Der Clan der Auserwählten. Hans-Peter Vogt
kennengelernt. Es war auf einem der U-Bahnsteige. Sie kam gerade vom Geigenunterricht. Ein Paar Kinder pöbelten sie an und versuchten ihr die Geige zu entreißen. Katharina stand ein Stück weiter, zusammen mit drei ihrer Freunde. Sie sah das, und griff spontan ein, um Bea zu schützen. Das war der Beginn ihrer Freundschaft.
Artemis besucht diese Bea. Er wohnt ihrem Unterricht bei, und er nimmt diese Schwingungen in sich auf, die von dieser Musik erzeugt werden. Er kennt Schwingungen, die von Wind, Regen, dem Rascheln der Blätter, den Rufen von Tieren oder den Flügelschlägen der Vögel entstammen. Er hat auf seiner Reise quer durch die USA Musik gehört, die aus dem Radio kam. Er hat Musikgruppen mit ihren Instrumenten gesehen. Hillbilly, Gospel, Hiphop, Country und Western, aber diese Musik von Conny ist einzigartig. Diese Schwingungen sind einzigartig. Artemis ist sich sofort darüber im Klaren, dass man dieses Talent fördern muss.
Diese Bea ist ein ernstes Kind, aber sie ist mit einer Begeisterung für ihre Musik gesegnet, die Artemis tief beeindruckt. Das ist wahre Hingabe, wahre Liebe zu einer Ausdrucksform, die andere Menschen in gewaltige Schwingungen versetzen kann. Kurz: Bea geht ganz in ihrer Musik auf, aber sie vernachlässigt auch nie ihre neuen Freunde in ihrer Kindergruppe. Mit Katharina verbindet sie inzwischen ein enges Band.
Katharina bittet ihre Eltern, eine Patenschaft zu übernehmen, um Bea den Unterricht an einer richtigen Musikschule zu finanzieren. Sie würde im Gegenzug gerne auf die Tennisstunden verzichten. Das wäre sowieso nicht ihr Ding. Das Reiten wollte sie indes nicht aufgeben, und sie dürften immer gratis in eines der Konzerte gehen, das Bea in Zukunft geben würde.
So kam es, dass Bea in der anerkannten Schule einer Berliner Musikerin unterkam, die früher selbst die erste Geige bei den Berliner Philharmonikern spielte, bis durch einen Unfall der rechte Arm und die Schulter mehrfach gebrochen wurden, so dass sie damit aufhören musste.
Dann gibt es noch einen Jungen, der heißt Leon Mendez. Er hat einen spanischen Vater und eine dänische Mutter. Sie leben in Berlin, und auch Leon hat sich dieser Gruppe angeschlossen. Er ist ein äußerst interessantes Kind, aus der Sicht von Artemis. Ähnlich wie Katharina, ist Leon hellwach. Er spricht das Deutsch fließend, aber er kennt auch die Grundzüge in Spanisch und Dänisch. Das hat er von seinen Eltern gelernt. Er hat auch gelernt, sich schon in jungen Jahren selbstständig durch die Röhren der U-Bahn zu bewegen. Zunächst nur in den Zügen und auf den Bahnhöfen, später, nachdem er Roy und Kathy kennengelernt hat, auch zu Fuß, durch die Röhren und seitlich davon abgehende Schächte. Er schafft es immer wieder, von Zuhause auszubüchsen, und weil beide Eltern arbeiten, ist er an den Nachmittagen unbeaufsichtigt, so dass er seinem Hobby unkontrolliert frönen kann. Er hat schon früh im Umgang mit anderen Gangs gelernt, dass man sich schützen muss. Er hat sich eine richtige Truppe aus guten Freunden zugelegt, die oberhalb der U-Bahnwelt kaum einen Schritt alleine machen, zum eigenen Schutz, und er hatte irgendwann auch diese Gruppe der U-Bahnkids um Roy kennengelernt.
Obwohl alle diese Kids der Bande ungewöhnlich sind, erlebt Artemis, dass einige dieser Kids als Alphatiere geboren wurden. Roy, Spek, Kathy, Bea und Leon sind eindeutig Menschen, die durch ihren genetischen Code bereits auserwählt sind, um andere Menschen zu führen, und in ihrem Leben etwas Großartiges zu leisten.
Artemis schlüpft manchmal in die Köpfe von Roy und Spek. Er hat inzwischen ständigen Kontakt zu Bea und Kathy. Er begleitet Leon ein paar Wochen lang, und dann fällt er einen Entschluss.
2.5. Der neue Wirt
Artemis könnte so weiter leben, wie bisher. Unerkannt und unsichtbar, und er wird irgendwann sterben. Er hat zwar noch einige Jahrhunderte vor sich, aber insgesamt ist seine Zeit begrenzt.
In diesen Kids sieht er ein Potenzial, dessen er sich bedienen kann. Menschen, denen Freundschaft über alles geht. Menschen mit Weitblick und sozialer Verantwortung. Menschen, die schon jetzt einen Führungsanspruch in sich tragen. Wenn er dieses Potenzial unter seine Kontrolle bringt, dann hat Artemis vielleicht die Chance auf diesem Planeten etwas zu bewegen. Nicht sofort, aber Artemis hat ja Zeit.
