Liebeskrank. Kaspar Wolfensberger

Liebeskrank - Kaspar Wolfensberger


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      Da sind Sie ja schon. Hatten Sie frohe Ostern? Waren prächtige Tage, fast sommerlich, nicht wahr?

      Treten Sie ein.

      Tür fällt sanft ins Schloss.

      Schalldicht. Aus Diskretionsgründen, wissen Sie. Und der Spannteppich, genau wie die Vorhänge: schallschluckend. Man hört nicht mal die eigenen Schritte, merken Sie? Sie werden auf Ihrer Aufnahme kein Echo hören, keine störenden Nebengeräusche. Nur die Geräusche, die wir selber machen (lacht). Kristallklare Stimmen. Sie werden entzückt sein, wenn Sie sich das Interview anhören (lacht).

      Kommen Sie. Setzen Sie sich.

      Möchten Sie Kaffee? Frau Mantel wird Ihnen gern einen bringen.

      Nein? Orangensaft?

      Auch nicht? Wasser vielleicht?

      Ja? Ist aber nur Leitungswasser.

      Wasser läuft, Glas wird abgestellt.

      Hier, bitte.

      Darf ich Ihnen eine anbieten?

      Nein? Stört es Sie, wenn ich rauche?

      Feuerzeug klickt. Rauch wird ausgeblasen.

      Entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit von letzter, ich meine vorletzter Woche. Ich …

      Doch, doch, das war unhöflich: Ich habe Sie ja sozusagen vor die Tür gesetzt. Und nicht einmal nach Ihrem Namen gefragt. Oder ich habe ihn vergessen – wenn das keine Unhöflichkeit ist. Tut mir leid, aber ich habe ein miserables Namensgedächtnis. Wie war Ihr Name, bitte?

      Telefon klingelt.

      List.– Ja? – Nein, nicht jetzt, ich bin besetzt. – Was heisst »nicht in Ihrer Agenda«? – Ach so, kann sein. Ja, ja. – Ganz ruhig, Frau Mantel. – Ich weiss. (Schonungsvoll, betont langsam:) Frau Mantel: Bitte keine Anrufe durchstellen, ja? Ich möchte nicht gestört werden. – Eine halbe Stunde vielleicht. Danke.

      Entschuldigen Sie. (Mit gesenkter Stimme:) Etwas empfindlich, muss mit Samthandschuhen angefasst werden. Aber sonst eine Perle.

      Läuft Ihr Gerätchen schon?

      Ja? Man sieht gar nichts. Nun, wo waren wir? Ach ja, bei meiner Unhöflichkeit, wo denn sonst. Ich hatte komplett vergessen, mich vorzustellen, nicht wahr? Wenn das keine Unhöflichkeit war. Verzeihen Sie, bitte. (Lachend:) List ist mein Name. Aber jetzt zu Ihnen.

      Quietschendes Geräusch.

      Das ist nicht Ihrer, das ist meiner. Wenn ich mich drehe oder vor- oder zurücklehne, quietscht er ein bisschen. Italienisches Design, ergonomische Gestaltung, lässt sich drehen und kippen, höher und tiefer stellen – sehen Sie?

      Sessel quietscht.

      Alles, was man will. Aber quietscht wie ein altes Fahrrad. Keine Sorge: Ihrer dreht nicht und kippt nicht. Sie können sich unbesorgt zurücklehnen. Sitzen Sie bequem?

      Gut.

      Sie haben bestimmt noch Fragen, nicht wahr? Das war jedenfalls mein Eindruck. Ja, ja, mein erster Eindruck war, dass Sie sich brennend für die Liebeskrankheit interessieren. Und der täuscht bekanntlich selten. (Halblaut, scherzhaft vertraulich:) Es sei denn, Sie seien meinetwegen gekommen. Nein, Spass beiseite: Ich vermute, Sie hatten sich für das Interview vorbereitet. Sie sind ein guter Zuhörer. Sie …

      Stimmt’s etwa nicht?

      Doch, doch, zuhören können Sie, das ist mir gleich aufgefallen. Interessiert und aufmerksam. Das kommt selten vor. Glauben Sie mir, ich weiss, wovon ich rede: bei drei Interviews die Woche. Die meisten geben vor, etwas erfahren zu wollen, und dann schwatzen sie einem die Ohren voll. Mit naiven Fragen, stereotypen Einwänden und Besserwissereien. Sie hören zu. Man spürt Ihr Interesse.

      Bläst lange Rauch aus.

      Zuhören ist eine Kunst, wissen Sie. Als solche ist sie zwar lernbar, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Zuhören ist nämlich auch eine Begabung. Zuhö…

      Oh, doch. Nur keine falsche Bescheidenheit.

