Stalins Alpinisten. Cédric Gras

Stalins Alpinisten - Cédric Gras


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Jewgeni Abalakow führt an den Schlüsselstellen. Haken für Haken, Seillänge für Seillänge wird der felsige Vorsprung überwunden und dann mit einer Hanfleiter ausgerüstet. Erneuter Abstieg zum Basislager, wo der Filmemacher der Expedition Gründe findet, nicht zu viel Film zu verbrauchen: „Eine gewöhnliche Lawine auf weißem Hintergrund interessiert mich nicht“, erklärt er den Alpinisten. „Ich brauche eine gigantische auf schwarzem Hintergrund mit seitlichem Lichteinfall!“ Am gleichen Tag hätte beinahe eine Lawine alle unter sich begraben. Jewgeni erzählt, dass das Abendessen nicht fertig war, als sie – ihr knapp entronnen – ins Lager zurückkamen. Der Koch hatte geglaubt, sie seien verschollen …

      Kurz darauf stirbt ein Kirgise, Dschambai, an einer Lungeninfektion, was bei den Trägern Entsetzen auslöst. So beschreibt Romm diesen Tag: „Die Träger sitzen im Kreis um Dschambai. Sie schauen uns, die wir aus einem Grund, der ihnen fremd ist, auf diese Gipfel wollen, feindselig an. Diese Gipfel sind die Heimat der bösen Geister. Und diese bösen Geister haben schon Steine auf einen der … ‚Bosse‘ herunterfallen lassen. Jetzt hat es einen unschuldigen Kirgisen getroffen.“ Romm versucht, so gut er kann – die Einheimischen stammeln nur ein paar Brocken Russisch –, die wissenschaftliche Notwendigkeit einer Wetterstation auf dem Pik Stalin zu erklären. Er erzählt, dass die Arbeiter und Bauern der gesamten UdSSR die Bergfahrt in den Zeitungen mitverfolgen. Er beteuert, dass im Himmel keine Geister wohnen, dass er den Menschen gehört, dass es kein anderes Paradies gibt als ein irdisches und sowjetisches.

      Er hätte meiner Meinung nach noch sagen können, dass der kommunistische Alpinismus ein großes Unterfangen war, den Himmel zu entsakralisieren. Ich habe in einigen Texten gelesen, dass in der gesamten UdSSR die Völker der abgelegenen Täler dazu aufgefordert wurden, ihre eigenen Berge zu besteigen, um sich selbst davon zu überzeugen, dass dort keine bösen Geister wohnen. In Georgien kämpften sich die Swanen auf den Tetnuldi, um sich zu vergewissern, dass kein böser Geist namens Al dort lebt, geschweige denn die Göttin Swali. Jeder Aberglaube, der mit den Gipfeln zu tun hatte, sollte zurückgedrängt und die Kathedralen aus Stein und Eis, um die herum sich Volksglaube rankte, entmystifiziert werden. Auf dem Altar der Welt Gott durch den Marxismus zu ersetzen, das sollte die eigentliche Herausforderung der Besteigung des Pik Stalin sein.

      PIK STALIN

      Ende August erreicht Gorbunow endlich das Basislager. Vor drei Monaten hat die Expedition begonnen. Die Visagen der Teilnehmer sind seit Langem verbrannt und zerfurcht, die Blicke geblendet, die Finger verbunden. Im Gepäck führt Gorbunow die berühmte Wetterstation mit, die die Alpinisten auf den Gipfel bringen sollen. Sein plötzliches Auftauchen setzt der Lethargie, in der sich das Lager seit zwei Wochen wiegt, augenblicklich ein Ende. Es ist keine Minute mehr zu verlieren. Der Chef ist da und der Sommer neigt sich dem Ende zu.

      Die Besteigung beginnt am 22. August, die Rucksäcke zum Bersten voll, das Seil über der Schulter, das Gesicht weiß vom Lanolin. Abalakow und Guschin steigen zum vierten Mal und in Rekordzeit zum Nordgrat auf. Gorbunow bewegt sich mit seiner hohen Statur deutlich bedächtiger. Unter dem Vorwand, die Gradanzeige auf seinem Thermometer zu notieren, macht er Pausen. Die Wissenschaft dient als Alibi für seine Langsamkeit. Laut Romm zieht er auch regelmäßig eine Dose des Beruhigungsmittels Bromisoval aus der Tasche.

      Das Lager auf 5900 Metern ist in erbärmlichem Zustand. Die Männer müssen die Zelte freilegen, die in eine Spalte gerutscht sind. Am nächsten Tag passieren sie einen Gendarmen nach dem anderen. Die schwindelnd steile Wand des fünften zwingt die Träger zum Rückzug, bis sie schließlich einwilligen, der Seilschaft Abalakow-Guschin zu folgen. Doch als diese oben ankommen, sehen sie nur noch die zurückgelassenen Rucksäcke an seinem Fuß und Gestalten, die sich schnell davonmachen. Wohl oder übel müssen die zwei Alpinisten ab- und wieder aufsteigen, um notwendige Lasten nach oben zu hieven, wobei sie über einem Hunderte Meter tiefen Abgrund tanzen.

