Die Suche nach der Identität. Hans-Peter Vogt
dann raste er die Treppen zur U-Bahn hinunter. Er merkte, dass er verfolgt wurde. Es waren mehrere. Dennis hatte keinen Fahrschein. Er übersprang die Sperren, er lief auf den Bahnsteig. Er kam in das Blickfeld der Kameras, und er wurde immer noch verfolgt.
Mit der Hilfe seines Bruders übersprang Dennis die Doppelgleise mit einem Satz, dann rannte er die Treppen hinauf. Jetzt konnte ihn niemand mehr einholen. Er lief die Strasse hinunter, und ging in das erstbeste chinesische Restaurant.
Dort begann er am Tresen leise seinen Singsang, seine universelle Sprache, wie er das nannte. Er sah, dass die Chinesen ihn verstanden. Sie waren völlig verblüfft, aber sie verstanden ihn.
Dennis bat um ein Telefonbuch und darum, ein oder zwei Telefonate zu führen. Er könne jetzt nicht bezahlen, aber er würde sich später erkenntlich zeigen.
Die Chinesen sahen sich diese merkwürdige Gestalt an, Sie sahen seine beiden Waffen, die ihnen seltsam vertraut vorkamen. Etwas in dieser Art hatte es auch im alten China gegeben. Dann winkte einer der älteren Chinesen Dennis kurzerhand in die Küche, gab ihm das Mobiltelefon und ließ ein Telefonbuch bringen.
Es war lange her, dass Dennis ein Handy in der Hand hatte, aber er schaffte es. Connys Nummer stand nicht im Telefonbuch. Aber er fand die Nummer des Konservatoriums.
Er ließ sich mit der Direktorin verbinden. Es war ein wenig mühsam, aber Dennis war höflich und sehr bestimmt. Es ist ein Notfall, sagte er. Es geht um Conny.
Als die Direktorin an den Apparat kam, fiel sie aus allen Wolken. Natürlich wusste sie noch, wer Dennis war. Wie war das möglich? Dennis war doch tot. Aber sie erkannte Dennis an der Stimme, und sie gab Connys geheime Telefonnummer bereitwillig an Dennis weiter. Ja, sie sei in Berlin, ja, sie habe sie gestern noch gesehen. Mehr wusste sie nicht.
Dennis betete, dass Conny da war. Nach fünfmal klingeln kam Conny endlich ans Telefon. Sie war unwirsch. Sie war in ihren Proben gestört worden, das war unverzeihlich.
Als sich Dennis zu erkennen gab, war es minutenlang still, dann hörte er ein Schluchzen. „Mein Gott“, sagte Conny fast erstickt, „wo bist du?“
„Kennst du den Chinesen in der Stadt?“ Dennis ließ sich die Adresse geben. „Frag nach dem seltsamen Indio. Sie werden dich zu mir führen. Beeil dich.“
Dann bat er den Chef um einen sicheren Platz. „Ich werde gleich abgeholt. Kennen Sie Conny, die Geigerin?“ Der Chinese kannte Conny. Sie war eine Berühmtheit. Das war eine große Ehre für den Chinesen. „Conny kennt jeder“, sagte er.
Denis erklärte kurz. „Ich werde von ein paar Jugendlichen verfolgt. Sie haben es auf das da abgesehen.“ Er zeigte auf seine Dolche und seine goldverzierte Weste. „Hast du einen Hinterhof?“
Der Wirt versicherte Dennis, er werde Conny zu ihm führen.
Dennis verzog sich zu Mülltonnen und stinkendem Unrat. Der Wirt hielt Wort.
Conny brauchte etwa eine halbe Stunde. Dann kam sie in das Lokal. Der Wirt erkannte sie sofort. Er verbeugte sich. Die Chinesen respektieren außerordentliches Können mehr als viele andere Völker.
Conny ließ sich in den Hinterhof führen und bat darum, alleine gelassen zu werden. Dennis der sich bis zu diesem Zeitpunkt hinter den Mülltonnen unsichtbar gemacht hatte, stand auf und er ging auf Conny zu.
Conny war eine elegante Erscheinung. Sie war nicht mehr dieses lange schlaksige Mädchen, das Dennis einst gekannt hatte, aber Dennis erkannte sie sofort.
Conny war immer noch verwundert, und sie erkannte Dennis trotz seiner seltsamen Verkleidung.
Dennis machte es kurz. „Bist du noch meine Freundin?“ Als Conny wie selbstverständlich nickte, bat er: „Kannst du mich hier raus bringen? Sicher und weitgehend ungesehen?“
Conny handelte kurz entschlossen. „Vor dem Haus steht mein Auto. Ein großer schwarzer SUV.“ Sie nannte die Marke. „Die sehn jetzt anders aus als - na ja du weißt schon - der Motor läuft, die hintere Beifahrertür ist offen. Ich gehe voran, sichere ab, dann kommst du raus. Beeil dich.“
Sie hatte in wenigen Sekunden erfasst, dass die Situation brenzlig war. Sie war durch die U-Bahnkids geschult. Sie wusste, was zu tun war.
