Stalins Alpinisten. Cédric Gras

Stalins Alpinisten - Cédric Gras


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Abteilung für die „Opfer der Säuberungen“ des Stalinschen Terrors. „Wir haben keine anderen“, erwiderte schlechtgelaunt eine Dame. Übrigens, mein Antrag sei jetzt bewilligt, ich könne kommen, wann ich wolle.

      Da bin ich nun, in der Bolschaja Pirogowskaja, vor diesem riesigen sowjetischen Gebäude voll mit sortierten, schrecklichen Geheimnissen, am frühen Morgen eines Tages, dessen Himmel ich nicht zu Gesicht bekommen werde. Auf der rechten Seite der Eingangshalle kann man über ein altes Telefon die Archivare kontaktieren. Ich wähle eine der Nummern auf der Liste, die daneben an der Wand hängt. Es klingelt, worauf eine Stimme grüßt, wie man in Russland eben grüßt. Sie grüßt nicht. Sie lenkt, sie befiehlt, sie ordnet an. Sie kündigt mich bei der Zuständigen für die Passierscheine an, die mit Mühe meinen ausländischen Namen dechiffriert.

      Dann soll ich den Innenhof durchqueren bis zum Gebäude 7. Dort bedeckt das erste gefallene Laub die Schwelle eines Eingangs, der hundert anderen gleicht. Im zweiten Stock erwartet mich zwischen hohen Regalen meine Ansprechpartnerin – freudlos, aber hilfsbereit. Das Zimmer ist schlecht beleuchtet. Ich setze mich an einen kleinen Tisch in der Nähe eines Fensters, das ein wenig Licht hereinlässt. Sie bringt mir die Akte. Dann bittet sie mich mit Nachdruck „nichts zu stehlen“, um anschließend merkwürdigerweise zu erwähnen, dass sie sich gegen Mittag mit einem Agenten des FSB (Föderaler Dienst für Sicherheit) treffen werde. Ich sage, das sei perfekt. Dass der FSB mich wahrscheinlich besser kennt als ich mich selbst. Ich werde allmählich vergesslich, nachdem ich schon seit fünfzehn Jahren dieses Land bereise.

      Darauf lässt sie mich allein.

      Hier war ich also. Seit acht Monaten verfolgte ich die Spur dieser beiden Männer. Der Brüder Abalakow.

      Ich öffnete die Akte. Ich warf einen Blick auf die Liste derjenigen, die bereits vor mir dagewesen waren. Nur zwei Namen von vor ungefähr zehn Jahren. Sie waren mir schon unter Artikeln aufgefallen, die sich mit dem Alpinismus in der UdSSR beschäftigten. Sonst niemand, zumindest seit der Verlegung der Akte ins Staatsarchiv.

      Dann stürzte ich mich wissensdurstig auf 350 Seiten Untersuchungsmaterial. Ich hatte Hunderte von Fragen. Aus welchen Gründen wurde Witali Abalakow, der bekannteste sowjetische Alpinist, Opfer des Großen Terrors? Hatte er unter Folter seine Seilkameraden denunziert? Und vor allem: Hatte er seinen eigenen Bruder verraten? Jewgeni Abalakow, Stern am Himmel des Alpinismus, heldenhafter Bezwinger des gewaltigen Pik Stalin.

      Ich hatte mich so lange danach gesehnt, Licht in diese Geschichte zu bringen.

      Doch war ich recht bald froh, wirklich erst am Ende meiner Recherchen in die Archive gegangen zu sein. Denn um diese Geschichte richtig zu verstehen, muss man in das Sibirien des beginnenden letzten Jahrhunderts zurückkehren.

ERSTER TEIL

      AUS BÜRGERLICHEM HAUSE

      Wir befinden uns im Jahr 1920. Der Bürgerkrieg hat gerade Sibirien erfasst. Das heilige Russland bricht in seine fahlen und unermesslichen Weiten auseinander. Die Weißen drängen die Roten zurück, die Roten metzeln die Weißen nieder und die Bolschewiki haben gerade Krasnojarsk erobert, eine verschlafene Holzstadt am Ufer des Jenisseis, mit Schildern auf Altslawisch, zerzausten Muschiks1 und chinesischen Waren. In einem stattlichen Haus in der damaligen Leninstraße – oder heißt sie noch Straße Mariä Verkündung? – sitzt eine ungewöhnliche Familie am Abendtisch, als es laut an der Tür klopft. Es trommelt sogar, und als die Tür aufgeht, erscheint im Türrahmen ein Soldat der Revolution und zeigt stolz einen Haftbefehl.

      Das Dokument mit dem Stempel der neuen Herrscher des Landes erwähnt den Namen Iwan Abalakow, Eigentümer des Hauses. Er ist ein angesehener Geschäftsmann, somit ein Volksfeind schlechthin. Sein Schicksal ist besiegelt. Seit Ausbruch der Oktoberrevolution weiß man nur zu gut, wie diese abendlichen Besuche enden. Wer zur Bourgeoisie gehört, wird im Eilverfahren hingerichtet. Zwei junge Heranwachsende stürzen zum Eingang, um zu verhindern, dass dieser Iwan Abalakow abgeführt wird. Er ist ihr Onkel väterlicherseits und hat sie bei sich aufgenommen. Die beiden heißen Witali und Jewgeni, vierzehn und dreizehn Jahre alt, zwei Waisen, deren hohe Bestimmung noch niemand erahnt, während sich der angestaute Klassenhass unter dem Joch der Zaren entlädt.

