Liebeskrank. Kaspar Wolfensberger
wissen doch, wovon ich rede? – als Krankheit erkannt und therapierbar gemacht wurde. Zuvor hatte man jenes Leiden als Schüchternheit abgetan, man apostrophierte die Kranken als ängstlich, als befangen, als gehemmt. Wenn das keine Verharmlosung war! Aber das ist vorbei: Soziale Phobie nennen wir diesen Zustand heute. Und zwar mit Recht. Seit das Leiden als Krankheit erkannt wurde, erhalten Tausende, nein, Hunderttausende, was sage ich: Millionen von Kranken endlich effiziente Hilfe. Mit kognitiver Verhaltenstherapie und modernen Psychopharmaka. Sehr effizient, das können Sie mir glauben. Vor allem die Medikamente.
Kurze Pause.
Zurück zur Liebeskrankheit. Nachdem ich meine Patientendaten systematisch ausgewertet hatte, war es einfach nicht mehr zu übersehen. Zuerst wollte ich es ja selbst nicht wahrhaben. Aber ich konnte es drehen und wenden, wie ich wollte, es blieb dabei: Der Zustand, den man gemeinhin als Liebeskummer bezeichnet, ist medizinisch gesehen – und zwar nach allen Kriterien der WHO! – eine Krankheit. Eindeutig. Ohne Wenn und Aber. Heute ist es mir schleierhaft, wie man dieses Faktum hatte übersehen können. Das, nicht mein bescheidener Beitrag ist das Erstaunliche an der ganzen Geschichte: dass die Krankheit nicht schon längst als solche erkannt wurde. (In angeregtem Gesprächston:) Da gibt es übrigens einen interessanten Aspekt: In der Weltliteratur wurde das Syndrom nämlich schon tausendfach, und bis ins kleinste klinische Detail, beschrieben: Romeo und Julia, Werther, Die Kameliendame, Madame Bovary, Tod in Venedig, und, und, und. Der Volksmund kannte die Krankheit schon immer: Man ist verrückt nach jemandem, krank vor Eifersucht, stirbt beinahe vor Sehnsucht, Sie kennen diese Redensarten.
Beim Anblick des Geliebten – erst recht des heimlich Geliebten, der nichts davon weiss oder wissen will – stockt der Atem. Das Herz droht zu zerspringen, das Blut schiesst ins Gesicht. Nicht nur den Appetit verschlägt es dem Liebenden, auch die Sprache. Die Stimme versagt – nicht viel anders als bei der Prüfungs- oder Autoritätsangst, Sie wissen, was ich meine. Früher wurde das Leiden mit Hexerei und Zaubertränken behandelt. Bei Naturvölkern heute noch. Das waren, wenn man so will, untaugliche – wie soll ich sagen? – alternativmedizinische Therapieversuche. Aber es wurde behandelt. Was will man mehr? Das ist doch der Beweis dafür, dass Liebesleid schon immer und in allen Kulturen als Krankheit betrachtet wurde. Bloss nicht von der medizinischen Wissenschaft! Sagen Sie selbst: Ist das nicht verrückt?
Räuspern. Kurze Pause.
Manche Liebeskranke werden immer noch ihrem Schicksal überlassen. Ohne jeden ärztlichen Beistand. Einzig und allein deshalb, weil niemand wahrhaben will, dass sie tatsächlich krank sind. Kein Wunder, dass Drogen- und andere Suchtkrankheiten überhand nehmen: Die Flucht in die Sucht ist nämlich oft nichts anderes als der Selbstheilungsversuch eines Liebeskranken. Sekten und Freikirchen florieren. Warum wohl? Weil man ihnen diese Patienten förmlich in die Arme treibt. – Verzeihung, ich schweife ab. Überhaupt, ich rede und rede. Aber so bin ich: Ich gerate rasch in Fahrt. Ich fange leicht Feuer. Also: Was war Ihre Frage?
Räuspern.
Warten Sie, ich hab’s wieder: Alles über die Liebeskrankheit, stimmt’s?
Nun (betont sachlich), wie die meisten Krankheiten kann sich das Syndrom in leichter, mittelschwerer oder schwerer Form manifestieren. Es kann akut oder chronisch verlaufen. Es kann spontan auftreten und spontan wieder ausheilen. Es kann aber auch einen fatalen Verlauf nehmen. Leichte Fälle sind kaum oder überhaupt nicht behandlungsbedürftig. Wie ein leichter Sonnenbrand, verstehen Sie? (Hörbar schmunzelnd:) Wie ein milder Kater. Zu viel Sonne, zu tief ins Glas geschaut, das sind zwar zweifellos gesundheitliche Schädigungen. Doch werden sie, wie man weiss, gar nicht ungern in Kauf genommen. Oder sogar willentlich herbeigeführt. Nicht anders verhält es sich mit der Liebeskrankheit in ihrer leichtesten Form: Nachwirkung eines leichten Seelenrauschs. Psychischer Sonnenbrand, sozusagen. Nicht weiter bedenklich. Daneben gibt es aber die schweren und schwersten Formen, die dringend der Behandlung bedürfen. Manche sind allerdings schwer behandelbar. Oder unheilbar, fast wie psychischer Krebs.
