Stalins Alpinisten. Cédric Gras

Stalins Alpinisten - Cédric Gras


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Ausrüstung vertraut. Valentina lernt die Lektionen im Eisklettern genauso gut wie ihre Begleiter, und das Autodidaktentrio wird unmittelbar einen erstrangigen Gipfel bezwingen.

      Gegen Ende des Sommers werden zwei Schweizer (die UdSSR hat sich Ausländern noch nicht verschlossen) und ihre Moskauer Begleiter am Missestau als vermisst gemeldet, einem 4425 Meter hohen Gipfel des unberührten Bezengi-Gletschersystems. Da kaum mehr als eine Handvoll aktiver Bergsteiger verfügbar ist, werden die Abalakows für die Suche mobilisiert. Sie erkunden Gletscherspalten und Séracs, durchkämmen die Wände, suchen in Winkeln und Vorsprüngen. Bald finden sie Überreste ausländischer Konserven oder Schweizer Schokolade – ein sich wiederholendes Klischee in den sowjetischen Chroniken. Die Leichen aber bleiben unauffindbar.

      Was dann passierte, habe ich in allen Texten gelesen, es ist überall auf die gleiche Art und Weise beschrieben. Die Erstbesteigung. Klares Wetter, unten die ersten Wiesen, die Bäche, Almen, Weidezäune. Absolut unbeeindruckt von der Tragödie ziehen unsere Helden es vor, einen benachbarten Gipfel zu besteigen, den Dychtau. Das bedeutet auf Balkarisch „Himmelsberg“, mit seinen 5205 Metern ist er als zweithöchster Gipfel des Kaukasus der Thronfolger des Elbrus. Wer kennt schon im Westen diese kühnen Bergspitzen und Republiken, deren Namen unmöglich auszusprechen sind? Über einen überwechteten Grat, der die beiden Berge miteinander verbindet, rücken sie in Richtung Ziel vor. Es scheint unglaublich, aber nur Witali hat Steigeisen an.

      Mit Valentina biwakieren sie auf 4700 Metern Höhe in schneidender Kälte. Sie haben Durst und nichts, um Schnee zu schmelzen. Die Ausrüstung ist dürftig und zusammengestückelt, statt Seilen haben sie nur Feuerwehrleinen dabei. Zum ersten Mal begeben sie sich in solche Höhen. Und doch finden sie auch hier das vertraute Ringen mit dem Felsen wieder. Ihre Hände kennen die Übung. Ihre Nerven sind die Anspannung der Ausgesetztheit gewohnt. Die endlos aufeinandergetürmten Felsblöcke ähneln den Spielzeugen ihrer Kindheit und die in den Himmel ragenden Granitspitzen rufen sie. Am Morgen des 5. September stoßen sie endlich zum Gipfel vor, nachdem sie sich durch tiefen Schnee und über einen letzten Vorsprung gekämpft haben. Unter einem Stein finden sie eine Konservendose und darin eine Notiz auf Deutsch als Beweis für den Gipfelgang. Auch sie kritzeln eine Nachricht für die Nachwelt, gezeichnet „Abalakow“.

      Erstaunen in der verblüfften Welt des sozialistischen Alpinismus. Gerade haben Unbekannte im Kaukasus die Ehre der Nation gerettet! Sie haben sich dort hochgearbeitet, wohin vorher nur Fremde ihren Fuß gesetzt hatten. Man ist verblüfft, wie sie das Klettern beherrschen. Über sie wird zum ersten Mal in den Zeitungen berichtet. Man hebt ihre Eigenschaft als siberjaki und Kosaken hervor. In der russischen Vorstellung erwecken diese zwei Wörter das Bild von charakterstarken und unerschrockenen Landvermessern, die die Grenzen ihres Landes, das so groß ist wie ein Kontinent, sowohl schützen als auch erweitern. Selbst der Name Abalakow ist das genealogische Echo einer uralten Waldkultur, eines antiken Russlands, das in den unbekannten Tiefen eines „Far East“ aufgebrochen ist. Und hier sind jetzt diese Pioniere, die von nun an die Grenzen in Richtung Himmel verschieben!

      Hier, auf diesem kaukasischen Riesen, beginnt die Geschichte der Abalakows. Was unsere Helden betrifft, habe ich mir das Foto, das sie unsterblich machte, lange angesehen. Links ein kräftiger Jewgeni, eine kaukasische Mütze auf dem runden Kopf. Rechts ein schmalerer Witali, ausgemergelt, mit hoher, breiter und kahler Stirn. Er ist so blond, dass seine Haare auf dem Schwarz-Weiß-Abzug fast weiß erscheinen. Sie haben beide Pluderhosen an, und wie sie da im Gras posieren, sind sie so unterschiedlich. Jewgeni strahlt eine freche Gesundheit und Kraft aus, auch in seinem offenen Blick. Witali meidet das Objektiv, sein Blick schweift wie aus Verlegenheit über die Wiese. Man erkennt am Abstand ihrer Augen, dass sie Brüder sind, an ihren Nasen und an ihren Mündern. Und dann gibt es da ein Detail, das man am Anfang gar nicht bemerkt. Sie halten sich an der Hand. Oder vielmehr scheint Jewgenis Hand auf der halbgeschlossenen Faust Witalis zu liegen.

