Hat China schon gewonnen?. Kishore Mahbubani
sich die anderen Mitglieder des Westens hinter Amerika stellen und ihm helfen, indirekt oder direkt.
Abschließend möchte ich sagen: Während wir unser großes Ringen mit Amerika beginnen, wäre unser größter strategischer Fehler der, die Macht und Stärke des Landes zu unterschätzen. Dieses Land tauchte vor 250 Jahren aus dem Nichts auf. Es ist viel jünger als wir. Doch trotz seiner Jugend (oder vielleicht auch deshalb) besitzt Amerika eine der dynamischsten Gesellschaften, die die Menschheit je gesehen hat. Bereiten wir uns auf den größten geopolitischen Wettstreit aller Zeiten vor. Wollen wir unser historisches Ziel erreichen und bis 2049 unsere nationale Verjüngung abgeschlossen haben, werden wir diesen Wettstreit für uns entscheiden müssen.22
Dieses Memo mag fiktiv sein, aber ich denke, es gibt exakt wieder, wie die chinesische Elite Amerika sieht. Es herrscht dort echter Respekt für die großen Stärken, über die Amerika verfügt. Selbst Huawei-Gründer Ren Zhengfei hat öffentlich seinen Respekt für Amerika bekundet, obwohl die Amerikaner seine Tochter verhaftet haben und sein Unternehmen in Amerika massiv Prügel einstecken musste. Infolgedessen wird die chinesische Führung gewaltige Anstrengungen unternehmen, einen ausgewachsenen geopolitischen Wettstreit mit Amerika so lang wie möglich hinauszuzögern. Es ist ein Paradoxon des großen geopolitischen Wettstreits, der sich in den kommenden Jahrzehnten zwischen Amerika und China abspielen wird, dass diese Auseinandersetzung genauso unvermeidlich wie vermeidbar ist. Unvermeidlich ist sie, weil viele der politischen Entscheider, die für das taktische Vorgehen verantwortlich sind, von einer Psychologie besessen sind, laut der Wettbewerb zwischen großen Mächten stets ein Nullsummenspiel ist. Das bedeutet: Wenn China seine Marinepräsenz im angrenzenden Südchinesischen Meer verstärkt, wird die US Navy dies als Niederlage ansehen und ihrerseits ihre Präsenz in der Region verstärken. Ich hoffe, hier aufzeigen zu können, dass es keinen grundlegenden Interessenkonflikt zwischen den Vereinigten Staaten und China gibt, wenn es darum geht, die Freiheit der Schifffahrt in den internationalen Gewässern zu gewährleisten. Tatsächlich hat China sogar ein stärkeres Interesse an der Freiheit der Schifffahrt als Amerika.
Ein zentrales Ziel dieses Buchs ist es, den dichten Nebel der Missverständnisse, der die chinesisch-amerikanischen Beziehungen einhüllt, fortzublasen, damit beide Seiten besser die zentralen Interessen der anderen Seite begreifen (wenn schon nicht gutheißen) können.
Nun sorgt ein besseres Verständnis nicht automatisch für Frieden und Harmonie. Aus rein ideologischen Gründen muss jede amerikanische Regierung Sympathie für die Demonstranten in Hongkong bekunden, die mehr Rechte einfordern. Die öffentliche Meinung in Amerika verlangt, dass die Vereinigten Staaten die Demonstrationen unterstützen. Eine gewiefte amerikanische Regierung sollte der öffentlichen Meinung jedoch als Gegengewicht ein fundiertes Verständnis für die zentralen Interessen der chinesischen Führung entgegenstellen. Ein chinesischer Anführer, der den Anschein erweckt, Schwäche im Umgang mit Territorien zu zeigen, die China im 19. Jahrhundert im Augenblick seiner größten Schwäche entrissen wurden, wird von seinem Volk abgeurteilt werden und rasch sein Amt verlieren.
Insofern hoffe ich, dass die Leser meines Buchs nach der Lektüre ein besseres Verständnis der Dynamiken besitzen, die beide Seiten antreibt. Das Buch lässt Raum für einen möglicherweise optimistischen Abschluss. Wenn wir daran glauben, dass wir in einem Zeitalter der Vernunft leben, in dem nüchterne, rationale Schlussfolgerungen und ein geopolitisches Verständnis für die zentralen Interessen des Gegenübers die öffentliche Politik bestimmen, dann ist es beiden Seiten möglich, eine Langzeitpolitik auszuarbeiten, die verhindert, dass die Länder unaufhaltsam auf einen so schmerzhaften wie unnötigen Zusammenstoß zusteuern.
Eine wichtige Statistik sollten die Anführer in Amerika wie auch in China ständig im Hinterkopf behalten: In Amerika leben 330 Millionen Menschen, in China sind es 1,4 Milliarden. Das sind gewaltige Zahlen, aber die Summe von 1,7 Milliarden macht keine 25 Prozent der Weltbevölkerung aus. Innerhalb der restlichen 75 Prozent ist vielen Menschen inzwischen klargeworden, dass die Menschheit auf einem kleinen, engmaschig verknüpften und stark bedrohten Planeten lebt, von dem wir alle abhängig sind. Insofern wird der Rest der Welt wenig Nachsicht zeigen, sollten Amerika oder China extrem oder irrational handeln.