Beim Hinausgehen gab sie dem Wirt zweihundert Euro in die Hand. „Danke“, sagte sie, „und zu keinem ein Wort. Halt’ dich dran. Du wirst es nicht bereuen.“
Sie ging hinaus. Sie hatte das Gefühl, irgendwas stimmte nicht. Sie gab ihrem Fahrer das Zeichen, den Motor anzulassen und sofort loszufahren, wenn sie Bescheid gibt.
Sie setzte sich auf den Hintersitz, öffnete die Tür, dann kam Dennis aus dem Lokal. Sie sah, wie sich einige Jugendliche in Bewegung setzten, aber Dennis war schon im Auto, schloss die Tür und Conny befahl: „Los jetzt. Gib Gas.“
Die Limousine setzte sich in Bewegung, die Jugendlichen liefen noch einen Moment hinter ihnen her, dann bog der Fahrer ab. Er dirigierte die Limousine geschickt durch den Verkehr.
„Bob“, sagte sie, „das hier ist Dennis. Ein sehr guter Freund. Wenn dich jemand fragt, dann hast du ihn nicht gesehen. Du weißt von nichts. Klar?“
Bob nickte. Er war Bodyguard. Er kannte sich aus. Conny wendete sich zu Dennis. Sie nahm seine Hände. „Das da vorn ist Bob. Er ist mein Fahrer und Leibwächter. Du kannst ihm vertrauen.“ Sie sah Dennis mit großen Augen an. Sie befühlte kurz die Weste, dann sagte sie, „du stinkst.“
Dennis lachte befreit. Diese Offenheit liebte er an Conny. „Kein Wunder“, antwortete er. „Kannst du mir eine Badewanne und neue Klamotten besorgen?“
„Fahr nach Hause“, befahl Conny ihrem Fahrer. Nimm die Garage. Telefonier’ jetzt sofort nach George, Bertie und Bastian. Sie sollen das Haus absichern.“ Der Fahrer hatte Sprechfunk. Sie fuhren in den Westen Berlins, in die Villenvororte. Es gab hier riesige Grundstücke mit hohen Zäunen, hohen Bäumen, Hunden und Kameras. An einem der Grundstücke öffnete sich ein Tor. Der Fahrer fuhr hinein. Es schloss sich lautlos hinter ihnen. Auch das Doppeltor der Garage öffnete sich.
Zehn Minuten später lag Dennis in der Badewanne. „Hast du schon mal ‘nen nackten Mann gesehn“, fragte er Conny. „Ich tu dir nichts. Setz dich zu mir.“
Conny lächelte. Sie war keine Jungfrau mehr.
„Das hier alles“, sie zog mit der Hand einen Bogen, „gehört der Stiftung. Lass dich davon nicht beeindrucken. Ich bin hier nur Gast. Es gehört zur Staffage.“ Sie lachte ein wenig. „Ich bin inzwischen eine kleine Berühmtheit geworden. Da muss man die Neugierigen mit hohen Mauern fern halten.“
Es hat sich nichts geändert, dachte Dennis. Dann fragte er, ob Conny Zeit hätte. „Ich nehm mir diese Zeit“, hatte Conny geantwortet. Sie hatte schon telefoniert und einige Termine abgesagt, während das Badewasser einlief. „Aber sag mal. Was sind das für seltsame Klamotten, mit denen du aufgekreuzt bist?“
Dennis seufzte. „Das ist schwer zu erklären. Ich war weit weg. Nicht nur das. Ich war in einer Welt vor dieser Zeit.“ Er zog mit der Hand denselben Kreis durch die Luft.
Conny wartete ab. Sie kannte Dennis Eigenheiten.
„Ich weiß nicht, wann das war“, fuhr Dennis fort. „Es gab kein Telefon, keine Autos, keine Flugzeuge, keine Post und auch keinen elektrischen Strom. Die Klamotten sind sehr alt und sie sind sehr kostbar. Mehr als das hab ich im Moment nicht.“
Dennis hatte seine „Klamotten“ - vorsichtig wie er war - ins Badezimmer mitgenommen. Sie lagen in der Ecke, auf einem Stuhl.
„Du gibst immer noch Konzerte“, fragte Dennis, und als Conny leicht nickte, fügte er hinzu: „Hast du jemals dieses einzigartige Klangerlebnis gefunden, was du immer verwirklichen wolltest?“