Jahrgangsübergreifendes Lehren und Lernen im 2. Zyklus (E-Book). Marco Adamina

Jahrgangsübergreifendes Lehren und Lernen im 2. Zyklus (E-Book) - Marco Adamina


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      Entsprechende Untersuchungen in den letzten Jahren liegen im deutschsprachigen Raum allerdings lediglich von Matter (2016) vor. Er weist positive Effekte auf die Unterrichtsorganisation und das Lernen der Schülerinnen und Schüler nach, wenn in Mehrjahrgangsklassen eine Parallelisierung der Inhalte von Jahrgangslehrmitteln vorgenommen wird.

      Einer der Hauptgründe für die mangelhafte Datenlage mag sein, dass sich Mathematiklehrpersonen stark an Lehrmittel anlehnen. Für Mehrjahrgangsklassen geeignete Aufgabenstellungen stehen zwar in Sekundärliteratur und vereinzelt auch in Lehrmitteln (Wälti et al., 2018) zur Verfügung, sind jedoch nicht Teil des Unterrichtskonzepts von Lehrmitteln. Diese sind für Jahrgangsklassen konzipiert: Die Aufgaben lassen sich einzeln bearbeiten, Erkenntnisse lassen sich dann allenfalls im Nachgang nach dem Konzept des dialogischen Lernens (Ruf & Gallin, 2011) diskutieren. Der Vordenker vieler aktueller Mathematiklehrmittel argumentiert, dass Mathematikunterricht mit Vorteil in Jahrgangsklassen unterrichtet werden sollte (vgl. Wittmann & Müller, 1984; 2012). Eher der Not gehorchend werden in den letzten Jahren Empfehlungen gemacht, wie mit Lehrmitteln für Jahrgangsklassen wie dem Zahlenbuch (Affolter et al., 2009; 2010) jahrgangsübergreifend gelehrt und gelernt werden kann. Diese Empfehlungen regen an, dass verschiedene Klassen am gleichen Thema bzw. am gleichen Lerngegenstand (z.B. Addition) arbeiten. Eine jahrgangsübergreifende Interaktion wird jedoch durch die verschiedenen Aufgaben stark behindert.

      Die Diskussion darüber, wie ein geeigneter alters- und niveaugemischter Unterricht aussehen mag, wurde jedoch jüngst durch die Lehrmittelreihe MATHWELT 1 (Hess et al., 2018) und MATHWELT 2 (Wälti et al., 2018) neu entfacht, ohne dass bisher entsprechende Forschungsergebnisse vorliegen. Damit Lernende verschiedener Klassenstufen mathematisch interagieren, ist nicht nur das Lernen an einem gemeinsamen Lerngegenstand, sondern immer wieder auch innerhalb der gleichen Aufgabe angesagt. Das Konzept der Interaktion bereits während der Aufgabenbearbeitung kontrastiert mit Arbeitsplänen, die stufenspezifische Bedürfnisse bedienen und von den Lernenden abgearbeitet werden müssen.

      Ob sich das Konzept der Interaktion während der Bearbeitung von Aufgaben durchzusetzen vermag, lässt sich zurzeit nur schwer abschätzen. Didaktische Wellen kommen und gehen, ohne dass sie die Frage nach dem bestmöglichen Lernerfolg für viele Schülerinnen und Schüler ultimativ beantworten. In den 90er-Jahren setzten Gallin und Ruf mit dem Konzept des dialogischen Lernens (ich – du – wir) einen Akzent, der das gemeinsame Lernen betont. Zurzeit bekennen sich viele Schulen konzeptionell zu individuellem, selbstorganisiertem Lernen (SOL). Die Suche nach einer lernförderlichen Balance zwischen individuellem und kooperativem Lernen ist vor diesem Hintergrund für viele Lehrpersonen nicht nur Spannungsfeld, sondern fortwährende Lern- und Entwicklungsaufgabe mit entsprechendem Forschungsbedarf.

      Die gedanklichen Vorreiter dieser scheinbar gegensätzlichen Positionen sind Piaget und Vygotzky.

      Piaget verstand Lernen als Zusammenspiel von zwei Prozessen: der Assimilation (Einordnung einer neuen Erfahrung in ein bestehendes kognitives Schema) sowie der Akkommodation (Veränderung eines kognitiven Schemas aufgrund von Erfahrung). Gemäss Piaget kann die Umwelt Lernen lediglich stimulieren, neue Erkenntnisse werden immer individuell konstruiert.

      Der Interaktionismus sieht demgegenüber individuelle Lernfortschritte in Zusammenhang mit Interaktionsprozessen zwischen den Individuen einer Gruppe. Das eigentliche (individuelle) Lernen wird diesem Verständnis folgend durch kollektive Prozesse ausgelöst, die dem individuellen Lernen «voranschreiten». Auf der aktuellen Entwicklungsstufe können Probleme auf einem bestimmten Niveau selbstständig gelöst werden. Auf der nächsten Stufe kann ein Problem zunächst nur durch Nachahmung oder Anleitung gelöst werden. Lernen ist dann quasi die kognitive Nachbearbeitung von Erlebtem. Die Rolle der Schule besteht folgerichtig darin, die Lernenden beim Übergang in die nächste Zone mithilfe entsprechender Lernsettings zu begleiten.