      Für Ärzte und Psychotherapeuten ist Zuhören natürlich das tägliche Brot. Zuhören, zuhören und nochmals zuhören, das ist das A und O unseres Berufs. In der Sprechstunde zuhören, auf Patientenvisite zuhören, immer und überall zuhören. Auch auf Sendung übrigens. Haben Sie Liebeskrank schon mal gesehen?

      Jetzt schütteln Sie bloss nicht wieder den Kopf!

      (Lachend:) Ich bitte Sie: War nur ein Scherz. Es geht hier nicht um meine Sendung. – Was wollten Sie wissen? Verzeihen Sie meine Vergesslichkeit. Eine Alterserscheinung. Dieses Problem haben Sie natürlich nicht. Ich darf Sie ja nicht nach Ihrem Alter fragen, aber nach meiner Schätzung können Sie höchstens fünfund…

      Also, meinetwegen brauchen Sie das Gerät nicht auszuschalten, so persönlich verläuft unser Gespräch denn doch nicht. Oder wollten Sie bloss etwas einstellen? Egal, kommen wir zur Sache: Lesen Sie das Wochenmagazin?

      So? Ich fast nie. Ist mir zu sehr Boulevard. Aber ein paar Ausgaben vom letzten Sommer habe ich mir aufbewahrt. Die Interviews mit Liebenden! Die sollten Sie lesen.

      Jetzt staunen Sie, was?

      Dass ich Ihnen die Lektüre einer Wochenzeitung empfehle, wo es Ihnen um wissenschaftliche Informationen geht. Ich sage Ihnen, weshalb: Weil der Autor, vermutlich ohne es zu wissen, mit diesen Interviews die Liebeskrankheit in allen ihren Formen beschreibt. Auf schlichte, allgemein verständliche Art. Ganz unwissenschaftlich, aber trotzdem. Er befragte eine ganze Menge Menschen, was ihnen Liebe bedeute. Und wissen Sie was? Fast die Hälfte der Befragten zeigte ein leichtes bis mittelschweres LIPS, ein paar wenige ein schweres. Das ging aus den Antworten klar hervor, jedenfalls für den Fachmann. Gut, ein paar Gesunde waren auch darunter. Ein paar Verliebte, ein paar zufriedene Paare. Dann ein paar Schwärmer und Romantiker, aber ganz symptomfrei waren die nicht. Romantische Schwärmerei ist oft ein Vorstadium der Liebeskrankheit. Der Rest: Unglücklich Verliebte, Abgewiesene, Sitzengelassene, Enttäuschte, zu kurz Gekommene und so fort. Die einen zeigten eher die depressive Form, andere eine von Ängsten oder Zwängen begleitete Variante, wieder andere eher ein maniformes, euphorisches oder paranoides Zustandsbild. Ein vollständiger Katalog der Liebeskrankheiten, sage ich Ihnen. Prima Artikel, wirklich. Kennen Sie den Autor?

      Ich bitte Sie, schauen Sie nicht so entgeistert!

      Ich will Sie doch nicht in Verlegenheit bringen. Man kann nicht jeden kennen, das weiss ich doch selber. Ich erinnere mich ja auch nicht. Obwohl ich vielleicht sollte. Warten Sie, es fällt mir bestimmt wieder ein. Wie hiess er schon wieder? Hmm. Ratzkopp? Oder Rotzkapp? So ähnlich jedenfalls. Tut ja nichts zur Sache. Aber die Artikel waren klasse. Warten Sie, ich suche sie raus.

      Doch, kein Problem. Dauert nicht lange.

      Gedämpftes Rumoren.

      (Ächzend:) Nein, tut mir leid, ich finde sie im Augenblick nicht. Wie gesagt: hervorragendes Anschauungsmaterial zum Thema Liebeskrankheit. Gleichzeitig mit jener Interviewserie startete dann meine Sendung. Die bescherte uns im Seeblick einen merklichen Zuwachs an Liebeskranken. Wir mussten viele auf den Schlossberg umleiten. Sie kennen doch den Schlossberg?

      Ach, kommen Sie, gucken Sie mich nicht schon wieder so an! Ich komme mir bald vor wie Ihr Examinator, wenn Sie so dreinschauen. Ich rede von der Klinik am Schlossberg, von unserer Konkurrenz, sozusagen. Dort schickten wir die Liebeskranken hin, die wir nicht selber aufnehmen konnten. Obwohl die ein anderes Spezialgebiet haben. Psychotraumatologie. Die Klinik ist spezialisiert für die Behandlung von seelisch Traumatisierten.

      Ach so, das wissen Sie? Na gut. Aber wir sprachen von der Behandlung der Liebeskrankheit. Sie werden wissen wollen, wie es um die Erfolgsrate steht. Sehr einfach: ein Drittel wird geheilt, ein Drittel gebessert, ein Drittel bleibt unverändert oder wird schlimmer. Mit anderen Worten: fast gleich wie bei andern psychischen Erkrankungen. Die leichten Fälle kommen natürlich


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