Stalins Alpinisten. Cédric Gras

Stalins Alpinisten - Cédric Gras


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auf seinen Wangenknochen ist von Kälte und Sturm gegerbt.“ Und am nächsten Tag, nach achtzehn Tagen Bergfahrt, kraxelt er lieber auf einen benachbarten Bergrücken, um ein herrliches Aquarell des Pik Stalin zu vollenden, statt sich in seinem Zelt auszuschlafen!

      Die anderen Expeditionsteilnehmer waren selbstverständlich in einem weniger guten Zustand. Guettier, der inzwischen wieder zum Leben erwachte, bezeichnete Abalakow als „Maschine“ und Romm erzählt uns, dass von Gorbunows hundert Kilogramm nur mehr 79 übriggeblieben sind. Zwar verlor er sein von Erfrierungen schwarz gewordenes Fleisch, nicht aber seinen Kopf. Am 9. September verfasst er ein Telegramm fürs Politbüro, in dem Abalakow nicht einmal erwähnt, aber viel Aufhebens um die „Erfüllung der Mission der 29. Einheit“ und den „Sieg der Wissenschaft und des Alpinismus der Sowjetunion“ gemacht wird:

      „An den Genossen Stalin, Kreml, Moskau. Wir freuen uns, Sie zu informieren, dass der höchste Punkt der Sowjetunion, den wir letztes Jahr entdeckt und nach Ihnen, dem geliebten Führer des Weltproletariats, benannt hatten, am 3. September von unserer Sturmgruppe erreicht wurde. Am Gipfel wurden zwei Wetterstationen aufgestellt. Die Expedition sendet Ihnen herzliche Grüße. Gorbunow.“

      Dann zeigt sich das erste Gras, das Grün kehrt zurück. Als sie die erste Jurte erreichen, stürzen sich die Expeditionsteilnehmer, Fels und Eis überdrüssig, auf Post und Zeitungen. Mit keiner Zeile erwähnen die Schlagzeilen von 1933 die Hungersnöte auf dem Land. Sie rühmen die Durchbrechung des Weißmeer-Ostsee-Kanals oder die Förderrekorde der Bergbaubrigaden im Donbass. In der UdSSR brodelt es, die Fabriken von Magnitogorsk katapultieren den neuen Menschen in das industrielle Zeitalter, die Stratonauten sind in den Himmel geflogen, die Polarforscher erkunden die Arktis! Eine Epoche der Eroberungen in allen Bereichen. Und jetzt hat auch noch Jewgeni Abalakow das Dach der sowjetischen Welt erreicht! Über seine Glanzleistung wird auf der Titelseite berichtet, direkt neben einem Bericht über die erste Schmelze, die sich aus einem ukrainischen Hochofen in Saporischschja ergießt.

      Ein Foto von 1933 zeigt ihn 26-jährig, ein sehr russisches Gesicht. Der Abzug ist in Schwarz-Weiß, aber man kann an der Helligkeit der Haare ein von der Sonne gebleichtes Blond erraten. Darunter leicht hochgezogene Augenbrauen über einem wohlwollenden Blick. Alle, die ihn gekannt haben, loben ihn einstimmig. Er war ein willensstarker und gleichzeitig sehr sanftmütiger Mann. Wie oft habe ich das Wort „Lächeln“ im Zusammenhang mit ihm gelesen! Er besaß alles, um angehimmelt zu werden. In allen Republiken löste er Begeisterung aus und die UdSSR formte aus ihm das Modell des „ersten Alpinisten“, ein Vorbild. Er verkörperte den neuen sowjetischen Menschen, rostfrei und siegreich; auch bescheiden, zumindest nach außen hin. Als Lohn für seine Dienste erhielt er 150 Rubel und elf Kopeken. In etwa so viel wie der Preis eines Mantels.

      PIK LENIN

      Die Brüder Abalakow könnten der berühmten Abenteurerin Ella Maillart über den Weg gelaufen sein. Als ich erneut Turkestan Solo gelesen habe, erlebte ich eine große Überraschung. In Moskau, das sie auf den ersten Seiten verzweifelt abläuft, versucht Ella Maillart sich erfolglos den großen Expeditionen dieser Zeit anzuschließen. Zum Beispiel der Expedition eines gewissen Nikolai Gorbunow. Schließlich wird sie bei der Gesellschaft für proletarischen Tourismus von einem anderen hochpolitischen Alpinisten aufgenommen: Nikolai Krylenko. Er ist kein Geringerer als der Volkskommissar für Justiz und der ehemalige Vorsitzende des Revolutionstribunals. Wie Gorbunow hindern auch ihn seine Staatsfunktionen nicht daran, gelegentliche Exkursionen in die abgelegenen Pamir-Ketten auszuführen. Man könnte meinen, dass sich das gesamte Präsidium der UdSSR pünktlich zur Saison anseilte!

