Hat China schon gewonnen?. Kishore Mahbubani

Hat China schon gewonnen? - Kishore Mahbubani


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alt="image"/>) und nicht vom westlichen Schachspiel geleitet wird. [Anm. d. Übers.: Bei uns ist Wei Qi vermutlich eher unter seinem japanischen Namen Go bekannt.] Beim Schach geht es darum, schnellstmöglich den gegnerischen König zu fangen. Bei Wei Qi besteht das Ziel darin, langsam und geduldig darauf hinzuarbeiten, dass sich das Gleichgewicht des Spiels irgendwann zum eigenen Vorteil verlagert. Es geht um langfristige Strategien, nicht um schnelle Erfolge. Arbeitet China also langsam und geduldig darauf hin, das strategische Gleichgewicht Schritt für Schritt zu seinen eigenen Gunsten zu verschieben? Interessanterweise hat Amerika zwei größere Anstrengungen unternommen, Schritte zu vereiteln, die China auf lange Sicht Vorteile einbringen sollten. Beide schlugen fehl. 2014/15 bemühte sich die Regierung Obama vergebens, ihre Verbündeten daran zu hindern, sich der von China angeregten Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank (AIIB) anzuschließen. Ebenso scheiterte die Regierung Trump mit ihren Bemühungen, zu verhindern, dass sich ihre Verbündeten an Chinas „Belt & Road“-Initiative beteiligen. Stellt Amerika ausreichend Ressourcen für den langfristigen Wettbewerb ab? Verfügt die amerikanische Gesellschaft von Natur aus über die Stärke und die Ausdauer, die es braucht, um bei Chinas auf lange Sicht ausgelegtem Vorgehen mitzuhalten?

      Die Absicht dieser Fragen besteht darin, eine Strategiedebatte anzustoßen, das Undenkbare zu denken und die vielen komplexen Schichten des geopolitischen Wettstreits, der sich im Verlauf des nächsten Jahrzehnts zwischen USA und China herausbilden wird, zu sezieren und zu begreifen. Eines der Ziele dieses Buchs ist es, sachliches und rationales Denken zu einem Thema zu fördern, das unvermeidbar komplex sein und Wandlungen unterliegen wird. Jeder amerikanische Stratege wird sich, bevor er sich in einen großen geopolitischen Wettbewerb stürzt, eine grundlegende Frage stellen müssen: Bin ich mir des wahren Ausmaßes der damit einhergehenden Risiken bewusst? Oder anders formuliert: Kann Amerika verlieren? Der Gedanke wirkt unvorstellbar. Sowohl physisch wie auch moralisch hält sich Amerika seit Langem für die stärkste Nation. Amerikas Wirtschaft – und in der Folge sein Militär – ist seit mehr als einem Jahrhundert die weltweite Nummer 1. Der natürliche Vorteil, einen dünn besiedelten, mit Bodenschätzen gesegneten Kontinent zu bewohnen, in Kombination mit der Innovationskraft und der Vitalität der amerikanischen Institutionen (insbesondere seinen freien Märkten, seiner Rechtsstaatlichkeit und seinen Universitäten) und des amerikanischen Volks haben in Amerika die Überzeugung geweckt, keine andere Nation auf der Erde könne es auch nur annähernd mit seinem Einfallsreichtum und seiner Produktivität aufnehmen.

      Auf moralischer Ebene ist es für die meisten Amerikaner eine absolut absurde Vorstellung, eine freie und offene Gesellschaft wie Amerika, die stärkste Demokratie der Welt, könnte einen Wettstreit gegen eine geschlossene kommunistische Gesellschaft wie die chinesische verlieren. Die Amerikaner neigen zu dem Glauben, dass das Gute stets über das Böse triumphiert und kein politisches System von Natur aus so gut ist wie das, was den Gründern der Republik vorschwebte. Das könnte auch erklären, warum die Verteufelung Chinas in den vergangenen Jahren so stark zugenommen hat. Je mehr China als böser Akteur hingestellt wird (vor allem, weil China sich über Amerikas Erwartung hinwegsetzte, dass sich das Land progressiv öffnen und im Verlauf einer Annäherung an Amerika in eine demokratische Gesellschaft verwandeln würde), desto einfacher ist es für Amerikaner geworden, sich an den Glauben zu klammern, dass man früher oder später gegen China triumphieren werde, unabhängig davon, wie die Chancen dafür tatsächlich stehen.

      Amerika rühmt sich des Weiteren, eine rationale Gesellschaft zu sein, und in vielerlei Hinsicht ist sie das auch. Sie ist Erbin der großen Erzählung von der westlichen Gesellschaft mit ihren Wurzeln in Vernunft und Logik. Die wissenschaftliche Revolution, die der westlichen Kultur so viel Schub verlieh, ermöglichte auch ihre Dominanz. Mit den Vorteilen, die mit einem lebendigen Markt, den stärksten Universitäten und den am besten ausgebildeten Eliten der Welt verbunden sind, ging Amerika davon aus, dass keine Gesellschaft würde mithalten können, wenn es um die entscheidenden Bereiche ging – um wirtschaftliche und militärische Stärke, um intellektuellen Einfallsreichtum und um moralische Überlegenheit.