      Von nun an werden sie nur noch für diese Saison im ewigen Schnee leben. Jeden Sommer werden sie verreisen. Witali wird erst im Herbst wieder in seine Fabrik zurückkehren. Die Kunst wird für Jewgeni eine Winterbeschäftigung werden. 1932 wird er ausgewählt, ein Lenin-Monument zu realisieren. Für die Bildhauer seiner Zeit ist das ein riesiger Markt. Stalin hat beschlossen, den Kommunismus in die Landschaft einzupflanzen. Jeder Platz jedes Dorfes jeder Republik in ganz Eurasien muss seinen Wladimir Iljitsch haben, der mit einer Arbeitermütze auf dem Kopf und seinem Proletariermantel auf den Schultern mit ausgestrecktem Arm den Weg weist. Der Lenin des Bildhauers Abalakow ist für die Stadt Kertsch auf der Krim bestimmt. Ich habe einen alten Abzug dieses Werks gefunden, das später bei der Invasion der Nazis zerstört wurde. Darauf sieht man das ziemlich schlichte Abbild Lenins, vermutlich lebensgroß, nach den Regeln des sotsrealism entworfen.

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      Die Brüder Jewgeni (links) und Witali Abalakow, 1920

      Da Lenin der Sockel ist, auf dem die junge UdSSR ruht, muss die Notwendigkeit zur Eroberung der Gipfel logischerweise in seiner Biografie begründet sein. Ein Sport, ursprünglich ausgeführt vom europäischen Adel, der seinem Wesen nach so eitel und tiefbürgerlich ist, bildet eine Herausforderung für den Sozialismus. Deswegen beschwören die sowjetischen Autoren in ellenlangen Prologen die Jahre des Propheten der Revolution im schweizerischen Exil. „Wir wissen, dass der große Lenin seine ganz besondere Freude in den Bergen fand, dass er seine knappe freie Zeit mit Wanderungen in die Schluchten, zu Wasserfällen und auf die Gipfel der Alpen verbrachte“, berichtet einer von ihnen. Wenn der brillante Geist des „großen Lenin“ in der klaren Luft während der Schweizer Verbannung aufblühte, konnte das Bergsteigen nicht konterrevolutionär sein.

      Die Glanzleistungen der Brüder Abalakow sollten die Vorherrschaft des Menschen über die Natur beweisen. Ein Jahr nach ihren ersten bemerkenswerten Schritten erregen sie erneut die Gemüter. Dieses Mal ist Valentina nicht dabei. Mit einem Kameraden aus der Hauptsektion des Alpinismus der Gesellschaft für proletarischen Sozialismus unternehmen sie die gefürchtete Traverse der Bezengi-Mauer von West nach Ost. Es ist immer schwierig, einen Berg in Worten zu beschreiben. Die Bezengi-Wand besteht aus einer Reihe von Erhebungen, die alle fast 5000 Meter Höhe erreichen und die durch einen schmalen Grat voller tückischer Abbrüche verbunden sind. Dieser markiert über mehrere Kilometer die Grenze zu Georgien. Eine unglaubliche Festung, vollkommen makellos und unberührt. Sieben Tage lang schlagen sich die drei Männer durch schlechtes Wetter, im Bereich der Séracs sichern sie sich gegenseitig vor dem Absturz. Sie erklimmen nacheinander drei Gipfel, den Gestola, den Katyn-Tau und den Djangi-Tau, bevor sie schneeblind den Rückzug durch die Wand antreten.

      Auf den sattgrünen Almhängen kurieren sie ihre Augen. Sie strecken sich in der Sonne aus und betrachten die weiße Hölle, aus der sie entkommen sind. Der Wind, der hoch droben die Wolken jagt, hat hier beinahe etwas von Stille. Witali sieht in der Üppigkeit der Kumuluswolken die Rundungen Valentinas, die in der Hauptstadt auf ihn wartet. Jewgeni denkt seinerseits zweifelsohne an Anna Kasakowa, die er auf einem Wanderpfad kennengelernt hat. Ein junges Mädchen aus gutem Hause, auch wenn dieser Ausdruck seit der Oktoberrevolution nicht mehr viel bedeutet. Das Anwesen ihrer Eltern wurde von den Bolschewiken konfisziert. Ich glaube, habe aber kaum Beweise für diese Aussage, dass ihr nur ein kleines Zimmer als Zuhause geblieben ist. Die gebildete Pianistin und Philologin teilt mit Jewgeni die Freude an der Kunst, aber auch die Liebe zu Reisen und Hochtälern.

      Zuerst begegnen sie sich in den Bergen, wo sie die Gesellschaft für proletarischen Tourismus tatkräftig unterstützt, dann im Rahmen von Vorträgen in Moskau. Ich stelle sie mir in einer armseligen Wohnung vor. Sie spielt Jewgeni etwas auf dem Klavier vor, nackt vielleicht, während er seine Augen schließt, von der Schönheit der schwebenden Töne in den Bann gezogen. Als er sie wieder öffnet, fällt sein Blick auf ihren Körper. Sie sind jung in einer Welt, die noch jünger ist, auch wenn sie zwei kleine Jahre älter ist als er.

      Eine einzige Sache bereitet Jewgeni vielleicht Sorgen: die langen Abwesenheiten, die sein Leben charakterisieren werden, um die Gebirge der gesamten UdSSR zu durchstreifen. Wie ein so vollkommenes Geschöpf der Versuchung ganz Moskaus überlassen? Auf den Fotos, die es von Anna Kasakowa gibt, zeigt sie ein stolzes Profil. Ohne Zweifel wurde diese junge Frau von allen Bergsteigern des Kaukasus begehrt. Aber Jewgeni ist der


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