      Vygotsky (vgl. Textor, 2000) und Piaget (vgl. Montada, 1995) gehen gleichermassen von der Prämisse aus, dass Lernen durch Irritationen ausgelöst wird. Irritationen provozieren individuell bedeutsame Fragen. Die «Zone der nächsten Entwicklung» eröffnet sich laut Vygotzky (Textor, 2000) ausgehend von bedeutsamen Fragen durch die Auseinandersetzung mit Lerngegenständen, Situationen oder Lernpartnerschaften sowohl beim individuellen als auch beim kooperativen Lernen.

      Ein Blick in den Unterricht von Mehrjahrgangsklassen legt die Vermutung nahe, dass individualisiertes Lernen für viele Lehrpersonen ein Gebot der Stunde ist. Unter dem Etikett «SOL» besteht für viele Lernende die Lernzeit zu einem grossen Teil aus Planarbeit. SOL verspricht einerseits, den unterschiedlichen Lernbedürfnissen der Lernenden Rechnung zu tragen, und andererseits, selbstgesteuertes Lernen zu fördern. Nicht selten wird die Arbeit mit vorgefertigten Plänen als Gegenentwurf zum lehrpersonenzentrierten Unterricht interpretiert und als geeignete Form der Individualisierung und Differenzierung angesehen. Dass dabei kooperatives Lernen weitgehend auf der Strecke bleibt, wäre leichter zu verschmerzen, wenn wenigstens das individuelle Lernen substanziell gefördert würde. Wo aber Pläne als abzuarbeitender Stoff verstanden werden, weicht das Lernen in Sinnzusammenhängen – zumindest teilweise – dem Generieren von Aufgabenlösungen. In diesem Fall verstehen Lernende ihre Ziele nicht inhaltlich, sondern messen ihr Lernen an der Anzahl erledigter Aufgaben. Dass Konzepte der Lernenden dabei im Sinn von Piaget irritiert werden, ist wohl eher die Ausnahme.

      Auf der Suche nach der angesprochenen Balance zwischen individuellem und kooperativem Lernen gilt es, individuell bedeutsame und qualitativ hochwertige Lernunterstützung anzubieten. Eine solche Lernunterstützung lässt sich weder rezeptartig organisieren, durch Arbeitspläne gewährleisten oder digital verwalten. Sie entsteht situativ im Wechselspiel mit den Lernenden. Die an sich begrüssenswerte Stossrichtung der SOL-Welle (hin zu einem schülerinnen- und schülerzentrierten Unterricht) hat das Lernen nicht nur einsamer, sondern auch weniger lustvoll und technokratischer werden lassen. Im Sinn der aus dem Lot geratenen Balance gilt es heute, echt kooperatives Lernen vermehrt in den Fokus zu nehmen.

      Das kooperative Lernen ist eine Form des Lernens, bei der die Schülerinnen und Schüler zusammenarbeiten, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Im Idealfall können die Mitglieder der Gruppe das eigene Ziel nur dann erreichen, wenn auch die anderen Gruppenmitglieder erfolgreich sind (vgl. Johnson et al., 2000). Das Einteilen von Lernenden in Lerngruppen bedeutet jedoch noch lange nicht, dass daraus kooperatives Lernen während der Aufgabenbearbeitung entsteht. Um die Stossrichtung der Beispiele im nächsten Kapitel einordnen zu können, enthält Tabelle 4 eine Gegenüberstellung von drei Konzeptionen des kooperativen Lernens. Die folgenden Unterrichtsbeispiele sind in der rechten Spalte anzusiedeln.

Art der Kooperation
Methodenbasiertes, kooperatives Lernen Kooperatives, dialogisches Lernen Kooperatives Lernen während der Aufgabenbearbeitung
Charakteristik Die Methode steht im Zentrum. Oft werden damit Grundfertigkeiten automatisiert. Fachliche Anliegen werden in die Methode «eingefüllt». Aufgaben werden im Dialog bearbeitet. Oft ist aber auch bloss eine gemeinsame Reflexion nach der Aufgabenbearbeitung vorgesehen. Fachliche Anliegen stehen im Zentrum. Interaktion ist notwendig, um ein gegebenes Ziel zu errei-chen. Die Lernsituation ist einzeln nicht machbar.
Positionierung Keine Lernaufgaben. Die Methode bestimmt die Aufgabe, fachliche Anliegen sind austauschbar. Es geht in der Regel lediglich darum, deklaratives Wissen abzufragen oder zu automatisieren. Anregungen sind u.a. in Ratgebern zu kooperativem Lernen zu finden. Reichhaltige Lernaufgaben, Lernumgebungen. Zum Beispiel in Mathematik und Deutsch haben sich in den letzten Jahren Lehrmittel und Begleitliteratur diesem Anliegen stark angenommen. Prominente Unterstützung von Gallin und Ruf. Spielerische Ansätze oder problemorientierte Aufgaben, die nur gemeinsam gelöst werden können. Vereinzelt in Lehrmitteln anzutreffen. Entsprechende Chancen werden für das Lernen in vielen Fächern wenig
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