Die Schamanin. Hans-Peter Vogt

Die Schamanin - Hans-Peter Vogt


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      Natürlich lernt Solveig auch alles andere in dieser kleinen Stadt kennen. Sie hat freien Zugang zum Rathaus, sie sitzt manchmal sonntags in der Kirche, sie kann jederzeit ins Sägewerk oder oben zum Golfplatz gehen, und Solveig hat als Mitglied ihrer Familie überall freien Zutritt. Sie ist einfach überall gern gesehen.

      Unten, am unteren Rand der Stadt liegt auch diese Fabrik von Nahrungsmitteln, die der Familie gehört. Sie stellen dort Tiefkühlkost und Soßen in Flaschen her, rund um die Uhr. Es gibt dort Silos und es gibt einen großen LKW Ladeplatz. Die 40-Tonner können direkt an die Laderampe fahren, zum beladen oder zum entladen. Sie bringen stets frisches Gemüse und Fleisch und fahren wieder ab, voll bepackt mit Tiefkühlgerichten, Dosennahrung, oder mit Paletten voller Soßen.

      Es gibt auch Ausgabestellen, wo man mit dem Kleintransporter hinfahren kann, um für die verschiedenen Küchen Lieferungen abzuholen, Verpacktes oder Frisches. Die Fabrik hat innerhalb der kleinen Stadt so etwas übernommen, wie ein Großmarkt und ein gewerblicher Discounter zu gleichen Teilen. Sie beliefert alle Hotels und Gaststätten der Stadt.

      Jedenfalls kommen die LKW’s hier 24 Stunden am Tag an und fahren wieder ab. Es gibt allein 20 Laderampen und die Ladezeiten sind kurz. Da gibt es ein Heer von Hubwagen, welche die Paletten rausheben. Dann werden die LKW mit Schläuchen unter Hochdruck ausgespritzt und gesäubert, mit einem Gebläse getrocknet und sofort wieder beladen, während die Kühlung auf vollen Touren läuft, bis die notwendige Transporttemperatur erreicht wird, die für Tiefgekühltes anders ist als für die Paletten mit den Soßen in Glasflaschen. Alles ist perfekt organisiert. Die Frischware kommt vielfach aus Chile, Rindleisch aus Argentinien, Huhn aus Chile, manchmal von ländlichen Kooperativen der größeren Umgebung, und die Fertiggerichte gehen überwiegend wieder zurück nach Bolivien, Argentinien und Chile.

      Es gibt noch eine zweite und viel größere Fabrik in Cusco, die der Familie gehört, und die beliefert die Nordstaaten, wie Kolumbien, Venezuela, Äquador, Brasilen und Peru selbst.

      Als Mitglied der Familie kann Solveig jederzeit in diese Fabriken gehen. Sie kann dort hospitieren, oder sich mit den Leuten vom Einkauf oder an den Garkesseln unterhalten. Solveig hat unbegrenzten Zugang zu verschiedenen anderen Unternehmen und Einrichtungen, wie etwa das Familienhotel, das Elektrizitätswerk oder das Klärwerk, was anderen zu Recht verwehrt wird, die nicht zu Solveigs Familie gehören.

      So springt Solveig manchmal auch nach Cusco. Manchmal wird sie von Tante Chénoa mitgenommen nach La Paz, nach Santiago de Chile oder nach Mexiko City. Solche Reisen sind ein Leichtes für Solveig. Sie von der Familie diese einzigartige Fähigkeit ererbt, durch den Raum zu gehen, wenn der Zielort bekannt ist. Sie hat auch gelernt, jede Sprache der Welt innerhalb weniger Stunden oder Tage zu erlernen, wenn sie nur ihr „Gesumm“ anschaltet, diesen gewaltigen Energiestrom, der es ihr auch ermöglicht, die „internationale Sprache“ zu sprechen, die jeder auf der Welt verstehen kann, egal wo.

      Sie hatte längst gelernt, sich in allen Tiersprachen zu verständigen, und sich sogar in Tiere zu verwandeln. Die Kräfte ihrer Familie erlauben ihr das. Sie muss diese Tiere allerdings schon kennen, um in ihre Seele zu kriechen, um ihren Geruch und ihren Charakter anzunehmen. Mit Lamas, Pferden, Hunden, Berglöwen oder Adlern geht das problemlos. Sie kann sich auch in die Tiere des Urwalds verwandeln. Ameisen, Blutegel, Spinnen, Affen oder Falter. In einen Elefant hätte sie sich nicht verwandeln können. Den kennt sie (noch) nicht, aber Elefanten sind ohne eine nahezu ausgestorbene Spezies. Sie werden wohl die nächsten 30 Jahre nicht überleben.

      Solveig gehört also schon früh zu einer Elite von bevorzugten Menschen, aber sie ist sich dessen bewusst, dass diese Kräfte nur geliehen sind. Man kann sie jederzeit verlieren, wenn man gegen den Kodex der Familie verstößt, der von ihr verlangt, mit dieser Kraft sorgfältig umzugehen, und sie nie, wirklich nie zu missbrauchen, um eigene egoistische Vorteile zu bedienen. Auch das hat seit ihrer frühen Kindheit zu ihrer Ausbildung gehört. Im Zusammenspiel mit der etwas älteren Freundin Clarissa war dies oft das Thema ihrer Gespräche gewesen. Solveig hatte dies längst verinnerlicht, wie eine Art innere Uhr.

