Hat China schon gewonnen?. Kishore Mahbubani
Chinesen behaupten, nicht sie hätten damit begonnen, Felsen und Riffe im Südchinesischen Meer zurückzufordern, dann haben sie recht. Dieses Spiel haben die anderen vier Länder, die Ansprüche erheben, begonnen. China legte über einen sehr langen Zeitraum hinweg sehr große Zurückhaltung an den Tag. Leider beschloss man nach der globalen Finanzkrise jedoch, die eigenen Forderungen deutlich zu intensivieren. Mit ihrem neuen Auftreten im Südchinesischen Meer gaben die Chinesen jedoch den antichinesischen Stimmen in Amerika ein nützliches Propaganda-Werkzeug an die Hand.
Genauso ist klar, dass Pekings Zurschaustellung von Arroganz dem Geist dessen zuwiderlief, was Deng Xiaoping seinen Nachfolgern als Empfehlung mit auf den Weg gegeben hatte: „Beobachtet mit kühlem Kopf. Bleibt standhaft. Reagiert umsichtig. Verbergt unsere Fähigkeiten und wartet auf den rechten Augenblick. Beansprucht niemals die Führungsrolle. Seid fähig, etwas zu Ende zu führen.“ (Lěng jìng guān chá, wěn zhù zhèn jiáo, chén zhuó yìng fù, tāo guāng yăng huì, jué bù dāng tóu, yŏu suŏ zuò wéi,
Möglicherweise hätte sich dieses Problem eindämmen lassen können, hätte China über starke Anführer wie Deng Xiaoping und Zhu Rongji verfügt. Sie hätten einen Teil dieser Arroganz zügeln können. Leider jedoch waren die Nullerjahre auch ein Jahrzehnt mit einer vergleichsweise schwachen Führung. Chinas politische Führung zählt – ähnlich wie der Kreml zu Sowjetzeiten – fraglos zu den geheimnisvollsten Institutionen der Welt, dennoch ist klar, dass die Herrschaft von Hu Jintao (2003–2013) ein Interregnum darstellte zwischen der starken und disziplinierten Führung von Jiang Zemin (1993–2003) und Zhu Rongji (1998–2003) auf der einen Seite und der von Xi Jinping (2013 bis heute) auf der anderen Seite. Diese Phase relativer Schwäche führte dazu, dass sich, angeführt von Bo Xilai und Zhou Yangkong, Lager bildeten und die Korruption stark zunahm. Zugleich ließ Chinas Disziplin in seinen externen Angelegenheiten nach.
Was hätte China in den Nullerjahren mit einer stärkeren Führung anders machen können? Als es 2001 als Entwicklungsland der Welthandelsorganisation WTO beitrat, kam China in den Genuss zahlreicher Zugeständnisse, insofern hätte es als Allererstes anfangen müssen, sich langsam und stetig dieser Konzessionen zu entwöhnen. Dazu hätte es verkünden sollen, dass es als WTO-Mitglied im Rang eines Entwicklungslands zwar theoretisch das Recht genieße, diese Privilegien in Anspruch zu nehmen, dies in der Praxis aber nicht tun werde.
Chinas Wirtschaft erlebte ihre explosivste Wachstumsphase nach dem WTO-Beitritt 2001. Das BIP explodierte von 1.200 Milliarden Dollar im Jahr 2000 auf 11.100 Milliarden Dollar im Jahr 2015.24 China war so klug, seinen Beitritt in die WTO im Rang eines Entwicklungslands auszuhandeln, und das zu Recht. 2000 lag das jährliche kaufkraftbereinigte Pro-Kopf-Einkommen25 gerade einmal bei 2.900 Dollar (in etwa auf einem Niveau mit Pakistan, Bhutan, Jemen, den Kapverden, den Marshall-Inseln und Aserbaidschan). 2015 war das Pro-Kopf-Einkommen auf 14.400 Dollar gestiegen.26 Im selben Zeitraum entwickelte sich Chinas Volkswirtschaft von der Nummer 6 weltweit zur Nummer 2.