Er weiß inzwischen auch, dass dieses Geld die Welt und das Denken der meisten Menschen beherrscht. In diesen Kids sieht er etwas anderes. Die Bereitschaft, zu teilen. Artemis weiß inzwischen aber auch, dass zu den Aufgaben, die sich gerade in seinem Kopf entwickeln gehört, über notwendige Geldmittel zu verfügen, um auf dieser Welt etwas zu bewegen.
Es ist ein Wagnis. Ein Neuanfang. Er wird dafür Sorge tragen, dass diese Menschen ihren Wurzeln treu bleiben. Auch das wird vielleicht nicht ganz einfach, aber Artemis ist zuversichtlich.
Artemis kann durch Zellteilung neue Nachkommen zeugen, jetzt, wo er wieder bei Kräften ist, und er wird dies wohl bald wieder tun, aber er braucht so etwas, wie einen sicheren Ausgangsort, wie eine Heimat, oder wie einen Wohnort, von dem er aus sicher operieren kann. Er beschließt, in den Kopf und in den Körper dieses Jungen einzuziehen, der Leon Mendez genannt wird. Er könnte im Wald leben, oder irgendwo auf den Plantagen, die von den Menschen angebaut werden, er könnte in Viren schlüpfen, oder in die Körper von Fliegen, aber er sucht die Nähe dieser Spezies, die versucht, sich den Planeten untertan zu machen. Das gelingt ihnen nur partiell. Sie haben zwar Mittel gegen Insekten, Bakterien und Viren entwickelt, aber gegen diese winzig kleinen Lebewesen sind sie letztlich machtlos. Artemis hat das bereits festgestellt. Gegen die Quadrilliarden Insekten ist kein Kraut gewachsen, und die Viren verändern sich schneller, als die Menschen Immunstoffe entwickeln können. Insekten und Viren und Insekten leben aber auch von den Menschen. Es ist ein Kreislauf. Die Menschen verstehen diese gegenseitige Abhängigkeit nur nicht. Nun ja, einzelne schon, die sich mit dem Immunsystem der Menschen oder mit Virologie beschäftigen.
Dennoch hat es diese Spezies geschafft, die Welt gewaltig zu verändern. Das hat Artemis begriffen. Sie sind zu einer Gefahr für das Leben auf dem Planeten in der jetzigen Form geworden.
Einer der Gründe für die Wahl von Leon ist, dass dieser Leon zu seinen Freunden eine besondere Beziehung pflegt, die von gegenseitiger Rücksicht und Achtung geprägt wird. Er ist kein Schläger. Er stiehlt nicht ungehemmt, und nur, um die anderen Kinder zu unterstützen. Er ist hilfsbereit, direkt und offen, auch wenn er seinen Eltern nicht ehrlich sagt, was er an diesen Nachmittagen treibt, wenn er unbeaufsichtigt ist, und Leon hat immer warme Hände, die Wohlgefühl vermitteln, wenn sie dich berühren. Außerdem ist Leon jung und formbar, und er verfügt über die Fähigkeit sich in Sprache auszudrücken. Artemis hat schon mitbekommen, dass die Sprache bei Kindern im allgemeinen unfertig ist, aber das stört ihn nicht. Er wird schon dafür sorgen, dass dieser Junge schnell lernt. Vor allem, dass er lernt, den Maximen der Cantara zu folgen.
Also zieht Artemis eines Nachmittags in den Körper von Leon, und er macht sich dort breit. Für Artemis ist dies zunächst ein Experiment. Er kann jederzeit aus diesem Körper wieder ausziehen, aber er kann diesem Jungen auch einen Teil seiner Kraft geben, um ihn in seinem Sinn zu beeinflussen und zu steuern. Er kann die Augen, Ohren, Geschmacksnerven, den Tastsinn, und die verbale Sprache des Jungen nutzen, um noch viel mehr von der Welt zu erfahren.
Er hat diesen Jungen bewusst ausgewählt. Er hätte auch in die Köpfe von Kathys Eltern einziehen können, oder in einen ihrer Geschäftspartner, in den Gärtner, in den Körper von Kathy, Bea, Roy, oder in einen x-beliebigen Politiker oder Wirtschaftslenker, aber nein, dieser Junge scheint ideal und Artemis hat Zeit. Er kann seinen Wirt auch jederzeit verlassen, und einen neuen wählen, wenn er nur will.
Für Leon wird diese überraschende Symbiose zu einem Energieschub. Er beginnt besser zu sehen, zu hören und zu riechen. Er entwickelt eine enorme Reaktionsschnelligkeit, ein gewaltiges Organisationstalent und ein Gespür für alles, was ihn umgibt. Er nimmt Kontakt zu Ratten, Mäusen und Vögeln auf und beginnt mit ihnen zu sprechen. Er knüpft Kontakte zu einigen wenigen Fledermauskolonien, die sich in einigen Schächten der U-Bahn niedergelassen haben, und er wird in der Schule so gut, dass die dort gestellten Aufgaben locker und leicht erledigt. Er könnte ohne weiteres ein Schuljahr überspringen, aber er hat an den Nachmittagen so viele selbstgestellte Aufgaben, dass er seine Energie in der Schule darauf beschränkt, dass hier zwischen den verschiedenen Interessengruppen Frieden herrscht. Leon