      Weil sie eine besondere Gabe entwickelt hat, in andere Menschen hineinzuhorchen, wird sie jetzt auch von Tante Chénoa manchmal mitgenommen zu Konferenzen, egal ob in New York, London oder Peking. Oft ist auch Clarissa dabei, und das ist immer sehr lustig, weil sie darauf bestehen, etwas von diesen Städten zu sehen.

      Solveig hat längst begriffen, dass ihre Familie da ein Netz an Firmen besitzt, die überall auf der Welt aktiv sind.

      Naja. Eigentlich gehören diese Firmen nicht der leiblichen Familie von Solveig, sondern der Stiftung in Berlin, die aber wiederum zum großen Teil der leiblichen Familie von Solveig gehört. Es gibt noch andere Eigentümer, aber die gehören alle zu einer großen Familie aus Freunden.

      Genau genommen ist das also alles „Familieneigentum“, doch auch die Indianer in Ciudad del Sol, die Mitarbeiter in den Fabriken oder die vielen Mitarbeiter in der Imbisskette, die der Familie gehört, die sind für Solveig ein Teil ihres Familienclans.

      Es ist diese besondere Philosophie des Clans, eine Gemeinschaft zu bilden, in der jeder einzelne Rücksicht und Fürsorge für den anderen empfindet. Dies wird ganz konkret gelebt, ohne dabei an den eigenen Vorteil zu denken. Man ist Mitglied eines großen Clans aus Freunden, und es ist die Aufgabe, diesem Clan die eigenen übersinnlichen Kräfte auch zur Verfügung zu stellen.

      Solveig hat das von Kindesbeinen an nicht anders erlebt. Es ist ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Oma Katharina (die in Berlin eine der Direktoren der Stiftung ist), die sagt stets dazu, „das ist unsere Aufgabe. Die Vision einer besseren Welt hält uns am Leben. Sie gibt uns Kraft und Ausdauer. Sie beflügelt uns, und sie sagt uns auch, dass wir uns stets erden müssen. Wir sind nur ein Teil dieser Familie und wir sind der Diener unserer Freunde.“

      Oma Katharina (die zweite Frau von Opa Leon), die meint das ganz konkret, was sie da sagt, und sie forderte diese Hilfe auch ein.

      Als Opa Leon sich dann in Vera neu verliebte, änderte da nichts daran, dass die freundschaftliche Beziehung zu Katharina in Berlin und zu Oma Mila in Peru erhalten blieb.

      9.

      Solveig hat längst gelernt, dass ihre Familie auf mehreren Kontinenten und in mehreren Ländern lebt. Es gibt da andere Kinder, und es gibt da Onkels und Tanten, die sich manchmal oben bei Onkel Nakoma treffen, um sich auszutauschen, um die gemeinsamen Kräfte zu üben und zu verbessern, oder auch nur, um sich gemeinsam der Pferdezucht zu widmen oder einmal zusammen auszureiten. Inzwischen ist auch ansatzweise so etwas entstanden, wie eine Art gemeinsamer Schule. Die Kinder der Familie treffen sich mal bei Onkel Nakoma, mal bei Onkel Fred in Mexiko oder bei Oma Katharina in Berlin.

      Weil Solveig diese besondere Gabe entwickelt hatte, zuzuhören, in andere Köpfe hineinzukriechen und Verbindung zu anderen aufzunehmen, nur über ihre Ströme von Energie, hat Tante Chénoa sie gebeten, innerhalb der Schar der Kinder eine besondere Rolle zu spielen Es muss einfach gesichert werden, dass die weitverzweigte Familie nicht auseinandertriftet und stets an einem Strang zieht. Es geht um diese gemeinsame Vision und die damit verknüpfte Demut. Man muss sich als Familienmitglied einfach darüber im klaren sein, dass diese Kraft zerstörerisch sein kann. Man darf sie nicht missbrauchen, sonst läuft die Familie Gefahr, diese Kraft zu verlieren.

      Anfangs übernimmt Solveig diese Aufgabe nur spielerisch, wie sich einzuüben. Sie knüpft Kontakte und sie hört zu. Sie gibt Anregungen und sie delegiert viele Aufgaben.

      Solveig tastet sich an diese Aufgabe langsam heran, ohne Druck und ohne Eile. Selbst das ist bereits eine ihrer hervorstechenden Eigenschaften. Tante Chénoa sagt dazu „die Methode Solveig“, was sie damit meint, das ist, dass Solveig das praktiziert, was im ökologischen Anbau als „sanfte Methode“ gilt. Das Gleiche gibt es im Bereich Tourismus und industrielle Produktion. Sanft eben, unaufdringlich, und nachhaltig.

      10.

      Solveig hatte in ihrer Kindheit und Jugend wirklich Glück. Ihre Position als Nesthäckchen hatten eine besondere Gabe hervorgebracht.

      Solveig


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