Holt Atem.
(Dozierend:) Die Krankheit äussert sich in einer Reihe von Symptomen, die in ihrer Gesamtheit ein charakteristisches Syndrom bilden. Ich nenne es LIPS: Love Induced Psycho-Syndrom, Sammelbegriff für alle Formen der Liebeskrankheit. Die einzelnen Symptome sind uns aus anderen psychischen Krankheitsbildern bekannt: aus der manischen und der depressiven Krankheit, der Schizophrenie und dem Kreis der Angst- und Zwangsstörungen. In diesem Feld psychischer Störungen sind die verschiedenen Formen der Liebeskrankheit anzusiedeln: mal näher bei der Depression, das ist der häufigste Fall, mal näher bei der Manie oder einer Wahnkrankheit, dann wieder näher bei der Angst- oder Zwangsstörung. (Freundlich, sachlich:) Ist das so weit verständlich?
Gut. Dann darf ich weiterfahren?
Das heisst, erst möchte ich Sie etwas fragen: Haben Sie Psychologie studiert?
Nein? Medizin?
Dann wohl Naturwissenschaften.
Auch nicht? Publizistik?
Na, so was, Sie schütteln ja dauernd den Kopf. Aber Sie sind doch Wissenschaftsjournalist, oder nicht?
Sie haben mir noch gar nicht gesagt, welche Redaktion Sie schickt. Neuroscience kaum, die waren letzte Woche hier. Sie schreiben für den Seelenarzt, nicht wahr? Oder für Psychosoma? Einerlei, sind beide angesehene Fachzeitschriften. Aber ich habe eine Bitte: dass Sie mir Ihren Text vorlegen, bevor er in Druck geht. Einverstanden?
Gut, damit wäre der Einstieg geschafft, nicht wahr? Dann schiessen Sie jetzt los.
Telefon klingelt.
List. – Ja? – Nein. (Schonungsvoll:) Nein, Frau Mantel: Keine Anrufe durchstellen, bitte. Ich bin besetzt. – Ich weiss. – Schon gut. – Ja, ja, danke.
Hörer wird aufgelegt.
So. Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja: bei der Symptomatik. Vermutlich wird Sie jetzt das Behandlungskonzept interessieren. Da darf ich mich kurz fassen: Wir empfehlen Psychotherapie und Pharmakotherapie, wenn möglich kombiniert. Wenn das nicht geht: Pharmakotherapie allein. Da setzen wir auf moderne Antidepressiva. Die wirken oft, aber nicht immer. Gelegentlich müssen wir zu Neuroleptika greifen. Oder zu Moodstabilizern. Nur wirken alle diese Medikamente viel zu wenig spezifisch. Jetzt steht Gott sei Dank ein Durchbruch bevor.
Klaps auf die Tischplatte.
Cox, Rich & Nightingale kommt demnächst mit einem Spezifikum auf den Markt. Nächsten Monat findet in Amsterdam ein LIPS-Kongress statt, da wird das neue Medikament vorgestellt. Gehen Sie auch hin?
(Lacht:) Das heisst dann wohl nein, nicht wahr?
Schade. (Beiläufig:) Ich werde nämlich den Eröffnungsvortrag halten. – Was sehe ich: schon bald sieben?
Wieder Klaps auf die Tischplatte.
Tut mir wirklich leid, aber unsere Zeit ist abgelaufen.
Es quietscht.
Was ist? Sind Sie nicht zufrieden?
Nicht ganz? Tz, tz, das tut mir leid.
Pause.
Hmm. Ich muss zugeben, ich war etwas kurz angebunden. Die Zeit drängt leider, ich muss gehen, ich bedaure es ja selber. Vielleicht bin ich wirklich zu wenig auf Ihre Fragen eingegangen. Tja, was machen wir da? Lassen Sie mich überlegen. Hmm. Wissen Sie was: Ich gebe Ihnen einen zweiten Termin. Ausnahmsweise.
Doch, doch. Ich sehe ja, dass das Thema Sie interessiert. Und ich will natürlich nicht, dass Ihr Artikel ein Flop wird.
Seiten werden umgeblättert.
Wie wär’s heute in einer Woche? Ach so, nein, das geht nicht: Das ist Karfreitag. Dann eine Woche später, wieder am Freitag. Das wäre der sechzehnte. Selbe Zeit?
Pause.
Noch etwas: Ähm (hüstelt), Sie brauchen sich nicht bei meiner Sekretärin zu melden. Warten Sie einfach da draussen. Dort, wo Sie heute standen. Ich hole Sie selber ab. In Ordnung?
Dann