      Krylenko empfängt Ella Maillart höflich. Mit Wonne erinnert er sich an seine Jahre in der Schweiz. Wie viele andere Revolutionäre hat auch er sein Exil in den Alpen genutzt, die Freuden des Bergsteigens kennenzulernen. Dort ist in Lenins Gesellschaft seine Leidenschaft für die hohen Berge geboren. Ella Maillart versteht jedoch ganz genau, mit wem sie es zu tun hat. Als „für eine große Zahl von Verurteilungen verantwortlich“ erfüllt sein Name „viele mit Schrecken“, schreibt sie. Solschenizyn beschuldigt Nikolai Krylenko in seinen Schriften „gut fünfzehn Millionen Muschiks in die Tundra und Taiga geschwemmt“ zu haben. Neben Deportationswellen und ähnlichen Prozessen gegen Trotzkisten hat Krylenko noch eine weitere Obsession: den 7134 Meter hohen Pik Lenin an der Nordgrenze des Pamir zu besteigen. 1928 hat er zusammen mit Nikolai Gorbunow dort eine deutsch-sowjetische12 Expedition von der Südseite aus geleitet. Damals hatte der Pik Lenin noch Pik Kaufman geheißen, ein absolut zufällig deutsch klingender Name, aber um jedes Missverständnis auszuräumen, haben die Sowjets den Gipfel Wladimir Iljitsch zu Ehren umbenannt. Zumal sich unter ihnen keiner fähig zeigte, den Deutschen auf den Gipfel13 zu folgen. Nur Nikolai Krylenko war es gelungen, den Ostgrat zu erreichen. Im Alpinismus wie in der Schwerindustrie blieb die UdSSR eine Maschine, die die kapitalistischen Nationen einholen musste.

      Der Volkskommissar für Justiz hatte sich geschworen, über die zugänglichere Nordseite zum Pik Lenin zurückzukehren. 1934 beschließt er eine rein militärische Expedition der Roten Arbeiter- und Bauernarmee. Doch es fehlt ihm an erfahrenen Alpinisten und er beruft zwei junge und berühmte Bergführer ein: die Brüder Abalakow. Denn während Jewgeni seit seiner Besteigung des Pik Stalin angehimmelt wird, hat Witali sich einen Namen im Altai gemacht, wo er mit Valentina und weiteren Sibiriaken den Belucha14 überquerte.

      In Moskau arbeitet Witali damals bei Sojusprodmaschina, einer Fabrik, die Geräte zur Nahrungsmittelverarbeitung herstellt. Dort scheint er von seinen Vorgesetzten geschätzt zu werden. In den Beurteilungen, die ich in den Archiven einsehen konnte, wird erwähnt, dass er eine „Rationalisierung der Produktion“ eingeführt hat und dass er diszipliniert ist, selbst wenn er – und das ist einer der seltenen Hinweise für seine politische Einstellung – nur selten an gemeinnütziger Arbeit teilnimmt. Wahrscheinlich ist er mehr mit Valentina beschäftigt und ein weniger leidenschaftlicher Anhänger des Kommunismus. Außerdem wird er mit Aufgaben betraut, die wesentlich wichtiger sind. 1934 ist das Jahr, in dem er zur Sommersaison aus seiner Fabrik austritt. Er und sein Bruder brechen schon im Juli in Richtung Zentralasien auf, mit seinem „roten Sand“15, seinen Basaren und Nomaden. Ein Wiedersehen mit dem Orient für Jewgeni, eine Entdeckung für Witali.

      Sparen wir uns dieses Mal die Karawane und die Langsamkeit der Baktrischen Kamele. Den Autor dieser Zeilen leitet hier ein schwer vermittelbares Motiv. Wie auf schlechten Fotos, die uns erhalten geblieben sind, zu sehen ist, richten die Brüder Abalakow ihr Lager etwas weiter oben auf, als man es heute macht. Sie erkunden rasch die Nordseite und machen es sich gemütlich, bis das Militär ankommt. Sie verbringen ruhige Tage in der Nähe von tosendem Wasser, dem Rauschen der Jahrhunderte, das die Berge erodiert, umgeben vom mineralischen Geruch, der bis zur Haut durchdringt. Wahrscheinlich haben sie ab und zu ein paar Gedanken an ihre Verlobten, die sie ein weiteres Mal einen ganzen Sommer lang nicht sehen werden. Jewgeni malt einige Aquarelle. Er schreibt auch täglich, und ich verlasse mich auf seine Aufzeichnungen für das, was folgt. Soweit ich weiß, verfasst Witali nur technische Artikel oder Lehrbücher.

      Am 29. Juli sind die Offiziere in Sichtweite, in tadellose Uniformen geschnallt. Im Gegensatz dazu finden sich die Abalakows unpassend gekleidet. Sie salutieren häufig mit „Kamarad!“ und unterwerfen sich der militärischen Disziplin, die bald über den schnurgeraden Zeltreihen herrscht. Einmal ist keinmal, persönliche Eindrücke verzieren diese meist sehr sachlichen oder sehr zensierten Tagebücher. Jewgeni beschwert sich darin mit bitterem Unterton, dass sie mit der Trillerpfeife geweckt und die Befehle „gebrüllt“ werden. Wie gut tun diese seltenen spontanen Äußerungen dem heutigen Leser. Dann beginnt die Ausbildung. Die Soldaten sind Anfänger. In den Reihen der Roten Armee gibt es keine Gebirgsjäger. Sie müssen in Sicherungstechnik und im Steigeisengehen unterwiesen werden. Unter Anleitung der Abalakows trainieren sie das Klettern an den umliegenden Felsen und lernen an den ersten nassen Séracs Eisklettern. Abends hält Jewgeni Vorträge über die Geografie des Pamir-Gebirges, die Symptome der Höhenkrankheit oder er erzählt vor einem gewogenen Publikum von seiner Besteigung des Pik Stalin. Die Abende enden mit Gesang und kaukasischen Lesginka-Tänzen unter dem Sternenhimmel.

      Die Versorgungskarawanen bringen immer wieder mal Zeitschriften und Post mit. Eine Ausgabe


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