Die Geburt der Schamanin. Hans-Peter Vogt
Dennis ging zu ihm und er nahm Théra und ihre Hunde mit. „Nicht der Hund“, hatte der Soldat gesagt und gemeint, er solle draussen vor der Hütte bleiben.
Dennis hatte den Kopf geschüttelt. „Théra und ihr Hund sind unzertrennlich. Er wird dir nichts tun, wenn du friedlich bist.“
Tatsächlich hatte sich der Hund still und wachsam hinter die Tür gelegt. Er beobachtete den Soldaten und Théra, und als er sicher war, dass nichts böses passieren würde, stand er auf, stellte sich neben den Soldaten, und legte sich dort schließlich mit einem Schnaufer auf den Boden. Théra hatte die Frau angesehen. Sie kletterte ihr auf den Schoss und legte ihr die Hände auf den Bauch. „Du bekommst ein Kind“, hatte sie gesagt. Das war längst bevor die Frau des Soldaten selbst davon wusste. Die Frau hatte unsicher gelacht und Dennis angeschaut. Dennis war zu dem Soldaten gegangen und hatte ihm die Hand geschüttelt.
„Théra weiß stets, was sie sagt“, meinte er. „Ihr werdet erleben, dass Théra eben die Wahrheit gesagt hat. Meinen Segen habt ihr.“
Es wurde an diesem Abend noch mehr gesprochen, aber das vergaß Théra bald.
13.
In diesem Sommer passierten noch einige bedeutende Dinge.
Die Ausgrabung hatte einen riesigen Erfolg. Oben auf dem Berg wurden Dinge gefunden, die viele fremde Menschen ins Tal lockten. Mama hatte viel zu tun.
In dieser Zeit kümmerten sich Para und Papa intensiv um Théra. Manchmal war Papa weg. Er musste ab und zu verreisen. Wohin er dann ging, erzählte er Théra nicht.
Théra sah, wie sich bei der Ausgrabung so etwas wie grosse Gebäude aus der Erde schälten. Viele Mauern und viele Steine. Papa und Para erklärten ihr den Zusammenhang. Jeder mit seinen eigenen Worten. Hier hatte einmal ihre Schwester gelebt, die zur Königin eines großen Reiches geworden war. Lange bevor Théra geboren wurde. Théra begriff, dass sie Teil einer Dynastie mit einer langen Tradition war. Die Kräfte, die sie hatte, sie, Papa und Para, waren ein Teil dieser Geschichte aus Sonnenkönigen.
Théra entwickelte in dieser Zeit viele Fragen.
Mama konnte einige dieser Fragen beantworten. Auf viele Fragen hatte sie keine Antwort. „Dennis und Para wissen darüber viel mehr als ich“, hatte sie Théra gesagt. „Ich grabe diese Dinge nur aus.“
14.
Auch in diesem Winter ging Papa wieder fort. Théra würde bald drei Jahre alt werden. Sie wollte jetzt wissen, warum Papa im Winter fortgeht und sie an ihrem Geburtstag alleine lässt.
Papa war ehrlich. Er erzählte Théra von einer anderen großen Stadt, weit weg. Er erzählte, dass er dort viele Freunde hat. Er erzählte, dass dort viel Musik gemacht wird. Eine ganz andere Musik, wie bei den Quechua, hatte er gesagt. Dann hatte Papa von Conny der Geigerin, von Armando, dem Panflötenspieler und von Fatima, der Sängerin erzählt.
Théra hatte sich erinnert. Das war lange her gewesen, doch dann stieg diese Musik in ihr wieder auf, die sie damals gehört hatte, als Conny, Armando und Fatima das Konzert in „der großen Muschel“ gegeben hatten, dem Konzertsaal des Hotels.
Sie begann plötzlich zu singen, und ihre beiden Hunde stimmten schauerlich schön in den Gesang ein. Papa hatte gelächelt. „Wenn du etwas größer bist, dann nehme ich dich einmal mit nach Berlin. Dann wirst du Conny und Fatima wiedersehen. Du wirst Musik hören, die du noch nie zuvor gehört hast. Ich werde aber erst mit Mama darüber reden. Sie wird traurig sein, wenn du sie im Winter verlässt.“
Dann erzählte Papa von Bübchen, von Moses (dem Koch), von dem kleinen Spanier und anderen Freunden. Sie kommen alle aus Berlin, hatte Papa gesagt. Berlin ist eine sehr große Stadt. Sie ist ganz anders als unsere kleine Stadt hier. Ich werde dich darauf vorbereiten müssen.
Théra hatte ihre Arme um Papa gelegt und war irgendwann eingeschlafen. Sie träumte von einer fernen Stadt und stellte sich vor, dass es dort viele solcher Holzhäuser gab wie die, in der sie mit Papa und Mama lebte.
