auf übliche Arbeitsabläufe, Übereinkünfte darüber, was bestimmte Begriffe bedeuten, die von Außenstehenden nicht oder nur zum Teil verstanden werden. Manche dieser Begriffe beziehen sich auf Produkte und werden mit steigender Bekanntheit des Unternehmens auch größeren Gesellschaftsschichten geläufig. So können Sie sich wahrscheinlich von einem IVAR-Regal oder von einem iPad eine ziemlich genaue Vorstellung machen. Ikea und Apple haben es mit ihrer wirtschaftlichen Macht und ihrer Marktpräsenz geschafft, einige ihrer Produktnamen so bekannt zu machen, dass sie im allgemeinen Sprachgebrauch verständlich sind.
Was hat dies nun mit Sprach- und Kommunikationskompetenz zu tun? Sprachkompetenz bedeutet, dass wir sprachliche Mittel kennen und benutzen können.
Kommunikationskompetenz geht darüber hinaus: Wir müssen auch wissen, in welchen Situationen welche sprachlichen Mittel verwendet werden – und welche Aussagen damit transportiert werden sollen.
Stellen Sie sich vor, jemand sitzt mit Freund*innen beim Essen und sagt: „Würde es Ihre unendliche Güte erlauben, mir die Butter zu reichen?“ Das ist ein völlig korrekter deutscher Satz. Wahrscheinlich wäre er in der Kommunikationssituation dennoch deplatziert. Vielleicht aber auch nicht: Vielleicht soll durch die übertriebene „geschraubte“ Höflichkeit ironisch Ungeduld ausgedrückt werden – oder es ist ein Insider*innen-Gag, der sich auf etwas gemeinsam Erlebtes bezieht. Ob eine Äußerung in einer Situation passend oder unpassend formuliert ist, können wir nur einschätzen, wenn wir mehr über die Situation wissen.
In diesem Sinne bedeutet Kommunikationskompetenz die Fähigkeit, eine Kommunikationssituation realistisch einzuschätzen und dabei die Dimensionen zu berücksichtigen, die in der jeweiligen Kommunikationssituation besonders wichtig sind.
Manche Kommunikationssituationen sind Routine, andere nicht. In vertrauten Kommunikationssituationen im Alltag ist Sprach- und Kommunikationspraxis häufig ritualisiert und automatisiert, und dadurch (intuitiv) an konkrete sprachliche Mittel geknüpft. Wenn wir „Guten Morgen“ oder „Auf Wiedersehen“ sagen, denken wir in der Regel nicht viel darüber nach, was in genau dieser aktuellen Kommunikationssituation angebracht ist. Schwieriger wird es in Kommunikationssituationen, in denen wir noch keine oder kaum Erfahrungen haben oder die zwischenmenschlich „heikel“ sind.
Es gibt also immer wieder Situationen, über die wir viel nachdenken – und auch Situationen, für die wir uns die nötigen sprachlichen Mittel noch nicht angeeignet haben. Der Soziolinguist Jan Blommaert spricht in diesem Zusammenhang von Truncated Repertoires. Repertoire bezeichnet die Gesamtheit aller sprachlichen Mittel, die wir kennen. „Truncated“ kann übersetzt werden mit „verkürzt“, „beschränkt“ oder „angeschnitten“, verweist also darauf, dass etwas nicht vollständig ist. Mit Truncated Repertoires sind also unvollständige sprachliche Repertoires gemeint. Blommaert meint dies aber nicht abwertend, sondern betont, dass wir in keiner Sprache alle Elemente kennen – weil wir gar nicht alle brauchen.
Wir verfügen in der Regel über jene sprachlichen Mittel, denen wir in konkreter Sprachpraxis („Language Practice“) begegnet sind und die wir auch selbst anwenden. Damit sind die sprachlichen Mittel häufig mit bestimmten Kommunikationssituationen verbunden, in denen sie immer wieder verwendet werden, weil