Die Schamanin. Hans-Peter Vogt

Die Schamanin - Hans-Peter Vogt


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und schleichend Einfluss zu gewinnen. Sie sieht genau genommen zu, wenn Ungerechtigkeiten passieren, ohne sie zu verhindern. Was also ist der bessere Weg? Elviras oder Solveigs Lösung?

      Ihre Tante Chénoa ist sich klar über diesen Konflikt des Gewissens, wie sie das nennt, aber auch Chénoa weiß nicht immer Rat. Das sind Grundsatzentscheidungen, die eine Einzelfallprüfung brauchen, und dich immer wieder in Gewissenskonflikte bringen können, wenn du deiner Umwelt nicht gleichgültig gegenüberstehst.

      Als Mensch lädst du ständig Schuld auf dich, ob du nun etwas tust, oder nur zusiehst, ohne dich einzumischen. Man könnte sagen, „was soll’s, wenn ich immer Schuld auf mich lade, dann ist es doch egal, was ich tue. Dann kann ich nur an mich denken und mir den bequemsten und gewinnbringendsten Weg suchen.“ So denkt Soveigs Familie nicht. Schon Opa Leon hatte aktiv ins Geschehen eingegriffen und die Familie hat diese Vision, der man in vollem Bewusstsein verpflichtet ist.

      Sowohl Tante Chénoa, wie auch Elvira und Solveig wissen, dass manchmal rigorose Maßnahmen beschritten werden müssen, um Schlimmeres zu verhindern.

      Um es deutlich zu sagen. Solveigs Weg ist nicht besser als der von Elvira, aber Solveig ist der nachdenkliche und eher philosophische Charakter. Das ist eine wichtige Voraussetzung für ihre neue Rolle in der Familie als eine Art Supervisorin.

      13.

      Solveig besucht inzwischen alle die Familienmitglieder, die es da gibt. Es sind mittlerweile viele.

      Die Kinder von Onkel Nakoma haben inzwischen eigene Kinder. Onkel Fred und Onkel Paco haben eine ganze Reihe Kinder. Ihr großer Bruder Ramon und Chénoas Sohn Ramon haben Kinder. Überall wachsen neue „Keimzellen“, teilweise sehr weit auseinander verstreut.

      Solveig hört zu, sie betreut, sie koordiniert und sie übernimmt die Schulung der Kinder. Es gibt ja diese Treffen der Kids schon länger, um sich in den Kräften der Familie zu üben. Solveig perfektioniert diese Treffen jetzt, wie eine richtige „Ferienschule“, und sie fordert von den Kindern Demut ein.

      Solveig macht das nicht alleine. Alle die wichtigen Mitglieder der Familie stehen an ihrer Seite. Die Familientreffen sind in ihren Beschlüssen eindeutig. Macht ist legitim, Machtmißbrauch nicht.

      Solveig leitet in der „Schule der Kinder“ an, sie delegiert, sie übergibt Aufgaben an jugendliche Mitglieder und Kinder der Familie, sie beobachtet, koordiniert und schreitet ein, wenn es notwendig erscheint. Solveig kann sich in die Köpfe summen, wie keine Zweite. Sie übertrifft darin inzwischen sogar ihre Tante Chénoa, wenn auch nur im Rahmen kurzer Distanzen.

      Innerhalb von fünf Jahren wird Solveig so etwas, wie „das Gewissen“ der Familie. Sie achtet auf die Einhaltung der Regeln. Sie lässt den Kindern der Familie alle erdenklichen Freiheiten, aber es gibt Dinge, die schlussendlich tabu sind. Der Mensch und die Natur sind heilig. Das ist ein ehernes Gesetz, und Solveig trainiert sich jetzt in der Steuerung von Gedanken über große Distanzen hinweg. Sie nimmt faktisch einen Geruch auf, wie ein Wolf, der seine Beute schon aus mehreren Kilometern riecht, oder wie ein Eisbär, der im Winter der arktischen Kälte sogar die Fähigkeit hat, die Robben unter der Eisschicht zu riechen. Sie beginnt solche Kontakte systematisch über lange Distanzen hinweg zu pflegen.

      Solveig ist zum Hüter der Schule geworden, zum Lehrer der Kinder. Sie kann inzwischen problemlos zu jedem der Kinder über ihre Energieströme Kontakt aufnehmen, egal, wo sie gerade sind. Sie kann sie rufen. Sie kann mit ihnen drahtlos kommunizieren (ganz ohne Telefon) und sie kann ihre Gedanken lesen. Solveig ist ein sanfter Riese.

      So wird Solveig wie ein Metronom, das den Takt und die Schnelligkeit des Takts vorgibt. Es bestimmt den Mittelpunkt des Pendels und den Grad des Ausschlags. Chénoa nennt Solveigs Aufgabe inzwischen am liebsten den „Wächter unseres Gewissens“. Solveig stellt eigenverantwortlich die Leitfäden auf und sie kontrolliert deren Einhaltung.