In diesem Winter wurde Théra drei Jahre alt. Onkel Bübchen besorgte wieder einen Baum mit vielen Lichtern und Kugeln und es gab Geschenke für Théra.
Die beiden schönsten Geschenke waren zwei Bücher. Eines über Tiere und Pflanzen. Es hatte viele Bilder und es gab dort viele Tiere, die Théra noch nie gesehen hatte.
Das andere war ein Bilderbuch über Berlin. Bübchen hatte sich das extra aus Berlin schicken lassen. Papa hatte es für sie ausgesucht. In den Folgetagen mussten Bübchen, Moses und der kleine Spanier immer wieder von Berlin erzählen. Théra lernte, dass auch die Wachleute des Hotels darüber Bescheid wussten, und sie löcherte sie mit vielen Fragen.
Das andere Buch war anders. Über den Winter hatten die Indios ihre Schulungen verstärkt aufgenommen. Die vielen Kinder der neuen Siedlung nahmen jetzt an dieser Schule teil. Théra ging oft mit Para dorthin. Sie nahm das Buch mit. Sie sah sich mit den anderen Kindern die Bilder an, sie lernte viel über Tiere und Pflanzen, und sie lernte die Zeichen für Tiere und Pflanzen kennen.
Die Siedlung der Indios war inzwischen noch einmal gewachsen. Es gab nun ein großes Zentrum, in dem sich die Aymara und Quechua trafen. Es gab dort viele Läden. Das Zentrum war beheizt. Es gab viele Tische und Bänke. Sie waren immer noch roh zusammengezimmert, aber das störte niemanden. Es gab die typischen Gerichte der Indios und es wurde viel gelacht und gesungen. Immer wieder begannen die Indios Geschichten zu erzählen. Vieles über ihre Traditionen war in Vergessenheit geraten. Langsam bildete sich ein ganz neues Bewusstsein über eine sehr alte Kultur.
Théra hätte gern über ihre eigenen Erlebnisse erzählt, von Königinnen und der alten Stadt, aber Para hatte ihr das verboten. „Alles das, was deine Mutter ausgräbt und was sie über unser Volk herausfindet, darüber dürfen wir sprechen. Das andere bleibt unser Geheimnis. Denk immer daran. Wir wissen manches, was andere nicht wissen. Es muss unser Geheimnis bleiben.“ Théra hatte solche Worte von Papa und Para schon oft gehört. Es tat manchmal körperlich weh, nicht über all diese Dinge sprechen zu dürfen. Théra hielt sich aber daran. Sie sprach nur mit Para, Papa und Mama über diese Dinge, die ein Geheimnis ihrer Familie waren.
Ihre kleine Schwester Clara war nun ein halbes Jahr alt. Clara war äußerlich ganz anders als Théra. Théra hatte die dunklen Haare und die warmen braunen Augen ihrer Mutter. Clara hingegen war blond und hatte die leuchtendblauen Augen ihres Vaters. Nur der Körperbau der beiden Kinder war gleich und Théra spürte, dass auch Clara die gleiche Kraft in sich trug wie Papa, Para und wie Théra selbst.
Théra hatte noch etwas bemerkt. Bevor es Weihnachten wurde, war Mama wieder schwanger geworden. Théra hatte in den Bauch von Mama hineingehorcht. „Ich bekomme einen Bruder“, hatte sie mit Bestimmtheit gesagt.
15.
Ohne dass Théra das wusste, hatte sich in diesem Sommer etwas sehr wichtiges ereignet. Sie sah immer wieder, dass Papa mit einem fremden Mann sprach. Er kam ab und zu. Er hatte Wachleute dabei (Théra kannte den Unterschied zwischen Wachleuten und anderen Menschen) und er schien ein sehr wichtiger Mann zu sein.
In diesem Herbst hatten Dennis und der Ministerpräsident lange zusammengesessen. Dennis hatte über die Ausgrabung gesprochen und über die vielen Schichten aus Erde, die über dem ganzen Tal lagen. Erde, die vor vielen Jahrhunderten aus Asche entstanden war, die aus dem fernen Vulkan herabgerieselt war.
Er lag 120 Kilometer entfernt auf der Hochebene. Stets zeigte sich dort eine dünne Rauchsäule. Théra hatte sie schon oft gesehen.
Papa und Para waren - ohne dass Théra das wusste - schon oft in der Gestalt von Adlern dorthin geflogen. Sie hatten den Vulkan umkreist, und sie hatten auf dem Kraterrand gestanden und in den tiefen blauen See hinabgeblickt, in dem immer wieder Gasblasen aufstiegen.
An