Die Geburt der Schamanin. Hans-Peter Vogt
merkte, wie dieses Wesen, das einmal ihre Schwester werden sollte, manchmal die kleinen Händchen von innen fest gegen die Bauchdecke drückte, um Théras Hände zu fühlen.
Längst bevor ihre Schwester geboren war, bestand eine Art der Kommunikation zwischen den beiden Schwestern. Sie waren miteinander verbunden durch ein Band aus Energie.
Als Théras Schwester im Sommer geboren wurde, staunte Théra, wie klein dieses Wesen war. Es konnte nicht mit Worten sprechen wie sie, aber sie fühlte, wie sich ihre kleine Schwester mit ihr durch Energieströme verständigte.
Die kleine Schwester wurde Clara genannt.
Théra sah zu, wie Clara an der Brust von Mama trank. Jetzt wurde ihr bewusst, wozu diese Brust gut war. Sie durfte manchmal daran nippen. Es schmeckte süss, und sie begriff, dass auch sie, Théra, lange von dieser Brust genährt worden war. Jetzt war sie schon groß und jetzt lernte sie von Papa und Para ganz andere Dinge.
11.
Im Sommer kamen viele Indios in die neu gebaute Siedlung. Männer, Frauen und Kinder.
Immer wieder durfte Théra mit Papa, mit Para oder mit einem ihrer Freunde aus dem Hotel dorthin gehen. Sie lernte jetzt viele neue Kinder kennen. Kleine und große.
Dann gab es ein einschneidendes Erlebnis. Eines der Kinder war krank geworden. Papa hatte Para hingeschickt, und Para hatte Théra mitgenommen.
Das Mädchen lag mit hohem Fieber im Bett. Der Arzt, der manchmal kam, um nach dem Kind zu sehen, wusste keinen Rat mehr.
Para hatte sich zu dem Kind gelegt und bat auch Théra, sich dazuzulegen. Was dann kam, war wie ein Traum. Para entführte sie in eine neue Welt. Es war, als wenn Théra sich in ihre Atome auflöste. Sie spürte, wie sie zusammen mit Para in den Körper dieses kranken Kindes kroch. Sie flogen durch die Blutbahnen. Sie besuchten das Herz, die Leber und den Darm dieses Kindes. Sie besuchten die Nervenzellen und das Gehirn. Para nahm sie an der Hand und begann mit Théra zusammen kranke Zellen aufzuspüren. Para zeigte ihr, was gesunde und kranke Zellen sind. Er kroch in die Zellen des Mädchens, er rief gesunde Zellen zu Hilfe, und bildete Gürtel aus Abwehrzellen um die kranken Zellen, bis sie abstarben. Es gab viele davon.
Théra hatte keine Ahnung, wie lange das dauerte. Para war stets bei ihr, und er führte sie durch den Körper des Mädchens. Später sollte sie erfahren, dass sie drei Tage und drei Nächte neben dem kranken Mädchen gelegen hatten. Ein Netz aus Blitzen hatte sie umgeben. Die Mutter und der Vater des Mädchens hatten still im Raum gesessen und gewartet. Sie hielten sich gegenseitig fest. Sie hatten geweint und gebetet. Manchmal waren sie vor Erschöpfung eingeschlafen.
Dann waren Para und Théra aus den Blutbahnen, den Nervenzellen und dem Körper des Mädchens wieder ausgezogen. Sie wachte auf, sie sah, dass Para nach Wasser verlangte, nach rohem Fisch und nach Früchten. Er hatte dem Mädchen zu trinken gegeben, und er hatte darum gebeten, dem Mädchen nun alle zwei Stunden etwas Wasser, Obst und Fisch zu geben. Sie müsse jetzt viel schlafen. Die Familie dürfe auch nicht darüber reden, was in den letzten Tagen geschehen sei.
Dann hatte Para nach Dennis gerufen. Er wankte mit Théra zurück in ihr Holzhaus. Er war zu schwach, um gerade zu laufen oder gar zu springen. Dort legte er sich mit Théra ins Bett, und schlief mit Théra drei Tage durch. Théra fühlte sich regelrecht ausgelaugt. Manchmal wurde sie ein wenig wach, mehr wie ein Dämmerzustand, Papa war immer da. Er versorgte sie mit Wasser und mit Obst und rohem Fisch. Das hatte sie vorher noch nie gegessen. Es war schwer zu kauen und es schmeckte eigenartig. Dann war sie jedes Mal wieder eingeschlafen. Sie war völlig kraftlos.
Nach drei Tagen wachte sie auf. Para nahm sie mit zum Fluss, und badete mit ihr in diesem kalten und klaren Wasser. Théra spürte, wie das Wasser ihre Müdigkeit wegwusch. Es war wie eine Reinigung an Körper und Geist. Dann waren sie zurückgegangen, hatten noch zwei Tage geschlafen und standen dann auf. Théra fühlte sich wieder fit und voller Kraft.
