Die Geburt der Schamanin. Hans-Peter Vogt

Die Geburt der Schamanin - Hans-Peter Vogt


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besonders war. Etwas, das sie mit diesen Bewohnern verband. Vielleicht war es diese besondere Hochachtung, die Para und ihr Vater bei diesen Indios genossen, die dort in der Erde wühlten und die gegenüber in ihrer eigenen Stadt wohnten.

      Sie sah, wie ganze Karawanen von Lamas und Maultieren mit Körben voller Erde und Schutt beladen, und weggebracht wurden. Ein immerwährender Strom von Tieren.

      Unten am Fuß des Berges wurden diese Körbe auf Lastwagen umgeladen und weggebracht. Sie sah, dass hier etwas wichtiges passierte, aber sie verstand die Bedeutung noch nicht. Ihre Mutter war immer mittendrin in all diesem Gewimmel. Sie dirigierte, sie leitete an, sie gab Befehle. Es gab Besprechungen, an denen Théra manchmal teilnehmen durfte, bis es ihr zu langweilig wurde. Sie durfte auch Scherben, Steine, Goldstücke und andere Funde in die Hand nehmen. Papa und Para erzählten ihr dann geduldig von diesen Dingen.

      Papa und Para nahmen Théra oft mit in ihr Tal des Wasserfalls. Das Tal wurde Théra bald zu ihrer zweiten Heimat. Ein Teich war angelegt worden. Sie konnte mit den Maultieren, den Gänsen und den Schweinen viel besser reden als ein Jahr zuvor. Théra nahm alles viel bewusster auf. Sie lernte auch mit den anderen Kindern zu spielen, auch wenn es so war, dass die Kinder der Indiofmilie mehr auf Théra aufpassten, als wirklich mit ihr zu spielen. Der Altersunterschied war einfach zu groß.

      Im Tal des Wasserfalls gab es Füchse, Eulen und es gab noch viele andere Wildtiere. Para zeigte ihr die Rehe und die Wildschweine, die Eichhörnchen, die Wiesel, die Raben, die Kaninchen und die Luchse.

      Manchmal nahm Para sie mit auf die Hochebene. Dort lernte Théra eine ganz andere Welt kennen. Eine Welt aus Gras und Gestrüpp, eine Welt mit klaren und kalten Seen. Eine Welt, in der es Adler, Riesengürteltiere und Pumas gab. Es gab hier wilde Hunde. Füchse und Mäuse gab es überall. Manchmal rief Théra die Mäuse und ließ sich von ihrer Welt auf der Hochebene erzählen.

      Als es dann Winter wurde, ging Papa wieder fort. Alle andern blieben. Théra erlebte ihren zweiten Winter, ihr zweites Weihnachten und sie merkte bald, dass ihre Mutter einen dicken Bauch bekam. Es war Para, der ihr erklärte, dass in diesem Bauch ein kleines Mädchen wuchs. Théra würde im Sommer eine kleine Schwester bekommen.

      Mama ließ sie den Bauch befühlen. Théra konzentrierte sich ganz stark, und sie konnte bald den Herzschlag dieses kleinen Wesens spüren, das hier wuchs. Es gab zwei Herzschläge. Den von Mama und den von ihrer kleinen Schwester. Théra konnte das bald deutlich voneinander unterscheiden.

      Dann schmolz der Schnee. Das erste Grün zeigte sich, die Hunde tollten wieder draussen herum und bellten vor Freude die Blumen und die Sonne an.

      Papa kam wieder.

      Théra hatte ihn lange vermisst. Sie lag an diesem abend lange in Papas Armen, und sie erzählte Dennis von ihren Erlebnissen im Winter und von all diesen Tieren, die Para ihr gezeigt hatte. Ihre menschlichen Worte waren einfach, aber sie hatte ja ihren Strom von Energiewellen, die Papa viel besser erzählten, was sie alles erlebt hatte, als sie das mit ihren wenigen menschlichen Worten beschreiben konnte. Später lag sie mit Papa und Mama in dem großen Bett. Sie spürte die Wärme und die Liebe von Papa und Mama und sie war glücklich.

       10.

      In diesem Jahr sah Théra, wie die Stadt langsam wuchs. Überall um das Hotel herum entstanden neue Gebäude. Die Siedlung der Arbeiter wurde zu einem Teil durch feste Bauten ersetzt. Viele neue Arbeiter zogen zu. Es waren vorwiegend Aymara und Quechua Indianer, so wie sie.

      Papa ließ ein Appartementhaus errichten, in dem die Angestellten des Hotels kleine und saubere Einzimmerappartements bezogen.

      Nur ihr eigenes Holzhaus - in dem sie mit Mama und Papa lebte - blieb unverändert. Sie liebte dieses Haus.