      Und weil sie in der offensten Gesellschaft auf diesem Planeten leben, gingen die Amerikaner auch davon aus, dass die unterschiedlichen Mechanismen dieser offenen Gesellschaft sie schon alarmieren würden, sollte Amerika auf einen völlig falschen Weg geraten. Leider ist das in den vergangenen Jahrzehnten nicht geschehen. Die meisten Amerikaner sind sich nicht bewusst, dass das Durchschnittseinkommen der unteren 50 Prozent der Bevölkerung über einen Zeitraum von 30 Jahren hinweg gesunken ist.9 Das liegt nicht daran, dass man an einer einzelnen Stelle falsch abgebogen ist. Dieses Buch wird zeigen, dass Amerika sich deutlich von einigen zentralen Grundsätzen entfernt hat, die soziale Gerechtigkeit innerhalb der amerikanischen Gesellschaft definierten. Amerikas größter politischer und moralischer Philosoph der jüngeren Vergangenheit war John Rawls. In seinen Werken versuchte er, die Weisheit von Europas großen Philosophen zu destillieren. Von ihnen hatten auch Amerikas Gründerväter gelernt. Leider ist vielen Amerikanern gar nicht bewusst, wie sehr sie sich von einigen Gründungsgrundsätzen abgewendet haben.

      Ebenso sind sich nur wenige Amerikaner bewusst, dass sich die Welt, seit Amerika in den 1950er-Jahren auf dem Höhepunkt seiner Macht stand, in vielen wichtigen Dimensionen verändert hat. Gemessen in Kaufkraftparitäten entfielen 1950 auf Amerika 27,3 Prozent des globalen BIP, während China nur auf 4,5 Prozent kam.10 1990, in einem triumphalen Augenblick am Ende des Kalten Kriegs, stand Amerika bei 20,6 Prozent und China bei 3,86 Prozent. 2018 lag Amerika (15 Prozent) hinter China zurück (18,6 Prozent).11 In einem wichtigen Aspekt ist Amerika bereits nur noch die Nummer 2. Nur wenige Amerikaner sind sich dessen bewusst und noch weniger haben darüber nachgedacht, was das bedeutet.

      Noch entscheidender: Der globale Kontext, vor dem die Rivalität zwischen den USA und China ablaufen wird, unterscheidet sich sehr von den Zuständen, die während des Kalten Kriegs herrschten. Die Welt ist komplexer geworden. Eines ist klar: Es ist nicht unmöglich, dass Amerika auch künftig die vorherrschende Weltmacht sein wird, aber wenn Amerika sich nicht an die Umstände anpasst, die in der neuen Welt herrschen, wird dieser Ausgang mit der Zeit immer unwahrscheinlicher.

      Was die zivilisatorische Dynamik anbelangt, kehrt die Welt zu einer Art historischem Gleichgewicht unterschiedlicher menschlicher Gesellschaften zurück. Mehr als 200 Jahre schnitt die westliche Gesellschaft deutlich besser ab als der Rest der Welt und konnte auf diese Weise historische Präzedenzen abschütteln. Vom Jahr 1 bis 1820 waren China und Indien stets die Gesellschaften mit den weltweit größten Volkswirtschaften gewesen. Insofern waren die vergangenen 200 Jahre eine Abweichung von der Norm.

      Dass der Westen die Welt nicht länger dominieren kann, liegt unter anderem daran, dass die restliche Welt so viel vom Westen gelernt hat. In Feldern wie Ökonomie, Politik, Wissenschaft und Technologie haben die anderen Länder vieles übernommen, was sich im Westen zum Standard entwickelt hat. Das Ergebnis: Weite Teile der westlichen Zivilisation (insbesondere Europa) wirken erschöpft, antriebsarm und energielos, während gleichzeitig andere Zivilisationen gerade erst loslegen. In dieser Hinsicht ähneln menschliche Gesellschaften anderen lebenden Organismen. Sie durchlaufen Lebenszyklen.

      Chinas Zivilisation hat viele Aufs und Abs hinter sich, insofern sollte es niemanden überraschen, dass sie jetzt wieder erstarkt. China existiert seit mehr als 2.000 Jahren und seine Zivilisation hat im Laufe der Zeit kräftige Sehnen entwickelt. Professor Wang Gungwu merkt an, dass die Welt viele alte Zivilisationen kennt, aber es nur eine einzige gibt, die viermal abgestürzt und wieder auferstanden ist – die chinesische. Als Zivilisation ist China erstaunlich widerstandsfähig, zudem ist das chinesische Volk ausgesprochen talentiert. Blicken die Chinesen auf ihre über 2.000 Jahre währende Geschichte zurück, ist ihnen sehr wohl bewusst, dass es der chinesischen Zivilisation, seit Qin Shi Huang im Jahr 221 vor unserer Zeitrechnung China vereinte, niemals so gut ergangen ist wie während der vergangenen 30 Jahre unter der Herrschaft der KPCh. Unter dem kaiserlichen System der vergangenen 2.000 Jahre ist der gewaltige Pool an zur Verfügung stehender Intelligenz größtenteils nie dermaßen entwickelt worden wie heute, in den vergangenen 30 Jahren wurde er zum ersten Mal in der Geschichte Chinas in enormem Umfang angezapft.

      Die Kombination aus kulturellem Selbstvertrauen, das die Chinesen seit Jahrhunderten besitzen, und dem vom Westen übernommenen Wissen verleiht


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