Diesmal gingen Papa, Para und Théra gemeinsam zu dem kleinen Indiomädchen. Ein Wunder war geschehen. Sie hüpfte und lachte wieder. Es war, als wäre sie nie krank gewesen. Die Eltern warfen sich vor Dankbarkeit vor Para und Théra auf die Knie, aber Para hob sie auf und umarmte sie. Sie aßen gemeinsam, erzählten und sangen zusammen. Para bat die Eltern, niemandem davon zu erzählen.
Dennoch waberte dieses Ereignis wie ein Gerücht durch die Indiosiedlung. Man sprach nur hinter vorgehaltener Hand und Théra erlebte, wie die Indios ihr plötzlich hochachtungsvoll, ja voller Verehrung gegenübertraten.
In den nächsten Tagen und Wochen wollte Théra von Papa und Para viel über dieses Ereignis hören, an dem sie teilgenommen hatte, was sie mit ihren zweieinhalb Jahren aber noch nicht völlig verstand.
12.
Es gab noch ein anderes Ereignis, das für Thera in diesem Sommer bedeutend war. Sie stapfte manchmal alleine in Begleitung ihrer beiden Hunde durch die Ansiedlung. Manchmal besuchte sie auch ihre Mutter in der Ausgrabung. Das war ein sehr weiter Weg für ihre kurzen Beine, den sie nur bewältigen konnte, weil sie immer wieder ein Stück des Weges durch den Raum sprang.
Ihre kleine Schwester war inzwischen geboren worden, Mama ging wieder zu ihrer Arbeit in der Ausgrabung und Clara wurde stets mitgenommen.
Es gab rings um die Ausgrabung immer irgendwelche schwer bewaffneten Soldaten, welche genau kontrollierten, wer in die Ausgrabung durfte und wer nicht.
An diesem Tag waren einige neue Soldaten gekommen. Sie hatten Ausweise kontrolliert, aber sie kannten die Gesichter der Arbeiter noch nicht.
Als Théra mit ihren beiden Hunden angestapft kam, hatte sich ihr einer der neuen Soldaten in den Weg gestellt. Sie war gekleidet wie in Indiomädchen. Er hielt sie für die Tochter eines der Arbeiter. Sie hatte hier nichts zu suchen.
Es war an diesem Tag sehr heiß. Er hatte nichts mehr zu rauchen und er war schlecht gelaunt. Er hatte vor zwei Tagen erfahren, dass seine Frau ihn betrog und er durfte diese Ausgrabung nicht verlassen. Alles war Scheiße.
Als dann dieses Mädchen mit den Hunden vor ihm auftauchte, hatte er grob geantwortet, sie solle bloss abhauen und er hatte die Hand erhoben, um diese Gör wegzustoßen.
Mit der Reaktion des großen Hundes hatte er nicht gerechnet. Er sah trottelig aus, dieser große graue Hund. Er bewegte sich wie in Zeitlupe. Ein Drecksköter.
Als der Soldat die Hand hob, sprang der Hund dem Soldaten aus dem Stand direkt an die Kehle. Es war ein gewaltiger Satz. Das war so blitzschnell geschehen, dass keiner der anderen Soldaten eingreifen konnte.
Der Soldat wurde auf den Rücken geworfen, der Hund stand über ihm. Er spürte diesen heissen Atem und das fauchende Knurren. Jetzt bloss keine falsche Bewegung machen, dachte sich der Soldat. Er hörte, wie um ihn herum die Maschinenpistolen entsichert wurden. Er kannte dieses metallische Klick.
Dann rief dieses Mädchen mit einer hellen und klaren Stimme den Hund zurück. Der Soldat sprang auf, er griff nach seiner MP. Er würde diesen Drecksköter erschießen. Er kam nicht dazu. Einer der Soldaten griff ihm in dem Arm, so dass sich die Ladung Kugeln in den Himmel ergoss. „Bist du wahnsinnig“, wurde er angefahren. Das ist die Tochter von Alanque, der Leiterin der Ausgrabung.“
An diesem Tag ging Dennis zu dem Mann und hatte ein langes Gespräch mit ihm. Irgendwann hatte er genickt. „Geh für ein paar Wochen zurück zu deiner Frau. Sorge dafür, dass deine Ehe gerettet wird. Wenn du deine Frau mit hierher bringen willst, so werde ich mit eurem Oberstleutnant reden. Ich werde dafür sorgen, dass ihr irgendwo im Tal eine kleine Hütte bekommt. Villeicht solltest du mit deiner Frau ein Kind machen. Das wirkt manchmal wie ein Wunder.“
Dennis hielt sein Versprechen. Der Soldat wurde verwarnt, er wurde nicht degradiert, er hatte drei anstrengende Wochen, in denen er nach Hause gefahren war, mit seiner Frau sprach, weinte, schimpfte und ihr Geschenke machte. Dann hatte