      Sie hatte schon mehrere Unwetter in diesem Holzhaus erlebt. Sturm und Regen. Das Haus lebte wirklich. Es knackte und knarrte. Die Balken bogen sich manchmal ein wenig unter der Last des Sturms. Sie sah, wie Spinnen, Käfer, Wespen und Mäuse Zuflucht suchten, wenn sich das Wetter änderte. Sie sah auch, wie ihre Hunde manchmal die Nasen schnüffelnd in die Luft hoben, und die Luft prüfend durch die dicken Nasen einsogen. Sie lernte, selbst auf solche Wetterveränderungen zu achten, und begann sie zu spüren, längst bevor solche Ereignisse eintrafen.

      Im Winter lebte sie mit Mama und Para im Hotel. Das bot mehr Sicherheit und es war warm.

      In diesem Winter hatte ihr Para etwas gezeigt. Er war mehrfach mit ihr ins Tal des Wasserfalls gezogen. Einmal ritt sie auf einem Maultier. Ein anderes Mal verwandelten sich Para und Théra in große Hunde und liefen zusammen neben den Maultieren her. Ein drittes Mal verwandelte sie sich zusammen mit Para in ein Lama. Das war ja ein leichtes Laufen. Im Tal lag Schnee. Während Suse bis zum Bauch im Schnee versank, lief sie mit Para fast mühelos durch den Schnee. Es machte den Lamas gar nichts aus.

      Para hatte in der Hütte der Aymara warme Kleidung für sich und Théra deponiert. Es war schon lästig, dass Théra sich für solche Verwandlungen immer erst nackt ausziehen musste. Lamas oder Hunde tragen nun mal keine Menschenkleidung. Sie hatte jetzt begriffen, dass diese Verwandlungen ein Geheimnis waren. Die Aymara im Tal wussten allerdings davon. Para hatte sie verpflichtet, nie etwas darüber zu sagen.

      Im Tal saßen sie mit den Kindern der Aymara Familie in der warmen Stube, Para lernte mit den Kindern und den Eltern schreiben, lesen und rechnen. Er erzählte indianische Märchen. Théra nahm all das in sich auf. Schreiben und lesen war noch sehr fremd. Sie konnte das nicht, aber sie hörte genau zu. Es gab bald einzelne Worte, die sie grob entziffern konnte.

      Sie sahen nach den Hühnern und Gänsen. Théra liebte all diese Tiere. Sie waren für sie wie Brüder und Schwestern.

      Dann kam der Tag, wo Théra von Para in ein leeres Hotelzimmer mitgenommen wurde. Er fasste sie an den Händen und bat sie, die Kleidung anzubehalten und zu versuchen zu erraten, was er gerade denkt. Théra konnte das nicht. Sie sah Para an, runzelte die Stirn, und sie versuchte es noch einmal und noch einmal. Dann hatte sie eine diffuse Ahnung von Fliegen und stand plötzlich in Papas Holzhütte im Tal des Wasserfalls. Para nahm sie mit hinaus in die Schneelandschaft. Théra staunte. Sie sah Para lange an und bat ihn, sie hochzunehmen, so dass sie in seinen Armen lag. Para setzte sie auf die Hüfte und Théra schlang ihre kleinen Arme um Paras Hals.

      Es war das erste Mal, dass sie diesen Sprung machte. Diese Überwindung von Raum. Sie hatte gespürt, wie sie durch eine Art Tunnel flog. Warm und dunkel. Später sprang Para mit Théra zurück. Diesmal landeten sie in dem winterleeren und unbeheizten Holzhaus von Papa und Mama. Para hatte ihr erklärt, dass auch Papa solche Fähigheiten hat, und dass Théra mit niemandem darüber reden dürfe, auch nicht mit der Familie in ihrem Tal des Wasserfalls. „Das ist ein Geheimnis unserer Familie“, hatte Para gewarnt.

      Er war mit Théra hinüber ins Hotel gegangen. An diesem Abend lag Para lange neben ihr im Bett, und erzählte von den Königen der Théluan Krieger, vom Urwald und von seiner eigenen Familie, seiner Mutter und seinen beiden Schwestern. Langsam begriff Théra, dass Para nicht ihr Onkel war, sondern ihr Bruder. Dass Papa auch der Papa von Para war, und dass Para aus der Vergangenheit gekommen war, um sie, Théra, zu beschützen. Théra lag mit roten Wangen neben Para. Manchmal richtete sie sich auf. Manchmal legte sie sich auf Paras Brust und hielt ihn mit ihren Ärmchen fest.

      Sie verstand sehr diffus, dass ihre Familie eine lange und fast königliche Tradition hatte, die Théra mit der Vergangenheit verband, aus der Para gekommen war, um sie zu beschützen.

      Inzwischen war es wieder Sommer geworden. Papa war längst wieder da. Théra hatte viele Fragen. Papa nahm sie jetzt oft in die Ausgrabung mit und erzählte Théra von diesem geheimnisvollen Volk, das einmal hier gelebt hatte und das Théras Familie war. Théra nahm das auf mit ihren zweieinhalb Jahren und sie bat Papa manchmal, mit ihr ins Tal des Wasserfalls zu springen.

      Sie sah, dass Papa das genauso gut konnte wie ihr Bruder Para. Es machte sie glücklich.

      Mamas Bauch wurde in dieser


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