Die Schamanin. Hans-Peter Vogt

Die Schamanin - Hans-Peter Vogt


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das zwischen Leben und Tod existiert. Manche Menschen erleben das nur, wenn sie durch einen Unfall an diese Grenze stoßen, eintreten in dieses Reich und schließlich wieder zurück geholt werden, weil ihre Zeit noch nicht um ist.

      Solveig kann bewusst in diese Zwischenwelt eintreten. Dort findet Solveig auch jenes unbekannte „Etwas“. Es hält seine unsichtbare Hand über den Familienclan. Er beschützt und wacht über sie. Zu ihm kann Solveig gehen, wenn sie nicht weiter weiß. Auch das hat sie von Mama Clara, Opa Leon, Onkel Nakoma und Chénoa gelernt. Sie hat vor allem gelernt, dass jeder Mensch seinen eigenen Weg gehen, und für seine eigenen Taten gerade stehen muss. Sie kann immer nach dem Rat von Mama oder Tante Chénoa fragen, aber sie kann auch in diesen Tunnel gehen und mit diesen „Etwas“ Kontakt aufnehmen, wenn nichts anderes mehr hilft. Dieses „Etwas“ gibt ihr nicht immer klare Auskünfte oder Anweisungen. Dann muss sie darüber grübeln und nach dem Sinn suchen. Dieser Erkenntnisprozess, an dem dann oft mehrere Familienmitglieder beteiligt sind, der führt die Familie stets zu Lösungen, wenn sie einmal nicht weiter weiß.

      Solveig macht sich manchmal Gedanken darüber, warum gerade ihre Familie mit diesen Energieströmen ausgestattet worden ist, aber das ist letztlich müßig, darüber nach-zudenken. Tante Chenoa hatte das einmal mit der Evolution erklärt, und das scheint eine nachvollziehbare Erklärung zu sein. Dieses „Etwas“ ist für Solveig so etwas, wie eine gemeinsame Energie aller Clanmitglieder, die sich in bestimmten Situationen zusammenschließt, um nach Lösungen zu suchen, auch über weite Distanzen hinweg.

      Wer denkt schon an eine intelligente Gattung, die aus dem All zu uns gekommen ist. Dazu ist Solveig viel zu sehr Realistin.

      Es ist ihre Familie, die mit dieser treuhänderischen Aufgabe betreut worden ist, wie ein Wächter, und Solveig ist genau genommen dankbar dafür.

       Kapitel 2. Die Schamanin

      1.

      Schauen wir ein paar Jahre in der Zeit zurück.

      Noch während ihrer Studienzeit ist Solveig einmal in Kasachstan unterwegs.

      Es gibt dort in diesem dünn besiedelten Land einflussreiche Familien, die viele Rohstoffe und Transportwege kontrollieren. Gas, Uran, Gold, Mangan, Schwefel, Kupfer, Eisen, Zink, Salze, seltene Erden, aber auch Baumwolle, und sie haben dort im Grenzgebiet zwischen den Großregionen Russland, China, Indien und den muslimischen Ländern des Südens etwas zu sagen. Viele sonst verbotene Transporte werden quer durch das Land geführt, und im Bereich Internetbetrug haben sich die Familien einen großen Einfluss gesichert. Es gibt dort in Zentralasien viel Geld, aber nur konzentriert auf wenige Familien und Clans. Darüberhinaus gibt es viel Abhängigkeit und Armut.

      Die „befreundete“ Sippe beherrscht das flächenmäßig neunt-größte Land der Erde aus dem Verborgenen.

      Es gibt dort Wüsten, Steppen, waldreiche Gebiete und große Seen, darunter auch große Salzseen. Es gibt aber auch Gebiete, wo immer noch das Betreten verboten ist, seit hier vor etwa achtzig Jahren einmal mehrere hundert Atomtests durchgeführt worden waren, viele davon überirdisch. Ein Gebiet in der doppelten Größe Bayerns war damals völlig verstrahlt worden.

      Solveig besucht eine Baumwollpflanzerdynastie. Sie besitzen Baumwollfelder, etwa in der Größe der Bundesrepublik Deutschland. Sie wohnen auf Landgütern in der Größe von Schlössern. Die Familie besitzt Immobilien in verschiedenen Städten, Transportfirmen, Banken und Minen, und sie leistet sich mehrere Gestüte und Falknereien. Das ist hier der Nationalsport der Reichen. Zumindest der traditionelle Teil der prestigeträchtigen Freizeitaktivitäten.

      In der Familie ist es üblich, die Nachkommen in diesen überlieferten Traditionen der Nomaden zu unterrichten, auch wenn viele Mitglieder der Familie erfolgreiche Bänker, Anwälte, Ärzte oder Unternehmer geworden sind, die sich heute auch teure Autos, Flugzeuge und Yachten leisten, die in Luxussporthäfen im schwarzen Meer dümpeln, zu denen nur Wenige im Land Zugang haben.