Amerikas Gründungsväter haben in der Unabhängigkeitserklärung verlangt, dass das amerikanische Volk „Anstand und Achtung für die Meinungen der Menschheit“ zeigt. Wann gab es je einen besseren Zeitpunkt als heute, diesen Rat anzunehmen? Die Welt ist ein komplizierter Ort. Dieses Buch wird die Komplexität durchdringen und Empfehlungen für den Umgang mit ihr abgeben.
Auf dem Weg zum freudigen Zielpunkt dieser optimistischen Schlussfolgerung müssen wir zunächst durch freudloses Territorium reisen. Deshalb befasst sich dieses Buch zunächst mit einer Analyse der wichtigsten strategischen Fehler, die China und Amerika begangen haben. Viele der schmerzhaften Beobachtungen, die ich hier mache, könnten beim chinesischen Publikum genauso für Unbehagen sorgen wie beim amerikanischen. Doch China und Amerika können nur dann lernen, zusammenzuarbeiten, wenn sie erkennen, wo beide Seiten falschlagen. Deshalb wird unsere Reise an diesem Punkt beginnen.
CHINAS GRÖSSTER STRATEGISCHER FEHLER
Chinas größter strategischer Fehler bestand darin, mehrere große Wählergruppen in Amerika zu verprellen, ohne sich vorher gründlich zu überlegen, welche Folgen das haben könnte. Professorin Susan Shirk zählt zu Amerikas bekanntesten Sinologinnen. Sie beobachtete, dass niemand China in Schutz genommen habe, als Präsident Trump seinen Handelskrieg gegen China verkündete: „Obwohl die USA und China am Rand einer wirklich feindlichen Beziehung stehen, ist keine Gruppe an die Öffentlichkeit gegangen und hat sich für das amerikanisch-chinesische Verhältnis ausgesprochen, ganz zu schweigen davon, dass jemand China verteidigt hätte. Keine Unternehmen, keine China-Gelehrten und schon gar nicht jemand aus dem Kongress.“1 Ganz anders war das in den 1990er-Jahren, als es darum ging, China vom Meistbegünstigungsprinzip auszunehmen. Damals regte sich an verschiedenen Ecken der Geschäftswelt Protest.
Es überrascht, dass China sich von Amerikas Geschäftswelt derart entfremdet hat. Amerikas Unternehmen konnten und können bis heute gewaltige Gewinne in China erzielen, insofern sollten sie sich zumindest in der Theorie doch vehement für ein gutes Verhältnis zwischen USA und China einsetzen. Tatsächlich verfolgen Amerikas Geschäftsleute keinerlei ideologische Ziele. Was sie interessiert, sind ausschließlich die Geschäftszahlen ihrer Unternehmen. Sie wollen bloß einfachen Zugang zum gewaltigen chinesischen Markt, um dort Umsatz und Gewinne steigern zu können. Zahlreiche amerikanische Unternehmen haben in der Vergangenheit von China profitiert und trotzdem sprang praktisch keines China gegen Trumps Angriffe zur Seite. Was ist da schiefgelaufen? Die Geschichte ist kompliziert. Um zu begreifen, wie es zu dieser Entfremdung mit der amerikanischen Unternehmenswelt kam, sollten wir uns zunächst Erfolgsgeschichten von US-Konzernen wie Boeing, General Motors (GM) und Ford in China ansehen.
Boeing hat enorm vom chinesischen Markt profitiert. Das Unternehmen hat dort über 2.000 Flugzeuge verkauft und der Umsatz in China hat sich von 1993 bis 2017 von 1,2 Milliarden auf 11,9 Milliarden Dollar verzehnfacht, wodurch der Anteil des Geschäfts mit Verkehrsflugzeugen an Boeings Gesamtumsatz von 5,7 auf 21 Prozent kletterte.2,3 Im November 2018 teilte Boeing mit: „Chinas Flotte an Verkehrsflugzeugen wird sich im Verlauf der nächsten 20 Jahre voraussichtlich mehr als verdoppeln. Boeing prognostiziert, dass China bis zum Jahr 2038 7.690 neue Flugzeuge im Gesamtwert von 1.200 Milliarden Dollar benötigen wird.“4 Natürlich hat Boeing durch China gewaltige Gewinne erzielt und viele Arbeitsplätze für amerikanische Arbeitnehmer erschaffen. Genauso wichtig: Die Nachfrage aus China hat Boeing geholfen, raue Zeiten zu überstehen. In einem Bericht heißt es: „Der chinesische Markt gewann für Boeing noch zusätzlich an strategischer Bedeutung, als das Unternehmen in den frühen 1990er-Jahren während einer globalen Rezession gezwungen war, die Produktion zu kürzen und Stellen abzubauen. Inmitten der wirtschaftlichen Flaute blieb das Geschäft in China konstant. 1990 erhielt Boeing einen Auftrag für Flugzeuge im Wert von neun Milliarden Dollar, lieferte 1992 sein 100. Flugzeug nach China und gerade einmal zwei Jahre