Natürlich hat es etwas offenkundig Unfaires an sich, wenn die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt (mit den größten Devisenrücklagen der Welt) für sich in Anspruch nimmt, genauso anfällig wie der Tschad oder Bangladesch zu sein und deshalb zu seinem Schutz besonderer WTO-Regelungen bedürfe. Das Paradoxe hier ist, dass China hart darum kämpfte, als Entwicklungsland eingestuft zu werden, dies in der Praxis aber nicht nutzte. Zwei Ökonomen, die sich die Bedingungen, zu denen China in die WTO aufgenommen wurde, gründlich angesehen haben, stellten folgende Beobachtung an: „Anders als gemeinhin angenommen hat China von den Vorteilen, die Entwicklungsländern beim Eintritt in die WTO zustehen, kaum welche in Anspruch genommen, abgesehen davon, dass es den Titel ‚Entwicklungsland‘ führen darf.“27 Und dennoch glaubten viele ausländische Beobachter, China nutze seinen Status als Entwicklungsland aus. Einer von Chinas besten Freunden in Amerika ist der ehemalige Finanzminister Hank Paulson. Er arbeitet persönlich stark an guten Beziehungen zu China und hat das Paulson-Institut begründet, eine Denkfabrik, die „sich der Aufgabe widmet, ein amerikanisch-chinesisches Verhältnis zu fördern, das in einer Welt, die rasche Veränderungen durchläuft, zur globalen Ordnung beiträgt“.28
Im November 2018 hielt Paulson auf einer Konferenz in Singapur eine wütende Rede, in der er gut darlegte, warum das Ausland so enttäuscht darüber ist, dass sich China hinter WTO-Regeln versteckt, die für arme Entwicklungsländer gedacht waren:
17 Jahre nach dem Beitritt zur WTO hat China seine Wirtschaft in so vielen Bereichen noch immer nicht für die ausländische Konkurrenz geöffnet. Es hält an Anforderungen für Gemeinschaftsunternehmen und Beschränkungen für ausländischen Besitz fest. Und es setzt technische Standards, Tochterunternehmen, Lizenzvergaben und Regulierung als nichttarifliche Hemmnisse bei Handel und Investitionen fest. Fast 20 Jahre nach dem Beitritt zur WTO ist das schlicht inakzeptabel. Aus diesem Grund hat die Regierung Trump erklärt, das WTO-System müsse modernisiert und verändert werden. Und ich stimme zu.29
Anschließend erklärte er, warum sich die amerikanische Geschäftswelt gegen China wandte:
Wie kann es sein, dass diejenigen, die China am besten kennen, dort arbeiten, dort Geschäfte machen, dort Geld verdienen und sich in der Vergangenheit für ein fruchtbares Verhältnis eingesetzt haben, jetzt zu denen gehören, die für mehr Konfrontation plädieren? Die Antwort findet sich in der Geschichte der abgewürgten Wettbewerbspolitik und dem langsamen Tempo der Öffnung, die sich seit fast zwei Jahrzehnten hinzieht. Das hat der amerikanischen Unternehmerschaft den Mut genommen und sie fragmentiert. Und es hat den negativen Stimmungsumschwung in der Politik und bei unseren Fachleuten verstärkt. Kurzum: Auch wenn weiterhin viele amerikanische Unternehmen in China prosperieren, hat eine wachsende Zahl von Unternehmen die Hoffnung aufgegeben, dass es jemals gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle geben wird. Einige haben sich auf den faustischen Handel eingelassen, den Gewinn pro Aktie heute zu maximieren, während man gleichzeitig unter Einschränkungen agiert, die die künftige Wettbewerbsfähigkeit gefährden. Aber das heißt nicht, dass sie damit glücklich sind.
Noch vernichtender fiel Paulsons Urteil aus, als er darüber sprach, dass Chinas Unternehmen im Ausland bessere Wettbewerbsbedingungen vorfänden als diejenigen, die China ausländischen Firmen anbiete:
Gleichzeitig dürfen chinesische Firmen in anderen Ländern auf eine Art und Weise agieren, die ausländischen Firmen in China selbst nicht möglich ist. Das verschlimmert die grundlegenden Spannungen. Und deshalb glaube ich, dass Chinas Handeln und seine fehlende Öffnung zu dieser stärker auf Konfrontation ausgelegten Haltung in den Vereinigten Staaten beigetragen haben. […] Nicht nur, dass ausländische Technologien transferiert und geistig verarbeitet werden. Sie werden so umgearbeitet, dass ausländische Technologien im Rahmen eines Indigenisierungsprozesses zu chinesischen Technologien werden, den viele der multinationalen CEOs, mit denen ich spreche, als ausgesprochen ungerecht gegenüber den Erfindern und Schwärmern im Herzen ihrer Unternehmen empfinden.
Sollte Chinas größter strategischer Fehler in seinem Verhältnis zu Amerika darin bestanden haben, auf unnötige und unkluge Weise die amerikanische Geschäftswelt (und bis zu einem gewissen Grad auch die globale Geschäftswelt) vor den Kopf gestoßen zu haben, hätte das Ganze zumindest auch einen positiven Aspekt: Es handelt sich um einen strategischen Fehler, der korrigiert werden kann. Es sollte China möglich sein, den guten Willen und das Vertrauen der globalen Geschäftswelt zurückzugewinnen.
Bevor China allerdings mit einer neuen Initiative die globale Geschäftswelt