      Am sechsten, noch unbezwungenen Gendarmen führt Jewgeni Abalakow. Auf einmal löst er aus Versehen einen Stein, der auf Guschin herabschießt, ihn an der Hand trifft und das Seil durchtrennt. Jewgeni klettert ganz ohne Sicherung ab. So gut es geht, versorgt er die Wunde seines Kameraden, der trotz Schmerzen nicht aufgibt. Dieses Mal hätte Jewgeni beinahe Guschin getötet. Jetzt sind sie quitt. Beiden gelingt es, das letzte felsige Hindernis zu überwinden. Der Weg zum Gipfel liegt nun frei. Sie müssen nur noch ein paar Dutzend Stufen in die Eiswände schlagen. Es wird dunkel. In seinen Tagebüchern spricht Jewgeni davon, einen völlig erschöpften Guschin „hinterherzuziehen“. Auf 6400 Metern erwartet sie in der Finsternis ein schmaler Felsvorsprung. Sie biwakieren unter einer Zeltplane. Guschin stöhnt die ganze Nacht. Seine Hand blutet und schwillt an. „Man kann das Fleisch nicht von der Binde unterscheiden“, schreibt Jewgeni.

      25. August. Jewgeni richtet das neue Höhenlager ein. Gegen zwei Uhr erscheinen drei entsetzte Träger. Hastig werfen sie ihr Gepäck ab. Sie bringen auch eine Nachricht von Gorbunow mit, der aus irgendeinem Grund wütend ist. Darin wird mehrmals die Eigenschaft dieser Expedition als „staatliche Mission“ hervorgehoben. Anders gesagt, der Gipfel muss um jeden Preis erreicht werden. Gorbunow wird am nächsten Tag aufsteigen.

      26. August. Jewgenis Aufzeichnungen: „Klares Wetter heute Morgen. Der Höhenmesser ist wieder auf 6950 Meter angestiegen. Eigentlich wollten wir den Grat erkunden, aber ich habe angefangen zu zeichnen und dabei die Zeit vergessen. Danil Iwanowitsch [Guschin] hatte auch keine große Lust aufzusteigen.“ So erfährt man, dass Jewgeni Abalakow auf 6400 Metern in aller Ruhe die Landschaft skizzierte! Man muss sagen, dass das senkrechte Meer ewigen Schnees ein atemberaubendes Naturschauspiel bietet. Seine Betrachtungen werden durch Gorbunows Ankunft unterbrochen, dem er eilig entgegenläuft. Er nennt ihn zwar „Nikolai Petrowitsch“, siezt ihn aber. Gorbunow ist so erschöpft, dass er seinen Rucksack zurücklässt, angeblich, um ihn später wieder zu holen. Jewgeni wird sich im Mondschein darum kümmern. Revolution hin oder her, man ist immer jemandes Träger.

      Ab jetzt sind sie zu viert: Abalakow, Guschin, Gorbunow und der zukünftige Testpilot Schianow. Sie verbringen die Nacht zusammen in zwei windigen Zelten neben der Wetterstation, die unter so großer Anstrengung heraufgeschleppt wurde und sie wahrscheinlich den Erfolg kostete. Guschins Hand geht es besser. Er und Abalakow brechen am nächsten Tag auf, beladen mit allen Teilen des Forschungsgeräts. Der Grat besteht nur noch aus tiefem Schnee, der sich zu einem abschüssigen und von Spalten durchzogenen Plateau hin öffnet. Keuchend erlauben sie sich alle zwanzig Schritte, auf ihre Eispickel gestützt oder im Schnee kauernd, eine Pause. Auf ungefähr 6900 Metern legen sie ihre Last ab und kehren um.

      Am nächsten Tag, dem 28. August, sind sie immer noch auf 6400 Metern. Gorbunow war nicht in der Lage, höher aufzusteigen. Sturmböen haben ihren Zelten schwer zugesetzt. Die Träger versorgen sie nicht mehr. Glücklicherweise können Guettier und der österreichische Kommunist Zak sie mit Lebensmitteln, ein paar Brühen und Rinderzunge, einholen. Anton Zak11 ist aktives Mitglied des Republikanischen Schutzbunds, einer linken paramilitärischen Organisation. Diese wird vom Faschismus, der sich im „germanisierten“ Europa ausbreitet, verfolgt. Ihre Mitglieder wandern in großer Zahl in die UdSSR ab, deren politisches Ideal sie teilen. Unter ihnen sind zahlreiche Alpinisten, die die Gesellschaft für proletarischen Tourismus tatkräftig unterstützen.

      29. August. Gemeinsamer Versuch, zum Gipfel vorzustoßen. Gorbunow geht am Seil mit Guettier, Abalakow mit Guschin und Schianow mit Zak. Die Höhe macht zu schaffen, der Puls rast. Bei allen außer einem! Das Herz Abalakows, wie Romm betont, schlug nur achtzig Mal pro Minute. Jewgeni selbst behauptet in seinem Tagebuch, dass er „Lieder grölt“! Kaum zu glauben. Auf 6900 Metern findet er die Wetterstation wieder und richtet ein Notbiwak ein. Die anderen kommen völlig erschöpft und durchgefroren an. Sie zwängen sich zu dritt in die Zelte. Das Ziel erscheint so nah, aber die Männer haben keine Ressourcen mehr.

      30. August. Guschin, Schianow und Zak beschließen abzusteigen. Die Hand des Ersten verheilt nicht, und für die knappe Ausrüstung der beiden anderen sind die Temperaturen zu tief. Außerdem denke ich, dass der Österreicher Zak nicht für den Gipfel vorgesehen war. Wie könnte der Erstbesteiger des Pik Stalin einen ausländischen Namen haben? Die kommunistische Internationale hat eindeutig patriotische Grenzen.

      Noch am selben Tag beladen sich Jewgeni


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