Terrafutura. Carlo Petrini

Terrafutura - Carlo Petrini


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das Evangelium zu verkünden, nämlich es zu leben, ohne es aufzuerlegen. Derselbe Missionar kam einige Zeit später für einen kurzen Verwandtenbesuch nach Bra, und natürlich fragten ihn die Stadtbewohner, wo man denn die Madonnenstatue aufgestellt habe, die man ihm aus Bra geschickt hatte. Ich wusste, dass sie in einem Lagerraum aufbewahrt wurde, aber er antwortete geschickt: »Seien Sie unbesorgt, ich bekomme die Madonna tagtäglich zu Gesicht!« (sie lachen) Da habe ich begriffen, dass es echte Integration gibt. Ihr Grundsatz lautete: »Wenn jemand unser Handeln sieht und uns näherkommen möchte, werden wir es ihm erklären, aber wir betreiben keinen Proselytismus – keine Abwerbung von Gläubigen anderer Religionen.«

      FDas stimmt, das stimmt. Genau das hat 2007 der damalige Papst Benedikt XVI. explizit formuliert, und zwar ausgerechnet in Aparecida in Brasilien. Er sagte damals: »Die Kirche betreibt keinen Proselytismus, sie entwickelt sich vielmehr durch Anziehung.« Es handelte sich also um eine päpstliche Absage an den Proselytismus.

      CJa, das ist aber doch eine epochale Wende!

      FDeshalb ärgere ich mich so, wenn behauptet wird, Benedikt sei ein Konservativer, Benedikt war ein Revolutionär! Mit vielen Dingen, die er getan, mit vielem, was er gesagt hat, war er ein Revolutionär! Dann ist er gealtert und konnte nicht mehr weitermachen, aber so gesehen war er wirklich ein Revolutionär.

      CSie stellen sich diese Lateinamerikasynode also als »interkulturell« vor …

      FAuf jeden Fall. Als ich nach Amazonien gereist bin, haben sich einige im Vatikan darüber aufgeregt: »Was, der Papst betet mit diesen Leuten, die halb nackt leben?« Sie haben nicht begriffen, dass diese Indigenen hochgebildet sind! Ich hatte die Ehre, an einem Mittagessen teilzunehmen, bei dem etwa ein Dutzend Personen verschiedener Ethnien anwesend war, und es war eine außergewöhnliche Erfahrung. Unter ihnen waren Universitätsdozenten und auch zwei Schuldirektoren. Gebildete Menschen, die jedoch an der Tradition festhielten, an dem, was sie das gute Leben nennen, was allerdings nicht unserem guten Leben entspricht. Es handelt sich vielmehr darum, »gut zu leben«, also im Einklang mit sich selbst, mit der eigenen Gemeinschaft und der Natur. Unser gutes Leben ist eher das süße Leben. Etwas ganz anderes.

      CWir können von diesen Kulturen und ihrer Spiritualität also viel lernen.

      FGanz bestimmt, und wir müssen dazu beitragen, diese Unterschiede zu bewahren.

      CEin letzter Punkt, zu dem ich gerne Ihre Meinung hören würde, betrifft die Gemeinschaften. Vor einigen Monaten habe ich in Santiago de Chile Fritjof Capra getroffen, einen österreichisch-amerikanischen Physiker und Philosophen und wahrhaft hellsichtigen Denker. Er sagte zu mir: »Carlo, angesichts der Entwicklung der globalen Politik glaube ich, dass die Zukunft in den Gemeinschaften liegt. Die Gemeinschaften können zu äußerst wichtigen Akteuren werden, da sie kraft ihres emotionalen Rückhaltes in der Lage sind, sich großen und anspruchsvollen Herausforderungen zu stellen.« Letztlich lassen sich in einer Gemeinschaft eben deshalb mutige Entscheidungen treffen und schwierige Probleme angehen, weil jeder Einzelne auf das Bewusstsein des emotionalen Rückhaltes bauen kann, den ihm die Gemeinschaft auch im Falle eines Irrtums gewähren wird. Und bei genauerer Betrachtung waren es stets die Gemeinschaften, die in den dunkelsten und schwierigsten Zeiten der Menschheitsgeschichte die weitreichendsten und positivsten Erneuerungen herbeigeführt haben. Man denke nur an die Benediktiner-Gemeinschaften, die im Spätmittelalter die Landwirtschaft und damit ganz Europa erneuert haben. Mich würde interessieren, wie Sie darüber denken. Auch deshalb, weil wir bei unserer Namenswahl zunächst an »Laudato-si’-Komitees« gedacht hatten, uns dann aber sagten, nein, nein, wir nennen uns Laudato-si’-Gemeinschaften.

      FWo wir gerade dabei sind: Kennen Sie den wahren Unterschied zwischen Komitee und Gemeinschaft? Er besteht im Grad der Zugehörigkeit. In einem Komitee gibt es eine organisatorische Zugehörigkeit, eine funktionale, oberflächliche oder zumindest auf ein Ziel beschränkte Zugehörigkeit. In einer Gemeinschaft geht es dagegen um vollkommene Zugehörigkeit. Ich gehöre zu dieser Gemeinschaft – ich bin frei, aber gänzlich Teil von ihr. Und auch außerhalb davon werde ich auf jeden Fall mit meiner Gemeinschaft identifiziert. Zugehörigkeit ist sehr eng mit Identität verknüpft, und so lautet denn auch die Definition, die mir am besten zusagt, ohne dass ich weiß, von wem sie stammt: Identität bedeutet Zugehörigkeit. Es gibt keine herausgelöste Identität, sie muss eingebunden sein in eine Gesellschaft oder Gemeinschaft. So ist das, das ist Zugehörigkeit.

      CDas erleben wir gerade bei dieser neuen Identität. Die Verbindung von Gläubigen und Ungläubigen bringt ein neues Subjekt hervor. Auf dem Weg dahin erscheinen wir wie der Teufel und das Weihwasser. Aber die Menschen begeistern sich für uns, weil sie erkennen, dass es letztlich das Gemeinwohl ist, was uns zusammenhält … Danke, Eure Heiligkeit! Wie ist es Ihnen ergangen?

      FGut, ich habe mich sehr heimisch gefühlt.

      1Auf Deutsch: Papst Franziskus, Mit Frieden gewinnt man alles. Im Gespräch mit Dominique Wolton über Politik und Gesellschaft, Herder, Freiburg im Breisgau 2019.

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