      Es ist eine eigentümliche Familie. Tradition vermischt sich mit Moderne, es gibt in der Familie IT Spezialisten, Ingenieure, Anwälte, Richter, hohe Staatsbeamte, Immobilienmakler und Wissenschaftler, ähnlich wie in Solveigs Familie auch. Ein Großteil der Einnahmen stammt aber tatsächlich aus illegalen Geschäften, und die Familie beherrscht ihn genial, diesen Spagat zwischen legalen und illegalen Geschäften. Es ist einfach, diese schwarzen Gelder zu waschen und in legales Geld zu verwandeln. Man muss das jetzt nicht im Detail ausführen. Solveig ist ganz im Groben über die Geschäfte informiert, weil sie von Chénoa und Elvira eingewiesen worden war, und weil sie sich bereits in einige der Köpfe der Mitglieder dieser Organisation gesummt hatte, aber sie mischt sich da nicht ein, getreu ihrem Motto der Unparteiigkeit.

      Solveig ist unterwegs, um sich verschiedene Pferde und die kostbaren Greifvögel der Sippe anzusehen. Die Zucht und die Ausbildung von Adlern und Falken hat hier eine lange Tradition und diese Zucht ist berühmt. Reiche Araber zahlen dieser Familie für einen gut ausgebildeten Adler oder Falken problemlos zwischen 100.000 und 150.000 Euro. Aber auch im Land selbst pflegt man diesen Sport. Pferde gehören traditionell zum Image, auch wenn heute jeder reiche Kasache mindestens eine Luxuslimousine und mehrere teure Geländewagen und italienische Rennwagen in der Garage stehen hat. Stutenmilch gilt auch ihnen als eine Art Fitnesstrunk.

      Der Termin war schon seit längerem ausgemacht.

      Als sie am Flughafen ankommt, wird sie gebeten, sofort in einen bereitstehenden Helikopter umzusteigen. Die Familie sei sehr in Sorge, es sei eilig, und vielleicht könne Solveig helfen.

      Diesmal geht es der Familie nicht um Pferde oder Greifvögel.

      Eines der Kinder der Sippe war beim Reiten unglücklich gestürzt. Es war von vielen Pferdehufen getroffen worden. Es gab Brüche und innere Verletzungen. Das Kind sei auf die Intensivstation des Krankenhauses gebracht worden, aber es läge seit fünf Wochen im Koma. Die Klinik weiß keinen Rat mehr, die Ärzte in der eigenen Familie fühlen sich hilflos, und so hatte die Familie das Kind in einem lebensgefährlichen Transport „nach Hause“ geholt, statt es sinnlos in diesem Krankenhaus liegen zu lassen.

      Es gibt einen eigenen Trakt, nur für das Kind, mit Ärzten, Pflegern, Krankenschwestern, einem Koch, und Helfern, die sofort springen, wenn sie gerufen werden.

      Der Junge liegt unter einem Sauerstoffzelt, bleich und weggetreten. Er wird künstlich ernährt und er wird von Zeit zu Zeit künstlich beatmet, nur um sicherzugehen. Man lässt nichts unversucht. Die äußeren Wunden waren behandelt worden. Es hatte Blutgerinsel im Kopf gegeben, aber man hatte sich nicht getraut, das zu operieren, aus Angst, das Kind dann sofort zu verlieren. Die Blutgerinsel liegen wirklich an einer sehr sensiblen Stelle. Man hatte auch Ärzte aus dem Ausland konsultiert, aber die hatten abgewunken, trotz der königlichen Honorare, die man ihnen bot.

      Wenn sie den Tod des Kindes verursachen würden, dann müssten sie um ihr Leben fürchten. Zumindest dachten sich das diese Kapazitäten, nachdem sie sich über die Familie kundig gemacht hatten.

      Solveig kennt die Familie schon seit einigen Jahren. Sie sieht sich das Kind an, sie lässt sich die Röntgenbilder und Computertomografien zeigen, dann bittet sie um einen abgelegenen Raum. Sie springt sofort nach Südamerika zurück, und nimmt Kontakt zu ihrer Cousine Lara auf, die in Sachen Naturmedizin eine Ausnahmestellung innerhalb der Familie genießt, mehr noch als ihr genialer Vater Nakoma, Solveigs Onkel. Solveig bittet sie darum, einige ihrer pflanzlichen Sammlungen zur Verfügung zu stellen. Dann springt sie, bewaffnet mit einem großen Rucksack, zurück nach Kasachstan.

      Sie sucht den Clanführer auf und bittet um ein Gespräch unter vier Augen.

      Sie will wissen, ob er soviel Vertrauen zu Solveig hätte, dass er ihr das Kind für eine Weile anvertrauen würde, ohne Fragen zu stellen. Kein Sauerstoffzelt, aber einige Begleiter, Pferde, Jurten und ein Ausritt für mehrere Tage oder Wochen.

      Der Clanführer sieht Solveig lange an. Er kennt ihre unvergleichlichen Fähigkeiten mit Tieren, deshalb hatte er sie schließlich hierher geholt, und er hatte auch viel über Solveigs


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