      Schon einmal hatte die Familie schmerzlich erfahren, dass eines der Familienmitglieder all seine Kraft verlor, weil er die Spielregeln aufs Gröbste missachtet hatte. Diese Kräfte sind nicht da, um persönlichen Vorteil daraus zu ziehen.

      Dabei weiß Soveig nichts von diesem Volk der Cantara, das auch in ihrem Kopf sitzt und sie anleitet. Nun, sie weiß, dass da irgendetwas ist, das man auch mit dem Begriff „Gott“ beschreiben könnte, und zu dem sie Kontakt aufnehmen kann. Gesehen hat sie dieses „Etwas“ noch nie, und sie weiß auch nicht, dass das Volk der Cantara Solveig aufgebaut hat, diesen neuen sanften Weg zu beschreiten. Sie muss das nicht wissen. Sie ist ein williges Werkzeug in den Händen der Cantara. Sie redet manchmal mit Chénoa darüber, aber die zuckt mit den Schultern. „Du weist, dass unsere Familie eine einzigartige DNA besitzt, die sie von fast allen anderen Menschen unterscheidet. Nenne das Evolution, wenn du willst. Offenbar ist uns dieses Denken angeboren, ebenso wie die Grundlage, solche Fähigkeiten zu entwickeln, wie wir sie haben. Du weist auch, dass niemand, der zu unserer Familie gehört, jemals ernstlich krank wird. Typhus, Scharlach, Pest oder AIDS. Wir sind dagegen immun, so seltsam das auch klingt. Offenbar hat die Natur eingerichtet, eine neue Gattung zu erschaffen, die fähig ist, den Klimawandel unbeschadet zu überstehen. Nehmen wir dieses Schicksal also dankbar an, und sorgen wir dafür, dass alles Erdenkliche getan wird, um unserer Welt ein Stück Gleichgewicht wiederzugeben.“

      14.

      Auf den Rat ihrer Tante Chénoa und ihrer Mutter Clara promoviert Solveig dann doch noch. Sie hatte im Urwald ein Mittel gefunden, das als Heilmittel geradezu genial ist, und sie hat darüber eine Abhandlung geschrieben. Kurz, aber präzise. In der Welt der Mediziner sind Solveig damit einige Türen geöffnet worden. Für Solveig hat sich das Medikament sogar als äußerst gewinnbringend erwiesen. Es wird synthetisch nachgebaut, und die Lizenzgebühren bringen Solveig regelmäßige Einnahmen, die sie finanziell unabhängig machen.

      In der Welt der Pferdeliebhaber ist ihr Ruf längst unbestritten. Sie gilt als „die Mutter aller Tiere“ und als geniale Tierflüsterin. Dieser Ruf ist für Solveig viel wichtiger als so ein Titel. Sie weitet jetzt ihr Wirkungsfeld systematisch aus: in die USA, nach Russland, China, Burma und Pakistan, und in viele andere Länder, die von Clans geführt werden, die sich und ihren Kindern teure Gestüte und ein Leben im Luxus gönnen, bevor sie diese Kinder wieder in verantwortungsvolle Posten hieven, die der Familie noch mehr Geld einbringen werden.

      Mittlerweile hat Solveig selbst eine Tochter. Sie hatte sich in einen Indio verliebt, sie hatten eine Weile zusammengelebt, aber der Vater ihrer Tochter war als Ingenieur stets unterwegs und auch Solveig war oft unterwegs.

      15.

      In den nächsten fünfzehn Jahren bewegt sich Solveig zunehmend aus ihrer kleinen und abgeschiedenen Stadt hinaus. Sie lernt andere Kulturen, andere Gesellschaften und andere politische Machtstrukturen kennen. Sie lernt, dass ihre kleine Welt zuhause zwar wohlgeordnet scheint, aber dass dieses große Ganze nicht so ist, dass man zufrieden mit sich und der Welt sein kann.

      Sie hat ihre Mutter Clara, ihren Onkel Nakoma und ihre Tante Chénoa oft davon reden hören, aber jetzt sieht und hört Solveig vieles, was weit über das persönliche Maß an Betroffenheit hinausgeht.

      Das sind nicht nur wirtschaftliche Ungleichgewichte und menschliche Defizite. Es gibt gewaltige neue Umweltveränderungen durch jahrhundertelangen Raubbau an der Natur. Ihre Familie arbeitet seit langem an Lösungsansätzen in diesen Bereichen. Sie stellen Sonnenkollektoren her, biologisch saubere Nahrung, Meerwasserentsalzungsanlagen und Wellenkraftwerke. Sie sind an neuen Technologien beteiligt, wie der Umstellung von Fahrzeugen vom Erdöl auf umweltverträgliche Energiearten.

      Solveigs Blick schärft sich in diesen Jahren, und sie gewinnt die Überzeugung, dass nur der Weg der friedlichen Koexistenz all die bestehenden Probleme langfristig lösen wird.

      Sie irrt, aber das weiß sie nicht. Die Cantara wissen das längst, und sie haben damit begonnen ihre eigenen Maßnahmen auf den Weg zu bringen, um eines der Grundübel zu beseitigen, die Bevölkerungsexplosion der Gattung Mensch, aber dazu kommen wir noch.

      16.


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