      Der Rotgardist beschließt, Onkel sowie Neffen wegen Behinderung der Arbeiter- und Bauernjustiz zu verhaften, weil er, der einfache Bürger, von jetzt an alle Rechte hat. Also greift er sich die Sprösslinge dieser „kapitalistischen“ Patchworkfamilie. Wahrscheinlich war dies der Abend, an dem Witali und Jewgeni auf einmal erwachsen wurden, als sich das kommunistische Ideal ihren jugendlichen Köpfen derart unrühmlich zeigte. Die Tür schließt sich vor ihrer mütterlichen Tante, der Frau, die sie großzieht, die keine anderen Kinder hat und die nicht aufgibt. Sie bricht nicht vor Ikonen und Kerzen kniend in Tränen aus. Nein, lieber holt sie nachts auf der Straße den mutigen Soldaten ein. Sie lässt, während der Soldat scheinbar die Sterne betrachtet, Wodka und Sakuski2 in seine Manteltasche gleiten. Schließlich hat auch die Revolution eine menschliche Seite. So rettet sie die beiden Brüder, die ins Haus zurückgehen, um einstimmig für das Heil ihres Onkels zu beten, der bald zum Tode verurteilt wird. Seine Strafe wird wie durch ein Wunder umgewandelt in Zwangsarbeit im Lager, und im Dezember desselben Jahres wird er sogar begnadigt. Die Bolschewiki haben ihre Meinung geändert, denn sie brauchen gebildete Leute. Man weist ihm eine Stelle als Buchhalter in einer Fabrik zu und deklassiert, proletarisiert und entbürgerlicht, gehört er von nun an zu den fleißigen Arbeitermassen.

      Diese Szene habe ich aus einem Artikel, der erst 2018 erschienen ist und den ich im Arbeiter von Krasnojarsk ausfindig gemacht habe, einem im Sterben liegenden Blatt, das von einigen Pensionierten geführt wird, die über eine Welt lamentieren, die die ihrige vergisst. Eine alte Dame brachte darin einen Zeugenbericht aus zweiter Hand über eine ferne Freundin, deren Großmutter mit der Tante der Abalakows verkehrte … Wahrscheinlich bin ich der Einzige gewesen, der diese unvollkommene Erinnerung in der letzten Ecke eines kaum gelesenen sibirischen Blattes fieberhaft verschlungen hat. Aber mit welcher Erleichterung! Sie ließ eine Kindheit in einem neuen Licht erscheinen, die von allen anderen sowjetischen Quellen politisch kompatibel erzählt wurde. Und diesen Fallen galt es auszuweichen. Laut offizieller Literatur sollten die Helden gleich mit dem ersten Schluck Muttermilch Bolschewisten gewesen sein. Aber als treue Söhne von Kosaken konnten die Brüder Abalakow nur in Liebe zum Zaren und im Weihrauch der orthodoxen Kirchen erzogen worden sein. Hier musste man beginnen.

      Die sowjetische Geschichtsschreibung lässt nämlich, beschämt über die bürgerliche Herkunft ihrer jungen Helden, gerade diese Ereignisse diskret aus. „Es waren harte Zeiten“, ist die Ausrede, „wegen der Koltschak3-Truppen.“ Einer erwähnt, dass „die Abalakow-Brüder im Dorf, beim Flößen, im Haus arbeiten mussten“. Er hütet sich davor zu erwähnen, dass der Grund dafür die Konfiszierung der Dampfmühle und des Geschäfts ihres Onkels im Zuge seiner Verhaftung war. Das Wohngebäude, ein Blockhaus, damals auf 9471 Rubel geschätzt und damit ein Vermögen, wurde verstaatlicht. Eine bolschewistische Verwaltung hat sich dort niedergelassen und es ist schwer nachzuvollziehen, wo die bisher privilegierten Waisen ab diesem Zeitpunkt leben.

      Es ist also ein schwieriger Start in einer Gesellschaft, in der nur die soziale Herkunft zählt. Eine Schande, über die in der Presse der UdSSR gnadenlos geschwiegen wurde; man kann auch nicht damit rechnen, dass die Brüder Abalakow unter diesen Umständen von ihrer Kindheit erzählen, die auf brutale Weise in Armut endete. Sie selbst behaupteten immer, dass sie von einfachen Leuten abstammten. Sie hatten ihr Leben lang keine andere Wahl, als ihre Abstammung von „Geschäftemachern“ zu leugnen, und damit ihren Onkel und ihre Tante ebenso wie ihre Eltern, die sie kaum kannten. Schenkt man ihnen Glauben, so ist ihr Vater Jäger oder Holzfäller gewesen. Doch die Ermittlungsarbeiten, die das Volkskommissariat für Inneres der UdSSR, das schreckliche NKWD, während der Stalinschen Säuberungen durchführen ließ, belegen das exakte Gegenteil. Sie waren die Söhne eines wohlhabenden Kaufmanns, der Goldförderungen am unteren Jenissei besaß. Heute weiß man, dass sie den Namen eines Geschäftsmannes der dritten Gilde trugen, der mit handwerklichen Erzeugnissen, Fellen und Pelzen handelte. Was ihre Mutter betrifft, die bei Jewgenis Geburt im Kindbett starb, weiß man, dass sie aus Irkutsk


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